Zu demokratisch?

Brücken

Angesichts der bevorstehenden Neubesetzung des Bischöflichen Stuhles in Chur ist sowohl die Rede vom «Sonderfall Schweiz», welcher vom Kirchenrecht (CIC) abweiche, wie auch die These, die hiesige Kirche sei «zu demokratisch», nicht zielführend. Dies meint Robert Trottmann und stellt sich Fragen nach der Kirche zur Zeit der Apostel.1

Blicken wir auf die Zeit der Apostel, organisierte sich die Kirche ausgehend von den Impulsen, welche ihr Jesus auf den Weg gegeben hatte. Dabei rückt der Apostel Petrus in den Vordergrund des Interesses – mit dem, was er gesagt oder auch nicht gesagt, und mit dem, wie er gehandelt oder auch nicht gehandelt hat. Dazu skizziere ich die folgenden biblischen Zugänge.

Simon Petrus

Eine zentrale Aussage findet sich im Lukasevangelium. Im Bericht über die Ankündigung der Verleugnung (Lk 22,31–34) sagt Jesus zu Petrus: «Ich (…) habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du wieder umgekehrt bist, dann stärke deine Brüder!» (V 32). Wie ihm Simon jedoch selbstsicher Treue «bis in den Tod» verspricht, erwidert Jesus: «Ich sage dir, Petrus, ehe heute der Hahn kräht, wirst du dreimal leugnen, mich zu kennen» (V 33 f.). Was dann auch geschah, so dass Petrus «bitterlich» darüber weinte (V 61).

Matthias – von allen gewählt

In der Apostelgeschichte wird ein bemerkenswertes Ereignis zwischen Himmelfahrt und Pfingsten erzählt: Die Wahl des Matthias zum Apostel (Apg 1,15–26). Im Kreis von etwa 120 Versammelten sagt Petrus über Judas: «Es musste sich das Schriftwort erfüllen, das der Heilige Geist durch den Mund Davids im Voraus über Judas gesprochen hat». Verrat, Unfall (?) und Tod – angekündigt im Buch der Psalmen: «Sein Gehöft soll veröden …!», und: «sein Amt soll ein anderer erhalten» (V 20). Daraus folgert Petrus: «Es ist also nötig, dass einer von den Männern, die mit uns die ganze Zeit zusammen waren, als Jesus, der Herr, bei uns» war, «angefangen von der Taufe durch Johannes bis er … in den Himmel aufgenommen wurde» – «einer von diesen muss nun zusammen mit uns Zeuge seiner Auferstehung sein». «Sie stellten zwei Männer auf...», beteten gemeinsam und schritten zur Wahl durch Los, das auf Matthias fiel: «… er wurde den elf Aposteln zugezählt» (V 26). Alle hatten ein Mitbestimmungsrecht. Die Entscheidung hing nicht allein an Petrus.

Apostelamt und Prophetie

Mit dem Pfingstereignis (Apg 2), an dem «alle zusammen waren» (V 1) und in «in anderen Sprachen» geredet wurde, hält Petrus, umgeben von den Elf2 seine Predigt (V 14–36): «Jetzt geschieht, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: In den letzten Tagen wird es geschehen, so spricht Gott: Ich werde von meinem Geist ausgiessen über alles Fleisch. Eure Söhne und eure Töchter werden prophetisch reden, eure jungen Männer werden Visionen haben, und eure Alten werden Träume haben. Auch über meine Knechte und Mägde werde ich von meinem Geist ausgiessen … sie werden prophetisch reden» (V 16– 18; vgl. Joel 3,1–5). Alle Geistbegabten sollen wie die Apostel Zeugen und Zeuginnen der Auferstehung Jesu «zum Herrn und Christus» sein! Damit stehen Apostelamt und Prophetie in bipolarem Verhältnis.

Wachstumskrise

In der Wachstumskrise der Kirche in Jerusalem stehen einander «Hellenisten» (Heidenchristen) und «Hebräer» (Judenchristen) gegenüber. Als es zur Wahl der Sieben (Apg 6,1–7) kommt, rufen die Zwölf «die ganze Schar der Jünger zusammen …: Brüder, wählt aus eurer Mitte sieben Männer von gutem Ruf und voll Geist und Weisheit» zum Dienst an den Tischen. Die ganze Gemeinde stimmt dem Vorschlag zu und wählt die sieben (alle mit griechischen Namen!). «Sie liessen sie vor die Apostel hintreten, und diese legten ihnen unter Gebet die Hände auf.» Im offenen Verfahren und unter Mitbestimmung aller zeigen sich Amt und Gemeinde in einem weiteren bipolaren Verhältnis.

