«Wenn du Frieden willst, bereite den Frieden». Friedensethik (II)

Die Menschenrechte stellen einen Versuch dar, den weltanschaulichen und moralischen Pluralismus zu bewältigen, indem sie die Menschen befähigen wollen, die «mündige Verantwortung» (H. Bielefeldt) wahrzunehmen und die erkannten moralischen Verbindlichkeiten in Rechtspositionen durchzusetzen.

Um sich nicht in den Fallstricken der Vorwürfe des westlichen Expansionismus und Imperialismus zu verfangen, tut man gut daran, das Menschenrechts-Set in Konfliktsituationen nicht als ein übergeordnetes Normsystem zu formulieren. Sie sind in erster Linie ein Angebot, das Konfliktparteien, Kontrahenten und Verhandlungspartner zu Reflexion und Wahrnehmung von Verantwortung anhält. Wenn man die Menschenrechte so auf den Pluralismus und die Mündigkeit des Menschen bezieht, ist es klar, dass sie für unterschiedliche Interpretationen offen sind. Selbstverständlich sind Deutungen ebenso wenig auszuschliessen, die sich aus religiösen Traditionen speisen. Es gibt weder einen philosophisch-vernünftigen noch historischen Grund, eine Auslegungshoheit allein europäisch-westlichen Traditionen vorzubehalten. Wenn man jedoch die Geschichte der Menschenrechte als unabgeschlossene Lerngeschichte versteht, kann dies gerade auch als Modell für fremde Kulturen verstanden werden.

Druck von Gewalt und Ungerechtigkeit

Der Druck von Gewalt und Ungerechtigkeit in den verschiedenen Weltgegenden weist Strukturparallelen auf, die – wenn sie gründlich reflektiert werden – eo ipso eine Affinität zur europäischen Lerngeschichte aufweisen. Das ist eine geschichtlich notwendige Öffnung für Interpretations- und Rechtfertigungsformen, von der aber niemand sagen kann, wohin sie führt. Wir haben inzwischen einsehen müssen, dass die Gefahr der Verschleierung und Aushöhlung des Menschenrechtsethos nicht so sehr von dieser Seite erfolgt, sondern von politischen Akteuren, die unmittelbar auf den Schultern der Menschenrechtstradition stehen, sogar zu jenen Staaten gehören, die Ende des Zweiten Weltkriegs massgeblich an der Kodifikation beteiligt waren und sich in fahrlässiger Rhetorik teilweise davon absetzen. Diese Beschädigung der Glaubwürdigkeit des Menschenrechtsethos hat auf internationaler Ebene Folgen, die wir im Augenblick nur erahnen können.

Ein dynamischer Friedensbegriff

Dies führt uns notgedrungen zum Friedensbegriff zurück. Dieter Senghaas1 macht verschiedentlich darauf aufmerksam, dass der Friede, ob im politischen Nahbereich oder auf globaler Ebene, in Vergangenheit oder Gegenwart, stets das Ergebnis konfliktreicher und anstrengender politischer Prozesse war. Frieden lässt sich nicht nach einem idealen Plan umsetzen, denn selbst die ordnungspolitischen Vorstellungen werden im konkreten Einzelfall meist kontrovers verhandelt und können erst nach langem Austarieren der Interessen beteiligter Parteien zu einem Konsens führen. Solche Prozesse sind häufig mit Rückschlägen verbunden und dauern meist über Generationen. Die teils chaotisch verlaufenden Prozesse sind heute weltweit feststellbar. Und die interdependente Welt erscheint vermehrt als ein «Experimentierfeld» gelingender, aber auch gründlich misslingender Friedensgestaltung (z. B. Syrien, Sudan). Dies kontrastiert eigenartig zum eher statischen Friedensbegriff der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» und der UNO-Charta.

Der dort immanente Friedensbegriff reflektiert das Nachkriegseuropa, das neu konstituiert werden musste und dessen Negativerfahrungen erst im Völkerbund und dann in der UNO ihren internationalen Niederschlag fanden. Leitfiguren und Leitnormen des «Weltfriedens», der aufgrund der jüngeren, desaströsen Geschichte fast pathetisch beschworen wird, sind der Imperativ zur Kooperation und Verständigung, aber auch der Wille zur Anerkennung legitimer Rechte, welche in erster Linie die zwischenstaatliche Interaktion regeln. Das Intergouvernementale steht im Vordergrund.

