Zeugin für die Logik der Liebe

Die französische Philosophin Simone Weil wurde 1909 als Jüdin geboren und starb 1943 als nichtgetaufte Christin. Ihr Leben war geprägt von der Suche nach der Wahrheit.

Simone Weil. (Fotograf unbekannt)

 

«In Gott gibt es ewig und nebeneinander Schmerz und Freude, die vollkommen und unendlich sind.» In Simone Weil vereinen sich die Gegensätze: Sie duldete keinen Widerspruch zwischen Worten und Handlungen, sie erkannte die Schönheit und das Leid als gleichwertige Wege der Gottesbegegnung, sie führte Protestmärsche für die Rechte der Arbeiter und war bis ins Letzte dem Willen Gottes gehorsam. Die Vereinigung der Gegensätze in der menschlichen Seele nannte sie eine «Zange, um Gott zu fassen». Die Wahrheit zu suchen, war ihre Lebensaufgabe.

Berufung oder Glück?

Auch 75 Jahre nach ihrem Tod sind Leben und Botschaft der französischen Philosophin aufrüttelnd und lehrreich für jeden, der gerne etwas tiefer blickt. Denn auf den ersten Blick war Simone Weil wohl ein schwieriger Mensch – als «ungeniessbar» wurde sie von einem Mitschüler bezeichnet. Dennoch war sie eine der «Persönlichkeiten, die diesem Jahrhundert trotz der Kürze und Unscheinbarkeit ihres bewegten Lebens ein Siegel eingeprägt haben» (Gerhard Wehr). Weil selbst ahnte schon, dass ihre denkerische Grösse und spirituelle Tiefe nicht mit einem Lebensglück zu verbinden sind. In ihrem Tagebuch wägt sie ab: «Berufung [zum Denker] oder glückliches Leben? Was ist besser? Wir wissen es nicht. Unvereinbare Berufungen (ab einem gewissen Grad von Grösse).» Weil hat sich gegen das glückliche Leben entschieden. Sie hielt fest an ihrer bedingungslosen Suche nach Wahrheit in allen Dingen. Fragen nach Komfort, dem eigenen Auftreten, sogar die eigene Gesundheit galten ihr wenig.

Uns bleibt das ambivalente Bild einer bewundernswerten Frau, die oftmals dem Verständnis fremd scheint. Sie sprengt mit ihrem Wesen all unsere herkömmlichen Denk- und Verhaltensmuster und ist doch für manche durch ihr radikal hingebungsvolles Lebenszeugnis eine Heilige.

Nicht fassbar

Wer war diese Frau? Simone Weil war keine Theologin, sie hatte keinen Lehrstuhl für Philosophie inne, sie ist auch nicht den kanonisierten Heiligen zuzuschreiben. Sie lässt sich nicht in eine Kategorie einordnen. Als Intellektuelle und Arbeiterin, Pazifistin und Kämpferin, Jüdin und ungetaufte Christin vereint sie Gegensätze in sich, die unvereinbar scheinen. Ihre facettenreiche Persönlichkeit hat dazu geführt, dass ihr scheinbar widersprüchliche Rollen zugeschrieben wurden: Sie könne als Kirchenlehrerin gelesen werden (Jürgen Kuhlmann), aber auch als Häretikerin, da sie mit Ketzern sympathisierte und unüberwindbare Hindernisse zwischen ihrer Philosophie und der Kirche aufgebaut hatte (Heinz Abosch). Doch keine dieser Kategorien wird ihr völlig gerecht. Sie übersteigt jegliche Einordnungen, um ihre intellektuelle Freiheit zu bewahren. Gerade durch diese schwere Fassbarkeit und die Radikalität ihrer Lebensweise rief sie zu Lebzeiten und ruft sie heute noch Bewunderung und Empörung hervor. Sie war ein Mensch der Moderne, der mit hohem persönlichen Einsatz innerhalb der Krisen seiner Zeit nach der Wahrheit suchte und dadurch heute noch authentisch Zeugnis gibt.

Annäherung in vier Bildern

Simone Weil wurde am 3. Februar 1909 als Tochter des Pariser Arztes Bernhard Weil und seiner Frau Selma geboren. Ihr älterer Bruder André wurde einer der bedeutendsten Mathematiker des letzten Jahrhunderts. Sie wurde religiös agnostisch erzogen, bekam jedoch in ihrer Kindheit von der Grossmutter väterlicherseits die Grundlagen des jüdischen Glaubens vermittelt. Weil starb entkräftet am 24. August 1943 im Sanatorium in Ashford – als ungetaufte Christin. Vier Schlaglichter aus dem Leben und Denken Weils sollen eine Ahnung von ihrer Radikalität und Aktualität vermitteln.

Die Fabrikarbeiterin
Der breiten Öffentlichkeit ist Weil wohl wegen ihrer ungewöhnlichen Grenzgänge bekannt. Als Philosophielehrerin aus grossbürgerlichem Hause nahm sie sich unbezahlten Urlaub, um das Los der Arbeiterklasse, für deren Rechte sie auch parteipolitisch kämpfte, am eigenen Leib – und an eigener Seele – zu erleben. Ihr «Fabriktagebuch» gibt davon eindrücklich Zeugnis. Die Philosophin am Fliessband wollte keine Trennung zwischen Denken und Handeln leben. Darin gleicht sie zeitgenössischen Denkerinnen wie Simone de Beauvoir, aber auch heutigen Glaubensvorbildern wie Papst Franziskus.