Ein neues Kapitel

Nach der Steinigung des Stephanus kam es zur Verfolgung und Zerstreuung der Urgemeinde (Apg 8,1–4). Es begann das neue Kapitel der Kirche in Judäa und Samarien (Apg 8,5–12,24). Die bedeutende Begegnung von Petrus mit Kornelius rückt in den Fokus. Die Vision des Hauptmanns Kornelius in Cäsarea (Apg10,1–8) zeigt diesen als frommen und wohltätigen Mann. Er entsendet Boten zu Simon, «der den Beinamen Petrus hat». Seinerseits hat Petrus eine Vision in Joppe (Apg 10,9–23). Er betet auf dem Dach, gerät in Verzückung, sieht den offenen Himmel, ein Gefäss mit allen möglichen Tieren und hört eine Stimme ihm zurufen: «Steh auf Petrus, schlachte und iss!» Darauf Petrus: «Niemals, Herr! Noch nie habe ich etwas Unheiliges und Unreines gegessen. Da erging die Stimme ein zweites Mal an ihn: Was Gott für rein erklärt hat, nenne du nicht unrein! Das geschah dreimal» (V 16). Petrus ist ratlos, und es kommt zur Begegnung mit Kornelius.

Taufe des Hauptmanns Kornelius

Die Begegnung von Petrus mit Kornelius, seinen Freunden und Verwandten (Apg 10,23–48) ist markant: Petrus meint: «Ihr wisst, dass es einem Juden nicht erlaubt ist, mit einem Nichtjuden zu verkehren oder sein Haus zu betreten; mir aber hat Gott gezeigt, dass man keinen Menschen unheilig oder unrein nennen darf» (V 28 f.). Er bekennt: «Wahrhaftig, jetzt begreife ich, dass Gott nicht auf die Person sieht, sondern dass ihm in jedem Volk willkommen ist, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist» (V 34 f.). Noch während Petrus redete, «kam der Heilige Geist auf alle herab, die das Wort hörten». Die gläubig gewordenen Juden waren fassunglos darüber, «dass auch auf die Heiden die Gabe des Heiligen Geistes ausgegossen wurde. Denn sie hörten sie in Zungen reden und Gott preisen.» Petrus fragt zurück, ob jemand denen das Wasser zur Taufe verweigern könne, die ebenso «wie wir» den Heiligen Geist empfangen haben, und ordnet an, sie im Namen Jesu Christi zu taufen (V 44–48). Offensichtlich ist Simon erneut dem Auftrag Jesu nachgekommen: «… wenn du wieder umgekehrt bist, dann stärke deine Brüder!»

Ungemach erwartete Petrus allerdings bei der Rückkehr nach Jerusalem. Dort «hielten ihm die gläubig gewordenen Juden vor: Du bist bei Unbeschnittenen eingekehrt und hast mit ihnen gegessen» (Apg 11, 2 f.). Er aber rechtfertigt sich vor der Gemeinde in Jerusalem (Apg 11,1–18). Nachdem er den aufgebrachten Judenchristen schildert, was er alles erlebt hatte, «beruhigten sie sich und sagten: Gott hat also auch den Heiden die Umkehr zum Leben geschenkt» (V 18 f.).

Darauf löst die Entstehung einer christlichen Gemeinde in Antiochia (Apg 11.19–26) in Jerusalem Irritationen aus. Sie entsenden Barnabas nach Antiochia, der dort mit Paulus zusammenarbeitet. Als er «die Gnade Gottes sah, freute er sich», denn, er war, wie Lukas festhält «ein trefflicher Mann, erfüllt vom Heiligen Geist und von Glauben» (V 26). Paulus und Barnabas wirken in Antiochia «ein volles Jahr» miteinander.

Auf zur ersten Missionsreise

Die Geschichte geht weiter hinaus unter die Völker (Apg 12,25–28,31). Lukas erzählt nur knapp von einem erneut hoch bedeutsamen Ereignis, der Aussendung des Barnabas und des Paulus (12,25–13,3): «In der Gemeinde von Antiochia gab es Propheten und Lehrer … Als sie zu Ehren des Herrn Gottesdienst feierten und fasteten, sprach der Heilige Geist: Wählt mir Barnabas und Saulus zu dem Werk aus, zu dem ich sie berufen habe! Da fasteten und beteten sie, legten ihnen die Hände auf und liessen sie ziehen» (13,1–3). Zu welchem Werk der Heilige Geist sie berufen hatte, blieb vorerst offen.

Damit nimmt die erste Missionsreise (Apg 13,4–13) ihren Anfang, zwar erfolgreich, aber auch konfliktgeladen – wie die Empörung von Judenchristen wegen der Frage der Beschneidung zeigt. Weil die Reaktion so gross und heftig ist, erklären Paulus und Barnabas: «Euch musste das Wort Gottes zuerst verkündet werden. Da ihr es aber zurückstosst, … wenden wir uns jetzt an die Heiden» (V 46). Jetzt war Paulus und Barnabas klar geworden, zu welchem «Werk» (s. o. 13,2) sie der Heilige Geist berufen hatte: Zur Heidenmission!

Streitfrage in Jerusalem lösen

Wie Paulus und Barnabas nach Antiochia zurückkommen, spitzt sich die Streitfrage der Beschneidung zwischen Juden- und Heidenchristen zu (Apg 15,1–5): «Nach grosser Aufregung und heftigen Auseinandersetzungen beschloss man, Paulus und Barnabas und einige andere von ihnen sollten wegen dieser Streitfrage zu den Aposteln und den Ältesten nach Jerusalem hinaufgehen.» Dort angekommen, «erhoben sich einige aus der Partei der Pharisäer, die gläubig geworden waren, und sagten: Man muss sie beschneiden und von ihnen fordern, am Gesetz des Mose festzuhalten» (V 5). Es kommt zur Versammlung der Apostel und der Ältesten mit der Gemeinde (Apg 15,6–21), die dazu dient, die Streitfrage zu klären. Heftiger Streit kommt auf. Petrus sucht die aufgewühlte Situation zu beruhigen und erinnert nochmals an seine Begegnung mit Kornelius in Cäsarea. Auch Jakobus ergreift das Wort und ermahnt dazu, den Heidenchristen «keine Lasten aufzubürden», ihnen aber auch zu empfehlen, dass sie einige Regeln beachten (V 19 ff.).

Beschlusskraft aus Heiligem Geist

Über die Versammlung berichtet dann Apg 15,22– 29: Bereits der Beginn ist höchst beachtenswert: «Da beschlossen die Apostel und die Ältesten zusammen mit der ganzen Gemeinde, Männer aus ihrer Mitte auszuwählen und sie zusammen mit Paulus und Barnabas nach Antiochia zu senden …» (V 22). Sie geben ihnen ein Schreiben mit, dessen Grusswort ebenfalls aufmerken lässt: «Die Apostel und die Ältesten, eure Brüder, grüssen die Brüder aus dem Heidentum in Antiochia, in Syrien und Kilikien» (V 23). Höhepunkt des Briefes, der die Heidenchristen als Kirche unter den Völkern anerkennt, ist die Erklärung: «Der Heilige Geist und wir haben beschlossen …» (V 28).

Fazit

Ist unsere Kirche in der Schweiz «zu demokratisch»? Auf biblischem Hintergrund geantwortet: Die Apostolische Kirche zeichnet sich in der Apostelgeschichte aus durch Transparenz: statt Geheimverfahren offene Debatte und Klärung. Und durch Partizipation aller: tätige Teilnahme nicht nur in der Liturgie, sondern in allem, was alle betrifft. Damit ist – auch vor der Wahl eines Bischofs – die Meinungsbildung unter allen Frauen und Männern im kirchlichen Dienst eines Bistums begründet. Macht es nicht Sinn, nun in den einzelnen Dekanaten den Prozess breiter Meinungsbildung zu ermöglichen?

 

1 Der Autor nahm teil am Treffen mit dem Apostolischen Nuntius vom 13. März 2017 in Chur. Er ist überzeugt, dass «angesichts der bekannten Spannungen im Bistum Chur eine Besinnung auf die Kirche zur Zeit der Apostel, wie Lukas sie in der Apostelgeschichte schildert, hilfreich» sein kann.

Robert Trottmann

Dr. Robert Trottmann war von 1965 bis 1972 Sekretär und Leiter des Liturgischen Instituts in Fribourg und Zürich, 1976–1982 Dozent für Liturgik an der Theologischen Hochschule Chur, 1985–1991 Mitarbeiter im Liturgiereferat des Bistums Aachen und von 1991–1998 Pfarrer und Dekan im Engadin.