Typologisch gesehen liegt hier ein Friedensbegriff zugrunde, der auf einen «Beschluss- und Statusfrieden» (D. Bogner) abzielt, der den Völkerfrieden vornehmlich mittels aussenpolitischer Kriegs- und Gewaltvermeidung garantieren soll. Die Problemlage hat in der jüngsten Vergangenheit jedoch auch andere Dimensionen ins Licht gerückt, die zusätzlich zu diesem legitimen Fokus eine unübersehbare Dringlichkeit erhalten haben. Oft sind es lokale innenpolitische Spannungen, Rivalitäten zwischen Ethnien, rivalisierende Machtansprüche, divergierende wirtschaftliche Interessen, Korruption und Clanpolitik, die nicht bloss zu Gewaltausbrüchen führen können, sondern auch die Tendenz zur Internationalisierung haben, und sei es «nur» im Lostreten neuer Flüchtlings- und Migrationsströme.

Diese Verschiebung der Problemlage, die zwar immer schon gegeben war, sich nun sichtbarer und  dringlicher vordrängt, erfordert ein Weiterdenken und eine Entwicklung von Wegen, wie international solche Konflikte bearbeitet und beigelegt werden können, ohne dass man sich dem Vorwurf des hegemonialen Interventionismus aussetzen muss. Dieter Senghaas hat in diesem Zusammenhang auf vier friedenspolitisch motivierte Strategien der Problembewältigung aufmerksam gemacht, die als Leitfaden solcher Konflikte fungieren könnten. Es handelt sich um fundamentale Schutzdimensionen, die den Frieden zwar noch nicht als solchen ausmachen, aber fundamentale Bedingungen hierfür darstellen: der Schutz vor Gewalt, der Schutz der Freiheit, der Schutz vor Not, der Schutz der kulturellen Vielfalt. Insofern sie (weitgehend) im Sinne basaler Abwehr- und Schutzrechte Menschenrechtsforderungen abdeckt, hat diese Erweiterung des Friedenskatalogs durchaus eine universalistische Plausibilität, die sich auf gesellschaftliche Formen jeglicher Entwicklungsstufe anwenden lässt. Solche und ähnliche Konzepte sind auszuarbeiten. Da sie zu einem guten Teil auf Empirie und Erfahrung beruhen, ist deren Präzisierung nur im internationalen Austausch möglich.

Die UNO und ihr Instrument

Die UNO hat sich in den letzten Jahren ein Instrument geschaffen, das der Dynamik solcher Konflikte wie auch den jeweiligen Verantwortlichkeiten zu entsprechen scheint, indem sie die Konfliktparteien auf neutralem Boden zusammenbringt und als eine Art Mediatorin mittels eines erfahrenen Diplomaten fungiert, und gleichzeitig als Garantin des Völker- und Menschenrechts präsent ist (vgl. jüngst die Syrienkonferenz, die Sudan- und die Zypernkonferenz). Die Konferenzen entwickeln ihre eigene Dynamik und setzen Innovationen frei, die so vorher kaum auf der Agenda standen.

Mit guten Gründen wird bei den Unterhandlungen gefordert, dass Übereinkünfte – wie unvollständig sie auch sein mögen – in das Medium des Rechts übersetzt werden. Denn dadurch werden Übereinkünfte nicht bloss mit einer Legitimität versehen, sondern im Einzelnen auch nachprüfbar. Bei deren Nichteinhaltung oder Verletzung sind sie leichter dem Schiedsspruch von nationalen und internationalen Gerichten zu unterziehen. Es gehört zur Erfahrung der Menschenrechtspraxis, dass die Rhetorik der Menschenrechte, die sich im Einzelnen auf unterschiedliche Rechtfertigungsfiguren abstützen mag, ins Leere verpufft, wenn der moralische Universalismus nicht übersetzt wird in den «Egalitarismus» des Rechts, der ihm und seinen Verfahren eigen ist. Die Idee der Gleichbehandlung, die dem Recht der Völker wie der einzelnen Staaten innewohnt, eröffnet einen anderen Blick auf die geschuldete Gegenseitigkeit, als es die moralischen Kulturtraditionen tun. Die Erfahrung mit der Form des modernen Rechts auf nationaler und internationaler Ebene zeigt, dass ihm «in the long run» ein sanft zivilisierender Effekt eigen ist, wenn immer es als politische Gestaltungskraft zur Anwendung kommt.

