Wagemutige Mönche und gelehrte Schreiber

Rom ist heute das Zentrum der römisch-katholischen Kirche. Dabei geht oft vergessen, dass das Christentum in Europa stark von einigen wenigen Männern aus dem Nordwesten geprägt wurde.

Cod. Sang. 51, S. 78–79. Das Irische Evangeliar von St. Gallen, um 780. (Bild: Stiftsbibliothek St. Gallen)

 

Die Geschichte des Christentums in Mitteleuropa ist eng verknüpft mit einer kleinen Insel am Rande Europas: Irland. Vermutlich gab es in Irland bereits im 4. Jahrhundert Christen, schriftlich nachweisbar ist das Christentum aber erst seit dem 5. Jahrhundert. Papst Cölestin I. sandte 431 Palladius nach Irland. Dieser missionierte vermutlich im Süden der Insel, wo bereits Christen lebten, während der heilige Patrick aus eigenem Antrieb im heidnischen Norden Irlands tätig war.

Die Christianisierung Irlands führte zur Gründung zahlreicher Klöster, die damals die Zentren der Gelehrsamkeit waren (z.B. Clonmacnoise, Armagh oder Glendalough). Im Gegensatz zur Kirche auf dem Kontinent war die irische Kirche monastisch geprägt: Die Bischöfe waren nur untergeordnete Mitglieder des Kapitels, alle Macht ruhte bei den Äbten. Durch die abgeschiedene Lage der Insel hatten sich in der irischen Kirche Sonderwege entwickelt, die im 7. und 8. Jahrhundert zu Auseinandersetzungen mit der römischen Kirche führten.

Peregrinatio pro Christo

Um 563 musste sich der irische Mönch Kolumban der Ältere ins Exil begeben und kam dabei nach Schottland. Auf der Insel Iona gründete er zusammen mit einigen Gefährten ein Kloster. Von dort aus wurden zunächst Schottland und Northumbria (Nordostengland) christianisiert, später auch der Kontinent. Man spricht deshalb auch von der iroschottischen Kirche und der iroschottischen Missionierung des Festlandes.

War Kolumban der Ältere noch unfreiwillig ins Exil gegangen, so verbreitete sich gegen Ende des 6. Jahrhunderts der Gedanke des freiwilligen Exils. Dahinter stand die Idee, dass die eigentliche Heimat der Christen bei Christus im Himmel sei; auf Erden seien Christen nur Fremde. Ein weiteres Moment war die Aufforderung Jesu, um seinetwillen Vater und Mutter zu verlassen (Lk 14,26). Auf diesem Hintergrund begaben sich nun Mönche auf den Weg ins freiwillige Exil im Sinne einer «peregrinatio pro Christo». Die «peregrini pro Christo» verloren ihren Schutz durch die Gemeinschaft und sanken auf die Stufe der Verbannten. Das altirische Recht kannte zwei Formen des Exils: In der milderen Form bedeutete es die Verbannung aus dem Stamm, in der härteren Form die Verbannung von der Insel.1 «Dass aber die Asketen freiwillig die härteste Strafe auf sich nahmen, musste beeindruckend wirken und war zudem für jedermann an einem eindeutigen Kriterium nachprüfbar: sie waren übers Meer gefahren und hatten dadurch die direkte Verbindung mit ihrer Heimat abgebrochen.»2

Bei der peregrinatio über das Meer konnten Wind und Wellen als Gottesurteil wirken. Sie entschieden zum Beispiel, wohin die Reise ging. Als der heilige Kolumban der Jüngere (ca. 540–615) nach Irland zurückgeschickt werden sollte, lief sein Schiff auf, was als Gottesurteil zum Bleiben auf dem Kontinent verstanden wurde. Der heilige Egbert (639–729) hatte sein Schiff bereits zur Überfahrt ins Friesenland beladen, als ein Sturm alles zerstörte. Er verstand dies seinerseits als Zeichen, in Irland zu bleiben.3

Nach altirischer Religionsauffassung war die Insel das perfekte Heiligtum. Auch wurde die «andere Welt» oft in Form einer Insel gedacht.4 Deshalb haben sich «peregrini pro Christo» immer wieder auf Inseln niedergelassen (bei uns z. B. auf der Insel Reichenau oder Rheinau).

