Zeitenwende?

Die Zeiten sind schwierig geworden. Das sagt man oft so dahin. Nichts ist mehr sicher, weder die Gasversorgung noch die Demokratie. Und das nicht erst seit dem 24. Februar, seit wir wieder Krieg haben in Europa.

Wenige Tage nach dem 24. Februar sprach der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz von einer Zeitenwende, die wir erleben. Seither wurde das Wort oft zitiert, wurde hinterfragt, kritisiert, bekräftigt. Auch mich beschäftigt es. Denn es scheint so treffend zu sein für unsere Jetzt-Zeit. Alles wird unsicher, Verlässlichkeiten sind dahin. Was wir als sicher glaubten, verflüssigt sich, zerrinnt in unseren Händen. Und das gilt nicht nur für die Welt, die uns umgibt. Das gilt auch und schon lange für manche Glaubenswahrheit, die nicht mehr einsichtig erscheint. Die nicht mehr sicher sein lässt. Manche reden davon, dass der Glaube verdunste.

Zeitenwende. Ein schillernder Begriff, der Angst macht. Denn es könnte ziemlich anders werden, auch für uns. An uns sind Krisen bisher ja immer vorbeigezogen. Dürren und Überschwemmungen gab es an Orten weit weg von uns. Der Klimawandel zeigt uns in diesem Sommer mit grosser Dramatik, was auch auf uns zukommt. Jetzt ahnen wir, dass es auch uns treffen kann. Und wir spüren, dass wir es im Grunde besser finden, wenn alles so bleibt, wie es ist – so sicher, so bequem, so wohlhabend.

Zeitenwende – in diesem Wort drückt sich zugleich eine Sehnsucht aus. Es muss endlich anders werden. Das Kriegstreiben muss beendet werden. Wir müssen rigoros auf die Bremse unseres überbordenden Konsums treten, sonst verdorrt unsere ächzende Erde. Jetzt muss sich endlich etwas drehen, grundsätzlich wenden. Wir brauchen ein neues Miteinander. Nicht wenige erwarten auch für unsere Kirche eine Zeitenwende. Diese Sehnsucht nach Wandel, nach Veränderung – wie kann sie zur Triebfeder einer Zeitenwende zum Guten werden?
Wir haben nichts so nötig wie eine Zeitenwende.

Es muss anders werden − nein, wir müssen anders werden. Wir müssen uns wandeln, unsere Zeit zum Besseren drehen. Wahrlich keine neue Erkenntnis! Aber was nützen schon Appelle?

Beharrlicher Wandel und zeitenwendende Veränderung brauchen vor allem − Vertrauen. Denn in vermeintlichen Sicherheiten ist keine Hoffnung mehr. Hoffnung gibt es nur noch auf dem unsicheren Terrain des Vertrauens. Mir geht nicht aus dem Kopf, was der Historiker Rutger Bregman in seinem Bestseller «Im Grunde gut − Eine neue Geschichte der Menschheit» beschreibt. Er argumentiert mit dem Modell der Self-fulfilling prophecy, dass es tatsächlich anders werden kann, wenn wir vertrauen – und das heisst für ihn, wenn wir von den guten Absichten der anderen ausgehen. «Wir werden zu unseren Zuschreibungen», nennt es Bregman. «In den anderen Brüder und Schwestern erkennen», nennt es die jüdisch-christliche Tradition. Damit verändert sich alles. Vertrauen. Wir haben nichts in der Hand. Keine Sicherheit, nirgends. Doch nur so kann es tatsächlich zu einer Zeitenwende zum Besseren kommen. Vertrauen – Glauben − liegen bereits in der Luft, vielleicht viel mehr, als wir ahnen.

Barbara Kückelmann

 

Glaube liegt in der Luft – Die neue Hoffnung
Es ist nicht zu leugnen:
was viele Jahrhunderte galt, schwindet dahin.
Der Glaube, höre ich sagen, verdunstet.
Gewiss, die wohlverschlossene Flasche
könnte das Wasser bewahren.
Anders die offene Schale: sie bietet es an.
Zugegeben, nach einiger Zeit findest du trocken die Schale,
das Wasser schwand.
Aber merke: die Luft ist jetzt feucht.
Wenn der Glaube verdunstet,
sprechen alle bekümmert von einem Verlust.
Und wer von uns wollte dem widersprechen!
Und doch: einige wagen trotz allem zu hoffen.
Sie sagen: Spürt ihr’s noch nicht?
Glaube liegt in der Luft!

 

Gedicht: Lothar Zenetti, Auf Seiner Spur. Texte gläubiger Zuversicht. Matthias-Grünewald-Verlag, 2014.


Barbara Kückelmann

Barbara Kückelmann (Jg. 1959) ist deutsch-schweizerische Doppelbürgerin, studierte Theologie in Tübingen und Freiburg i.Br. und ergänzte ihr Diplom mit jenem für christliche Sozialwissenschaft und Sozialarbeit. Zudem bildete sie sich in Pädagogik und Management weiter. Seit 30 Jahren ist Barbara Kückelmann im pastoralen Dienst für das Bistum Basel tätig und seit 2016 Pastoralverantwortliche des Bistums.