Der menschenrechtliche Universalismus und der rechtliche Egalitarismus sind daher in friedenspolitischen Programmen verschränkt zu bearbeiten. Die friedensethische und -politische Diskussion hat im Blick auf internationale und lokale Konflikte Instrumente zu entwickeln, die beidem Rechnung tragen. Dies eröffnet naturgemäss nochmals ein grosses Forschungsfeld, wenn über den europäischen Kontext hinaus andere Rechtstraditionen (z. B. des Islam in seinen verschiedenen Traditionen) als Anknüpfungsflächen gesucht werden.

Das «Aufklärungs-Erbe» neu interpretieren und ergänzen

Der globale Austausch über Friedenskonzepte macht deutlich, dass das Friedenskonzept der UNO, des Völkerrechts und insbesondere dasjenige der Politik westlicher Staaten vom Leitbild des «liberalen Friedens» (O. Richmond) geprägt ist. Dies umfasst generell Rechtsstaatlichkeit, die Etablierung der Demokratie und freier Märkte, die Stärkung der Institutionen usw. Die Friedenskonsolidierung erfolgt in der Regel über säkulare Instrumente, die aus säkularen Aufklärungstraditionen erwachsen sind. Dazu gehört, dass schuldige Akteure vor Gerichte gezogen, Strafprozessen unterworfen und entsprechend einem Schuldspruch zugeführt werden.

Asiatische und afrikanische Verhandlungspartner wie auch Friedensaktivisten aus diesen Kulturkreisen erheben gegenüber dieser Aufklärungstradition den Vorwurf, dass Religionen mit ihren Ritualen, ihren Friedens- und Heilsvorstellungen und ihren Versöhnungsstrategien kaum eine konstitutive Rolle spielen, sondern eher ausgeschlossen und in den Raum des «Vorsäkularen» abgedrängt werden. Die strikte Trennung von Politik und Religion wird in dieser Perspektive eher als eine Partikularität, d.h. als eine westliche Eigenheit wahrgenommen, die weder ihrer Realität noch ihren Denktraditionen entsprächen. Auf diesem Hintergrund ist erklärbar, warum es seit Jahren eine Diskussion darüber gibt – angestossen vor allem durch die Philippinen –, dass die UNO-Vollversammlung durch eine Vollversammlung der Religionen zumindest mit beratendem Status ergänzt werden sollte. Darin spiegelt sich die Überzeugung, dass der Weltfriede wie auch der regionale Friede nicht ohne den Einbezug von Religionen und Weltanschauungen zu bewerkstelligen ist.

Bemerkenswert ist, dass die Aufforderung, die Religionen in den Aufbau des Friedens aktiv miteinzubeziehen, nun nicht auf religiöse Führer oder deren Vertreter, sondern auf politische Akteure und Repräsentanten von Staaten zurückgeht. Selbstverständlich sind mit dieser Umsetzung eine Menge von Problemen gegeben. Doch immerhin ist die Tatsache von Bedeutung, dass das Konzept des «liberalen Friedens» aus politischen Interessen ergänzt werden soll, in der Überzeugung, dass alle Religionstraditionen nicht bloss individuelle, sondern auch strukturelle Elemente der Friedensherstellung und der Friedenssicherung aufweisen (z. B. Heilung, Versöhnung, Emotionsbearbeitung, affektive Einbindung). Diese Potentiale sind nutzbar zu machen!

Religion als konstruktiver Faktor

In einer historischen Reminiszenz kann daran erinnert werden, dass für den ersten Friedenswissenschaftler Johan Galtung, der 1976 in Oslo auf den dafür neu geschaffenen Lehrstuhl berufen wurde, «Religion» in Lehre und Forschung kein Thema war, und wenn sie vorkam, dann unter dem Titel «Kriegsgeschichte». Auch heute noch wird in der internationalen Peace Research Community «Religion» nur zögerlich als konstruktiver Faktor für Friedensstrategien eingesetzt. Dabei wäre nur daran zu erinnern, wie Ghandis gewaltlose Satyagraha- Lehre in seiner Friedensbewegung als entscheidende Motivationsquelle eine herausragende Rolle spielte. Zögerlich beginnt man heute zu erkennen, dass religiöse Traditionen in Prozessen der Konflikt-Transformationen in gewaltdurchsetzten und konfliktuösen Gesellschaften eine konstruktive Rolle spielen können. In einem tentativen Sinne werden Mediationsstrategien (z.B. in Sierra Leone, Tadschikistan, Marokko) eingesetzt, die religionssensibel reagieren und versuchen, anhand eines Religion-Mappings zwischen Gruppen zu interagieren.