Über Frankreich in die Schweiz

Kolumban der Jüngere war der erste irische Abt, der Irland im Sinne der «peregrinatio pro Christo» für immer in Richtung Kontinent verliess. Er wurde von einer Gruppe Mönche begleitet, darunter der heilige Gallus (550–650). Kolumbans Ruf drang bis zum fränkischen König Childebert II. Dieser stellte ihm Land für Klostergründungen zur Verfügung. Viele Söhne fränkischer Adliger traten in die von Kolumban gegründeten Klöster ein oder erhielten dort ihre Ausbildung. Einige von ihnen gründeten später selber Klöster, sodass sich der irische Klostergedanke verbreitete. Die gelehrten irischen Mönche trugen viel zur Bewahrung und Verbreitung von Handschriften bei.
Kolumban verliess nach einem Konflikt mit König Theuderich das Fränkische Reich. Auf seiner Missionsreise kam er auch in die Schweiz. Hier fand er bereits einige Christen in den römischen Siedlungen und in den damaligen Bischofs- sitzen in Basel, Genf, Sitten und Chur vor; doch ein Grossteil der Bevölkerung verehrte noch die germanischen oder römischen Götter. Zusammen mit Gallus verkündete er tatkräftig einen auf der Bibel gegründeten Glauben. Während Kolumban nach Italien weiterzog, blieb Gallus in der Schweiz und liess sich im Arbonerforst nieder, wo er auch starb. Der heilige Othmar (689–759) baute später an dieser Stelle das Kloster St. Gallen.5

Der Reichtum irischer Handschriften

Die erste Gruppe von Iren war im ausgehenden 6. und 7. Jahrhundert, getragen vom Gedanken der «peregrinatio pro Christo», nach Kontinentaleuropa gepilgert.
Im 9. Jahrhundert gab es eine zweite Welle der iroschottischen Mission. Die Ursache dafür lag in den schwierigen Lebensumständen in Irland durch die häufigen feindlichen Einfälle von Wikingern aus Dänemark und Norwegen. Diese zweite Welle von irischen Mönchen waren mehrheitlich keine «peregrini pro Christo», sondern Gelehrte. Sie fanden durch ihre gute Ausbildung wohlwollende Gönner und bildeten an verschiedenen Orten irische Gelehrtenzirkel (z.B. in Lüttich, Reims oder Bobbio).6 Mit ihnen kamen auch Handschriften aus Irland nach Kontinentaleuropa.
Irische Pilger, die entweder auf dem Weg nach Rom waren oder auf dem Kontinent missionieren wollten, übernachteten und lebten bevorzugt in Klöstern, die von Iren gegründet worden waren. Auch besuchten sie auf ihrem Weg die Gräber ihrer irischen Heiligen. Dabei brachten sie oft Handschriften aus Irland mit. Als die Wikinger in England und Irland einfielen und alle Kulturgüter der Iren zerstörten, überlebten diese Handschriften in den europäischen Klöstern, so z.B. auch im Kloster St. Gallen.

Irische Kostbarkeiten

Die in der Stiftsbibliothek St. Gallen erhaltene Sammlung irischer Handschriften aus dem 7. bis 9. Jahrhundert ist die grösste und schönste auf dem europäischen Festland. Das vielleicht älteste erhaltene Zeugnis für eine erkennbare irische Präsenz im Kloster sind vier winzige Pergamentfragmente von einer Handschrift der «Etymologien»  des Isidor von Sevilla. Zu den schönsten erhaltenen irischen Bilderhandschriften gehört das «Irische Evangeliar von St. Gallen». Bei allen irischen Handschriften in der heutigen Sammlung der Stiftsbibliothek kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob sie in Irland geschrieben oder von irischen Schreibern auf dem Kontinent verfasst wurden.7

Rosmarie Schärer

 

1 Vgl. Angenendt, Arnold, Die irische Peregrinatio und ihre Auswirkungen auf dem Kontinent vor dem Jahre 800, in: Löwe, Heinz (Hg.), Die Iren
  und Europa im früheren Mittelalter, Bd. 1, Stuttgart 1982, 55.

2 Ebd. 56.

3 Ebd. 58–59.

4 Vgl. Le Roux-Guyonvarc’h, Françoise, Keltische Religion, in: Asmussen, Jes Peter u. a. (Hg.), Handbuch der Religionsgeschichte, Bd. 1,
  Göttingen 1971, 270–275.

5 Ausführliche Unterlagen unter www.bistum-stgallen.ch/de/340/Gallus_neu.htm.

6 Vgl. Schmuki, Karl, Gäste und Lehrer aus Irland im Kloster St. Gallen, in: An der Wiege Europas. Irische Buchkultur des Frühmittelalters, Dora,
Cornel und Schnoor, Franziska (Hg.), St. Gallen 2018, 103.

7 Vgl. Ó Cróinín, Dáibhí, Irland und St. Gallen, in: An der Wiege Europas. Irische Buchkultur des Frühmittelalters, Dora, Cornel und Schnoor,
Franziska (Hg.), St. Gallen 2018, 21.


Ausstellung zum Thema
«An der Wiege Europas. Irische Buchkultur des Frühmittelalters». Die Sommerausstellung der Stiftsbibliothek St. Gallen läuft noch bis zum 4. November 2018. Informationen unter www.stibi.ch