Die poetische Mystikerin
Es waren drei ästhetisch vermittelte Erfahrungen mit dem Christentum, die für Simone Weil «wahrhaft zählten»: 1935 berührte sie eine Gruppe portugiesischer Fischerfrauen und ihr zwar elender, doch erhebender Gesang zum Patronatsfest. In der romanischen Kapelle Santa Maria degli Angeli in Assisi zwang sie 1937 «etwas, das stärker war, als [sie] selbst», auf die Knie zu gehen. Der Gesang in der Benediktinerabtei Solesmes 1938 liess sie – trotz oder in Verbindung mit ihren eigenen körperlichen Beschwerden – eine Transzendenzerfahrung neuer Qualität machen. Schönheit und Leid als Weg der Gottesbegegnung, für Weil der Schlüssel zur mystischen Erfahrung. Später schildert sie Begegnungen mit Christus: Im Laufe der aufmerksamen Rezitation des Vaterunsers «war Christus selbst gegenwärtig».

Die interreligiöse Denkerin
Simone Weil war Jüdin von Geburt, doch ein kritischer Geist gegen die jüdische Erwählungslehre. Sie lernte Sanskrit und verglich Shiva mit Christus. Sie lehnte aus Gehorsam gegen Gott die Taufe ab, sprach aber von ihrer Liebe zu Christus und allen Heiligen. Ihre radikale Lebenssuche nach Wahrheit führte Weil zu einem religiösen Universalismus, der in ihrer «Fenstermetapher» deutlich wird:
«Angenommen, ich befinde mich in einem Zimmer, durch dessen Fenster ich die Sonne sehe und das eine offene Verbindungstür zu einem anderen Zimmer hat, in dem sich jemand befindet, der ein Fenster in dieselbe Richtung hat. Durch diese Tür sehe ich den Lichtfleck, der auf die Wand fällt. Ich könnte sagen: der Unglückliche! Ich sehe das Sonnenlicht, und er sieht von dem ganzen Licht nur eine kleine, schwach leuchtende Fläche an der Wand» (aus den Cahiers, 2. Band, München 1993, S. 299).

Trotz der einen letztgültigen Wahrheit gibt es nach Weil die Möglichkeit unterschiedlicher berechtigter Wahrheitsansprüche. Weil zeigt in diesem «Fenster-Bild» die Bedeutung der Wahrnehmung des eigenen Standpunkts im interreligiösen Dialog.

Die passionierte Pazifistin
Weils radikaler Einsatz für die Wahrheit und das Gute wird greifbar in ihrem Plan zur Bildung einer Gruppe von Krankenschwestern an vorderster Front, den sie während ihrer Arbeit für die französische Exilregierung in London unter Maurice Schumann vorlegte. Sie wollte sich mit anderen freiwilligen Frauen ausbilden lassen, um an der Front Erste Hilfe zu leisten und so durch diese «Propaganda der Liebe» der faschistischen Hass- propaganda entgegenzuwirken. Bis zu ihrem Lebensende kämpfte sie für diesen Plan, den sie nie verwirklichen konnte.

Kurzes intensives Schaffen

Aus den etwa zwölf Jahren ihres öffentlichen Wirkens als Gymnasiallehrerin für Philosophie, als Gewerkschafterin und Streikführerin, als Fabrik- und Landarbeiterin, als Widerstandskämpferin gegen das Vichy-Regime und als Beraterin der französischen Exilregierung in London hat Simone Weil ein breites wissenschaftliches, aber auch spirituelles Werk hinterlassen. Sie selbst hatte zwar nur das tagespolitisch Aktuelle publiziert, aber schon bald nach ihrem Tod wurden beinahe alle ihrer politiktheoretischen und gesellschaftskritischen Arbeiten und alle ihre philosophischen und spirituellen Texte, auch ihre Korrespondenzen, veröffentlicht. Gustave Thibon1 hinterliess sie ihre Manuskripthefte, damit sie, «nachdem sie in [ihm] Verwandlung gefunden haben, eines Tages in einem [seiner] Werke ans Licht treten werden».  Bereits 1947 gab Thibon eine nach Themen systematisierte Auswahl aus den ihm anvertrauten Texten unter dem Titel «La pesanteur et la grâce» heraus. Inzwischen liegt der Grossteil ihrer Werke in deutscher Sprache vor, die französische Gesamtausgabe (œuvres complètes) ist fast vollständig ediert und kommentiert. Die Lektüre lohnt sich. Man kommt mit einer grossen Seele in Berührung (T. S. Eliot).

Stefanie Völkl

 

1 Gustave Thibon (1903–2001). Französischer Sozialphilosoph, der mit Simone Weil befreundet war.

 


Stefanie Völkl

Dr. Stefanie Völkl (Jg. 1984) studierte katholische Theologie auf Diplom sowie Germanistik und Philosophie in Mainz und Paris und promovierte bei Prof. Wolfgang W. Müller in Luzern. Sie veröffentlichte 2016 ihre Dissertation mit dem Titel «Gotteswahrnehmung in Schönheit und Leid. Theologische Ästhetik als Lesart der Logik der Liebe bei Simone Weil und Hans Urs von Balthasar». Derzeit ist sie als Pastoralassistentin im Bistum Mainz tätig.
(Bild: Bistum Mainz)