Maria neu entdecken

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts standen die Mariologie und die Marienverehrung in hoher Blüte. Das änderte sich seither stark. Über die Gründe für diese Entwicklung sowie über das Potenzial der Mariologie sprach die SKZ mit Barbara Hallensleben.

«Der Allmächtige hat grosse Dinge für mich getan.» (Bild: Maria Lang Art)

 

SKZ: Frau Hallensleben, am Erscheinungstag dieser Ausgabe begeht die Kirche den Festtag Mariä Geburt. Wie kam es zu diesem Feiertag?
Barbara Hallensleben*: Gedenktage von Heiligen werden in der Regel an ihrem Todestag, also an ihrem «Geburtstag für den Himmel» gefeiert. Alle Heiligen sind auch Sünder und Sünderinnen, und erst mit dem Abschluss ihres Lebens auf Erden kann man sehen, wie sie den Weg des Glaubens und der Heiligung gegangen sind. Deshalb ist es etwas Besonderes, den Geburtstag eines Menschen – neben dem Geburtstag des Erlösers an Weihnachten – zum kirchlichen Fest zu erheben. Diese Ausnahme macht die Kirche nur für zwei Personen: für Maria (8. September) und für Johannes den Täufer (24. Juni). Beide Feste sind im Osten schon im 5. Jahrhundert bezeugt. Als Anlass für das Fest Mariä Geburt gilt die Weihe der Annakirche in Jerusalem, die am vermuteten Wohnort Marias mit ihren Eltern Anna und Joachim errichtet wurde. Der von syrischen Eltern abstammende Papst Sergius I. führte das Fest auch im Rom ein. Das gläubige Nachdenken ging noch weiter: Wenn Maria seit ihrer Geburt ohne Sünde war, dann war sie es auch bereits vor ihrer Geburt, seit ihrer Empfängnis. Das Fest der «Unbefleckten Empfängnis Mariens» erhielt zwar durch die Dogmatisierung 1854 durch Papst Pius IX. neues Gewicht, doch im Glaubensbewusstsein der Kirche ist es etwa seit dem Jahr 700 tief verwurzelt. Man folgte für den Festtag dem «biologischen Kalender»: Die Empfängnis Mariens wurde auf den 8. Dezember gelegt, und im Osten gibt es ein ähnliches Fest auch für Johannes den Täufer am 23. September.
 
Mir scheint, die Mariologie fristet heute in der Theologie ein Mauerblümchen-Dasein. Weshalb?
Mauerblümchen sind eigentlich ein schönes Symbol: Sie erscheinen auf einem harten, trockenen, öden, leblosen Untergrund. Wer sie entdeckt, freut sich spontan und staunt über die Kraft des Lebens, das sich hier durchgesetzt hat. Es gibt viele Gründe, weshalb wir in der Theologie die Mariologie vernachlässigen, bedauerliche und vielleicht auch gute Gründe. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts schien die Mariologie in permanenter Blüte zu stehen. Sie begleitete eine ausgeprägte Marien­verehrung, die in den «Marianischen Kongregationen» institutionellen Ausdruck fand und eine Laienbewegung war. Ordensfrauen hiessen neben ihrem individuellen Ordensnamen auch Maria. Maria war als zweiter Vorname sogar für Jungen beliebt, denken wir an Rainer Maria Rilke. Das Rosenkranzgebet war und ist eine meditative Laienfrömmigkeit, die zur Betrachtung der «Geheimnisse» des Lebens Jesu anregt. Das Gebet «Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft …» strukturierte den Tag, in Erinnerung gerufen durch Glockengeläut. Man konnte es am Kochtopf ebenso beten wie auf der Alp oder am Arbeitsplatz. Gerade mit ihrem Höhepunkt, der Dogmatisierung der Aufnahme Mariens in den Himmel im Jahr 1950, kam es zu einem Einbruch in dieser marianischen Bewegung. Die Mariologie verlor gleichsam ihren Boden.

Kann man Gründe dafür angeben?
Was so rasch an Bedeutung verlieren kann, hat entweder den Anschluss an eine neue Zeit verpasst – oder bereits zuvor bestehende innere Mängel und Widersprüche werden offenkundig. Warum konnten sich katholische Christen so lange mit Maria identifizieren – und können es nun nicht mehr? An diese Frage sollten wir sehr nüchtern herangehen, ohne vorschnelle Verurteilungen. Dann könnte sich zeigen: Die Mariologie hat dem glaubenden Menschen Maria vorenthalten und an ihre Stelle ein idealisiertes Konstrukt gesetzt. Ein Schlüsselereignis dieser Entwicklung war die Dogmatisierung der «Unbefleckten Empfängnis Mariens» im Jahr 1854 durch Papst Pius IX. Wie viele andere Äusserungen der Kirche im 19. Jahrhundert war dieses Dogma gegen die «moderne» Welt gerichtet, die damals ihre Autonomie, ihren Fortschritt und ihre Selbstorganisation in souveränen Nationalstaaten feierte. Maria wurde demgegenüber als von Ewigkeit her reines, von den Abgründen der Geschichte unberührtes Geschöpf beschrieben. Die Vermittlung mit dem konkreten Menschen, der den Bedrängnissen und Überforderungen der Geschichte und den Widersprüchen seiner Existenz ausgesetzt ist, wurde nicht hinreichend geleistet. Schritt für Schritt traten die Unzulänglichkeiten der Mariologie zutage: Maria war zum antiprotestantischen katholischen Erkennungszeichen geworden. Dagegen protestierte die ökumenische Bewegung. Maria wurde mit so vielen «Privilegien» ausgestattet, dass sie einen Vorwand bot, Frauen umso mehr auf die Seite der sündigen Eva zu rücken. Dagegen protestierte die feministische Theologie. Maria schien die Konzentration auf Christus zu schmälern. So verstärkte sich eine Theologie, die Marias Verwurzelung im Glauben Israels und das Wirken des Geistes Gottes in ihr und durch sie vergisst.