Solche sinnstiftenden Erzählungen ersetzen zwar nicht gesellschaftliche Normen und noch weniger das Set an Menschen- und Völkerrechten, sie weisen aber auf einen spirituellen und mythischen Horizont hin, der über Motivation und Praxis ganz andere Schichten der Individuen und Gesellschaften erfasst und insofern auch gesellschaftsverändernd wirken kann. In dieser Hinsicht gewinnt der Faktor «Religion» an geopolitischer Bedeutung, wobei das eine nicht den säkularen Wissenschaften und das andere Theologen und Religionswissenschaftlern überlassen werden darf. Vermutlich wird es künftig unterschiedliche integrative, translaterale Grammatiken in Peace Research und Peace Making geben, die auf die regionalen und kontinentalen religiösen Traditionen mit ihren je eigenen Ansprüchen mehr Rücksicht nehmen.2 Wir sehen uns in der Religion mit einem äusserst komplexen Phänomen konfrontiert, das sich selbst religionswissenschaftlich nicht eindeutig erfassen lässt und das einem ständigen Wandel unterworfen ist und sich immer wieder neu um starke Traditionen und «heilige» Texte formatiert.

Wie soll ein solch komplexes, manchmal auch widersprüchliches Konglomerat von Offenbarungstexten, Weltdeutungen, Normen, Überzeugungen Berücksichtigung finden? Der kulturell-linguistische Zugang, der in den Religionswissenschaften entwickelt wurde, hat sich als hilfreiches Ordnungs-und Klärungsinstrument erwiesen. Dieses erlaubt, zwischen einer religiösen Grammatik und einer religiösen Praxis zu unterscheiden, indem in den Religionstraditionen korrespondierende Anknüpfungspunkte zu politischen Realsituationen herausgearbeitet werden. In dieser Hinsicht hat sich diese Strategie als äusserst nützlich erwiesen, wenn in den verschiedenen Religionen Versöhnungsstrategien – ein essentieller religiöser Faktor – freigelegt werden. Denn gerade sie gehen in ihrer spirituellen Tiefe über die Konzepte «wiederherstellender Gerechtigkeit» hinaus.

So arbeitet Mohammed Abu-Nimer, ein bekannter Mediator zwischen Palästinensern und Israelis, Rituale und Konzepte aus dem Koran, der Hadith und späteren islamischen Traditionen heraus, die der Annäherung, der Versöhnung und der Konsolidierung der Beziehungen dienen können. Ähnliche Beispiele gibt es auch im Christentum (z. B. Sant’ Egidio in Rom). Diese gelingende Praxis leitet dazu an, die Ansätze nicht nur in die Agenden politischer Strategien konsequent einzubauen, sondern sie auch in generalisierter Form in die Friedensforschung konsequent einzubeziehen. Es ist der aussereuropäische Stimulus ernst zu nehmen, dass Religion ein wichtiges Gobetween zwischen Kleingruppen, Gesellschaften und Nationen darstellt.

 

 

1 Vgl. Dieter Senghaas: Zum irdischen Frieden. Erkenntnisse und Vermutungen, Frankfurt a. M. 2004.

2 Der Hinweis ist mittlerweile zu einer Trivialität geworden, dass Religionen ebenfalls Gewaltsemantiken aufweisen und dementsprechend zerstörerische Gewalt freisetzen können, aber auf der anderen Seite auch Friedens- und Versöhnungsvisionen, die gemeindliche wie gesellschaftliche Kräfte zum konstruktiven Zusammenleben freisetzen können. Diese Ambivalenz wird vor allem dort offensichtlich, wo Gruppen-Identitäten bedroht sind, denn dort können Kräfte der Abgrenzung, der Gewalt und Zerstörung freigesetzt werden, wie auch Kräfte für «Resilienz-Strategien» (R. Friedli).