Zukunftswerkstatt Kirche für «andere Menschen»

Barbara Hallensleben sieht die Erneuerung der Kirche und ihrer Dienste in einem Übergang von der Religionsgemeinschaft zur Sendungsgemeinschaft und plädiert für neue Formen theologischer Ausbildung.

Wenn der Geist Christi nicht so stark wäre, dass er von Zeit zu Zeit seine Kirche abwerfen könnte und in göttlicher Nacktheit sich nur in den Herzen Herberge suchte ...

So leuchtet es dem Diakon Sabbas in Edzard Schapers Doppelroman Die sterbende Kirche (1935) und Der letzte Advent (1949) auf. Er hat in der Christenverfolgung der stalinistischen Sowjetunion durch Unachtsamkeit den Zusammenbruch eines Kirchengebäudes mit elf Toten, darunter der Priester, verschuldet – ein Symbol für die im tieferen Sinne «sterbende Kirche»: durch Verfolgung und Abkehr, durch Angst, ideologische Verblendung, Unwissen und Nachlässigkeit. Die aufreibende Überforderung, die Stagnation und Perspektivlosigkeit, die heute über vielen pastoralen Initiativen liegen, sind manchmal kaum leichter zu ertragen, da bei grossem Einsatz und allseits gutem Willen das Rätsel der Erfolglosigkeit umso grösser ist.

Zugänge, die in diesem diffusen Unbehagen nach «Berufsbildern» der Kirche fragen, gehen aus von der Kirche in ihrer religionsförmigen Gestalt, vom soziologisch beschreibbaren «Katholizismus», als sei es selbstverständlich, eine Berufung auch zum Beruf (im modernen Sinne einer arbeitsteiligen Ökonomie) mit festem Ausbildungsweg, monatlichem Gehalt, geregelter Arbeitszeit und Pensionsanspruch zu machen. Das mag wünschenswert sein – aber es ist weder eine Verheissung des Evangeliums noch diejenige Form, die in der Geschichte des kirchlichen Lebens – selbst heute auf unserem Erdball – auch nur entfernt die Norm darstellen würde. Berufsbilder sind nicht unwichtig. Alle, die darin tätig sind, verdienen Respekt und bedingungslose Unterstützung. Aber die Frage liegt offenbar tiefer.

Von der Religions-zur Sendungsgemeinschaft

Hans-Joachim Sander hat in seiner kleinen Ekklesiologie unter dem Titel «nicht ausweichen»1 die tiefere Wahrnehmung ins Wort gebracht: «Zu dem geworden, wie sie heute erscheint, ist die Kirche durch eine lange und fruchtbare Machtgeschichte. (...) was ihr bevorsteht, ist das tiefe Tal einer Ohnmachtsgeschichte. Und man vermeidet es innerhalb von ihr nach Kräften, sich daran zu gewöhnen, und startet aufgewühlt Aktivitäten, die gegen diese Ohnmacht sprechen. Die Erinnerung an die vormalige Macht und die Furcht vor der sich abzeichnenden Ohnmacht verklumpen sich in einer prekären Lage, die von der Kirche selbst als leidvoll erfahren wird.»2 Sander proklamiert nicht etwa Resignation. Entschieden will er «für die bedrängende Situation von Kirche eintreten und für ihre Annahme gerade durch die Kirche argumentieren»3. Er plädiert für den Übergang von der Religionsgemeinschaft Kirche zur Sendungsgemeinschaft4. «Anders als die Religionsgemeinschaft Kirche ist die Sendungsgemeinschaft Kirche nicht mit dem zu greifen, was Kirche vor den anderen darstellt und was ihr gut tut, sondern erschliesst sich über das, was die anderen für die Kirche darstellen und was ihr not tut.»5

Die Macht der Ohnmächtigen

Die «Ohnmacht» der Kirche hat nicht das Geringste mit Handlungsunfähigkeit zu tun. Ohnmächtig ist die Kirche in ihrem Versuch, ihre religionsförmige Gestalt zu reproduzieren und anderen plausibel zu machen. Nie ist sie unfähig, in der grossen Weite des Evangeliums ihr Leben zu gestalten: Gebet ohne Unterlass (1 Thess 5,17) in Lob Gottes, Dank «jederzeit für alles» (Eph 5,20) und Fürbitte – Hören auf das Wort Gottes in der Heiligen Schrift – Gestaltung des Lebens in Glaube, Hoffnung und Liebe – Option für die Armen als bewusster Kontrapunkt gegen die Versuchung zur Macht – wache Aufmerksamkeit für die Zeichen der Zeit – verbindliche Gemeinschaft im Glauben, die den Alltag begleitet und hilft, die Geister zu unterscheiden.

Die Bergpredigt ist die Magna Charta der Kirche als Sendungsgemeinschaft, deren «Sendung» in der erwartungsvollen Offenheit für die Neuheit Gottes in der Neuheit der Begegnung mit Anderen und Anderem besteht. Wenn diese alltägliche Offenheit zur Spurensuche für die Gegenwart Gottes wird, entsteht auch leichter eine Resonanz mit dem öffentlichen liturgisch-sakramentalen Ausdruck des Glaubens. Diese Haltung ermöglicht ein neues Miteinander der verschiedenen kirchlichen Dienste wie auch zwischen Hierarchie und Laien.

Ein Lob der evangelischen Räte

Wo der Glaube das Leben und die Gemeinschaft gestaltet, tritt – meist unerwartet und überraschend – ein Zeugnis hervor, das gleichsam das Christsein selbst zur bestimmenden Lebensform macht: das Leben nach den evangelischen Räten Armut, Gehorsam und Ehelosigkeit. Der Zölibat impliziert  die innere Einheit dieses Lebens. Die evangelischen Räte sind positiv bestimmt als Zeichen für das restlose Vertrauen auf die Verheissung: «Sucht zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und alles andere wird euch dazugegeben werden» (Mt 6,33). Das wenig rezipierte 6. Kapitel der Kirchenkonstitution Lumen Gentium nennt die evangelischen Räte «eine göttliche Gabe, die die Kirche von ihrem Herrn empfangen hat und durch seine Gnade immer bewahrt»6, ein Zeichen, «das alle Glieder der Kirche» in ihrer Berufung «anziehen kann und muss»7, einen «Ansporn für die Liebe und einen besonderen Quell geistlicher Fruchtbarkeit in der Welt»8. Heute werden die evangelischen Räte neu plausibel als Gegenentwurf zu Macht und Selbstbehauptung (Gehorsam), Besitzgier (Armut) und Fortzeugung in der endlichen Natur (Ehelosigkeit), als Zeichen für die Erfüllung der menschlichen Sehnsucht in Gott: «solo Dios basta» (Teresa von Avila).

Indem die Kirche in Gestalt des Zölibats die frei bejahten Räte zum Kriterium für die notwendige sakramentale Struktur erhebt, erklärt sie kühn ihr Vertrauen, dass Gott der Kirche immer genug Menschen schenken wird, die ihr ganzes Leben zu einem eschatologischen Zeichen machen. So steht allen Christen die alles Irdische überschreitende Verheissung des Glaubens vor Augen. Gerade heute stellt der Zölibat – mit all seinen Herausforderungen und Versuchungen – einen Schutz gegen die Beamtenmentalität in den sogenannten «Kirchenleitungen» dar.

Prophetenschulen

Mein kirchlicher Dienst ist die theologische Ausbildung von Männern und Frauen, die für einen erheblichen Teil ihrer Lebenszeit das Nachdenken über den Glauben zu ihrem Lebensinhalt machen. Unter ihnen sind Studierende nicht nur aus katholischer, sondern auch aus reformierter, evangelikaler und orthodoxer Tradition, immer wieder auch suchende Skeptiker. In diesem Raum gemeinsamen Nachdenkens erfahre ich seit vielen Jahren, wie dringlich eine Reform der Ausbildung wäre. Die Kirche, die ihre Ohnmacht annimmt, ist keineswegs eine Kirche, die sich mit schrumpfenden Zahlen abfindet. Sie kann in der Besinnung auf ihre immer zugänglichen Lebensquellen einen ganz neuen Elan als Zeugnis-und Sendungsgemeinschaft entfalten. Um junge Männer und Frauen für das Christsein als Lebensform im Dienst der Glaubensgemeinschaft anzuziehen, braucht es anziehende Orte und Gemeinschaften, die eine Lebensform anbieten, einüben und je neu entdecken lassen. Bevor Saul zum König Israels gewählt wird, schickt Samuel ihn zu einer Gruppe von Propheten: «Dann wird der Geist des Herrn über dich kommen, und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden» (1 Sam 10,9). Wohin können wir suchende, zögerliche junge Menschen heute schicken?

Das Alte auf neue Weise tun

Es fehlt nicht an Modellen, die anknüpfend an traditionelle Ausbildungsformen Neues wagen. Exemplarisch nenne ich die anglikanische Hochschule St. Mellitus in London. Sie beruht auf einem Einklang zwischen bischöflichem Segen, betender Gemeinschaft (Holy Trinity Brompton) und ausgezeichneter akademischer Theologie (Graham Tomlin und andere). Hier geschieht inmitten der Kirche das Altbewährte auf neue Weise – mit so viel Fruchtbarkeit, dass sich hier in weniger als zehn Jahren mehr Studierende auf die Weihe vorbereiten als in allen übrigen Seminaren Englands zusammen, und das wachsende Gemeindeleben statistisch sichtbar wird. Mit Einverständnis der Bischöfe reicht ein theologisches Bachelor-Diplom für den Eintritt in den kirchlichen Dienst. Die Studierenden teilen ihre Zeit zwischen Studium und Gemeindeerfahrung. Ihre Solidarität untereinander und die Erfahrung ihrer Gebetsgemeinschaft auch im Studium gibt ihnen das Vertrauen, im Wagnis des Evangeliums nicht allein zu sein.

Zukunftswerkstatt Kirche

Statt darüber zu klagen, dass Studierendenzahlen und Priester fehlen, könnten wir mit dem Segen der Bischöfe mit und neben den bestehenden Studienmodellen eine «Zukunftswerkstatt Kirche» errichten. Dieser Ausbildungsweg kann offen sein für Männer und Frauen und weitgehend im ökumenischen Horizont durchgeführt werden – mit Formen der Rückbindung an die jeweils entsendende Gemeinschaft. Neben den theologischen Fächern wird eine Einführung in das Verstehen der heutigen Welt in ihrer sozialen, politischen und ökonomischen Dimension gegeben. Praktika erfolgen nicht allein in Gemeinden, sondern auch an gesellschaftlichen Brennpunkten. So wird Theologie im klassischen Sinne als Wissenschaft von Gott und von allem, insofern es zu Gott in Beziehung steht, neu entdeckt. Hier sind auch die Lehrenden zugleich Lernende, die im Dienst der Charismen ihrer Studierenden stehen, so dass am Ende alle Beteiligten als «andere Menschen» aus der Erfahrung hervorgehen. Uns allen bleibt erspart, mit dem üblichen «man soll» oder «man muss» die Früchte des Geistes als «Berufsbilder» vorauszuplanen – während wir zugleich dem Wirken des Geistes mit entschiedenem Einsatz die Wege bereiten.

 

1 Hans-Joachim Sander: nicht ausweichen. Die prekäre Lage der Kirche, Würzburg 2002.

2 Ebd. S. 12.

3 Ebd.

4 … wie ich statt des von Sander gewählten Wortes «Pastoralgemeinschaft» lieber sage.

5 Sander, ebd. 14.

6 Lumen Gentium (LG) Nr. 43.

7 LG Nr. 44.

8 LG Nr. 42.


Barbara Hallensleben

Prof. Dr. Barbara Hallensleben (Jg. 1957) ist Professorin der Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg und Direktorin des Zentrums für das Studium der Ostkirchen.