Worin sehen Sie das Potenzial der Mariologie für Theologie und Kirche?
Um mit Bonhoeffer zu sprechen: Die Mariologie ist heute «zurückgeworfen auf die Anfänge des Verstehens». Wenn Maria in den Himmel entrückt worden ist, dann muss sie neu entdeckt werden von der Bewegung der Menschwerdung her. Das Spektakuläre an Maria ist das äusserlich Unspektakuläre ihres Lebens. Nichts in ihrem Leben hätte auch nur für eine Schlagzeile gereicht. Sogar das Neue Testament ist in seinen Aussagen äusserst spärlich: Sie war einem Zimmermann zur Ehe versprochen. Sie hat ein Kind geboren und grossgezogen. Sie musste mit der Familie nach Ägypten fliehen. Sie hat bei einer Hochzeit in Kana den Dienern des Hauses Hinweise gegeben. Sie hat bei ihrem als Verbrecher am Kreuz sterbenden Sohn ausgeharrt. Sie war mit einer Gruppe von Anhängern Jesu, die ihre Hoffnung verloren hatten, im Gebet vereint.
Hier stossen wir auf die Herausforderung der Mariologie für die Theologie: In unserer Denkwelt hat die Idee den Vorrang vor der Person gewonnen. Alles muss «auf den Begriff gebracht werden», um etwas zu gelten. Maria in ihrer Singularität fällt dieser Tendenz noch stärker zum Opfer als Jesus selbst. Der Osten schreibt lieber Hymnen und feiert Maria in jeder Liturgie. Ideen sind gut, um Recht zu behalten. Menschen sind dazu da, um die einzigartige Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung fortzuschreiben. Der westliche Philosoph René Descartes meinte: Ich denke, also bin ich. Der russische Philosoph Vladimir Solov’ev spottet: Du bist, weil Deine Mutter Dich geboren hat. Das ist ein gutes Leitwort für eine marianische Theologie!

Welche Fragen und Themen der Mariologie sind heute aktuell bzw. wären neu zu thematisieren?
Die Grundaufgabe sehe ich in einer «marianischen Theologie», einer Theologie des Hörens auf Gottes Willen: «Mir geschehe nach Deinem Wort»; eine Theologie des Gotteslobes: «Meine Seele preist die Grösse des Herrn …»; eine Theologie des Hinweises auf die Wunder des Erlösers: «Was er euch sagt, das tut»; nicht zuletzt eine Theologie, die schweigen kann, die das Nötige tut und sagt und damit nicht immer auf der Bühne und in den Schlagzeilen stehen will. Es ist eine im Glauben wurzelnde Theologie, die in der Erwählung Israels ihren Nährboden hat. Ja, es gibt auch viele mariologische Einzelthemen, die zu entdecken wären. Zunächst ist das ökumenische Potenzial Marias hervorzuheben: Katholiken und Protestanten können in Maria den Menschen sehen, der «allein aus Gnade» (sola gratia) und «allein aus Glaube» (sola fide) das Heil allein von Gott her erwartet. Vor allem aber hilft der Blick auf Maria, eine nicht nur christozentrische, sondern wirklich trinitarische Theologie zu entwickeln: Das Zweite Vatikanische Konzil regt dazu an, das kirchliche Leben von den geistgewirkten Charismen und dem überraschenden Wehen des Geistes Gottes in der Geschichte her zu verstehen. Das ist im Rahmen der Bemühungen um eine Kirchenreform sehr aktuell.

Für Theologinnen und Theologen, die sich einer archetypisch-symbolischen Glaubensauslegung bedienen, ist Maria das weibliche Symbol des Göttlichen. Was sagen diese Positionen der Mariologie?
Die Psychologie hat potenziell eine besondere Sensibilität für die Spuren Gottes in der menschlichen Seele. Nur sollten wir aus theologischer Perspektive nicht einfach unsere geschöpflichen Erfahrungen auf Gott projizieren, sondern umgekehrt die Frage stellen: Was könnte es bedeuten, wenn der Mensch nicht einfach als «Mensch», sondern als Mann und Frau Abbild Gottes ist? Könnte es nicht eine zweigestaltige Selbstoffenbarung Gottes in männlicher und weiblicher Gestalt geben, die in der einen menschlichen Natur verbunden sind? Schon indem die Frage so gestellt wird, gibt unsere Existenz als Mann und Frau – gerade im heutigen Zeitalter der Uneindeutigkeit unserer geschlechtlichen Selbstdefinition – Anlass, mit Respekt, ja Ehrfurcht das unauslotbare Geheimnis Gottes im anderen Menschen zu achten.

Interview: Maria Hässig

 

* Prof. Dr. Barbara Hallensleben (Jg. 1957) ist Professorin für Dogmatik und Theologie der Ökumene an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü. Sie ist Direktorin des Zentrums St. Nikolaus für das Studium der Ostkirchen und Mitglied der Gemeinsamen Internationalen Kommission für den theologischen Dialog zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche. 


Barbara Hallensleben

Prof. Dr. Barbara Hallensleben (Jg. 1957) ist Professorin für Dogmatik und Theologie der Ökumene an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i.Ü. Sie ist Direktorin des Zentrums St. Nikolaus für das Studium der Ostkirchen und Mitglied der Gemeinsamen Internationalen Kommission für den theologischen Dialog zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche.