Wozu sind wir auf Erden?

Mit dieser schwerwiegenden und bangen Frage wurden wir bereits in der ersten Primarklasse im Katechismusunterricht konfrontiert. Und als wir dann wirklich einmal in der Lage waren zu fragen, wollten wir nicht wissen, wozu, sondern vor allem, warum: Warum ist etwas so und nicht anders, warum soll ich dies tun müssen, was andere von mir wollen und nicht, was ich unbedingt selber will? "Warum?" ist wohl ein Leben lang eine der am meisten gestellten Fragen, deren Beantwortung den Menschen mit seiner Welt eigentlich vertraut machen sollte. Zu oft bleib die Frage "Warum?" ohne Antwort, was Menschen verzweifeln lässt. Folgende Erinnerung aus meiner Kindheit, die ich vor Jahren schon aufgezeichnet habe, möge die Problematik des permanenten "Warum?" etwas illustrieren.

Gulatsch und die Frage "Warum?"

Gulatsch ist ein Wald zuhinterst in einem kleinen Seitental der Surselva, meiner engen Heimat im Bündnerland. So, wie der Name schon tönt, sieht auch dieser Wald aus: "atschig", dicht, dunkel, beeindruckend mächtige Tannen, überzogen mit alten Bartflechten. Mein Vater war Schuhmachermeister. Als Bauernsohn hielt er in der Kriegszeit, da wir etwas Land hatten und mehr oder weniger Selbstversorger waren, eine Kuh, Ziegen und Schafe. Abends nach der Arbeit musste er jeweils diese Tiere füttern gehen. Der Weg zum Stall nach Zambrans führte durch Gulatsch. Als kleiner Schulbube durfte ich oft mit. Auf dem Hinweg, war es meistens, je nach Jahreszeit, am Eindunkeln. Gulatsch war noch einigermassen durchsichtig und geheimnisvoll still. Auf dem Heimweg aber war es stockdunkel und der Wald voll Unruhe und voll Stimmen. In der einen Hand hielt der Vater meine Hand, in der anderen eine Stalllaterne. Beim Laufen bewegte sich diese hin und her und warf so gespenstische Lichter über Tannen und Gebüsche. In meinem tiefsten Inneren regte sich die Angst. Um diese zu verscheuchen, stellte ich Fragen über Fragen an den Papa. Immer wieder die gleichen Fragen: "Welche Stimme ist da oder dort zu hören? Was huscht da vorne über die Strasse?" usw. Der Vater war müde und gab nicht auf jede schon zum x-ten Mal gestellte Frage eine Antwort. Aber ich fühlte seine Hand und war zufrieden und beruhigt. Sie zu spüren war Antwort genug.

Gelegentlich führt unser Lebensweg durch eine Art "Gulatsch". Allerlei Ungeheuer, vermeintliche Geister und Gespenster huschen durch das "Dickicht". Die Angst steigt in uns auf. Wir lärmen und reden, um sie zu verscheuchen. Wir wenden uns an Gott mit tausend Fragen. Nicht dass Gott etwa müde würde, auf uns zu hören. Aber er ist, so kommt es uns vor, trotz der Not oft stumm. Oder wir hören gelegentlich sein Wort und seine Antwort nur oberflächlich oder auch gar nicht. Wir sind nicht fähig, sein Reden, seine Sprache zu verstehen und zu interpretieren. Gerade dann ist es wichtig, uns dessen bewusst zu werden, dass Er uns an der Hand führt wie der Vater mit seiner Stalllaterne, die ein geheimnisvolles Licht wie ein Nordlicht in die Dunkelheit des Waldes wirft! Das mag genügen, um durch "Gulatsch" zu kommen!

Vor der Frage "Wozu?"

Und nun stand der kleine Knirps der ersten Klasse mit seinen vielen "Warum?" in seiner Ungewissheit plötzlich vor der Frage "Wozu?". Er konnte noch nicht oder kaum lesen. Im gleichen Schulzimmer waren mit den Erstklassschülern die zweite und dritte Klasse zusammen. Jeder Lehrer unterrichtete drei Klassen. Das Klassenzimmer sehe ich heute noch vor mir. Nach dem Unterricht musste die Mutter mit uns das Lesen üben und helfen, die Frage "Wozu?" und die im Buch gegebene Antwort zu verstehen. Ja, "Wozu sind wir auf Erden?". Die Antwort im Katechismus war für Erstklass-Schüler wohl so schwer wie die Frage selber. "Wir sind auf Erden, um Gott zu dienen und dadurch in den Himmel zu kommen", hiess es einfach. Dabei war und ist Gott, dem wir dienen sollten, ein nicht vorstellbares Wesen und der Himmel eine weit entfernte fantastische paradiesische Möglichkeit. Der Frage "Wozu?" musste die Frage "Wie?" folgen. Wie sollten wir dann Gott, dem Abwesenden, dem Unsichtbaren dienen? Das didaktische Bildmaterial war damals abhängig von der Fantasie des Religionslehrers. Unser Pfarrer zeigte uns gelegentlich grosse farbige Bilder von Gottes Schöpfung, von den ersten Menschen Adam und Eva, von den Brüdern Kain und Abel, von der grossen Flut, die alles Leben auf Erden bedrohte, aber auch von der rettenden Arche Noah oder von der Geburt des Jesus-Kindes in Bethlehem und von seinem späteren Wirken in Israel u. a. m. Die Bilder hatten Plakat-Grösse, weckten unsere Fantasie, wurden sehr lebendig und bewegten sich in unserer Vorstellung. In einer Welt ohne Medienmarkt schufen sie echte und begeisternde innere Erlebnisse. Die Frage, wozu wir auf Erden sein sollen, wurde mir aber erst später etwas klarer. Was Gott dienen bedeutete, verstanden wir erst allmählich, als wir das andere Gebot vor Augen geführt bekamen: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und in deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand. Dies ist das erste und grösste Gebot. Das zweite ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängen das ganze Gesetz und die Propheten" (Mt 22,38–40). Also im Gott-Dienen und Gott-Lieben und Den-Nächsten-wie-sich-selbst-Lieben sollte die Frage, wozu wir auf Erden sind, also vom Sinn dieses Lebens her erklärt werden. Und diese Art Gottesdienst und Nächstenliebe ist und bleibt vielfältig und spannend. Doch, so scheint mir, hat man gerade in einer Zeit, da diese komplexer und komplizierter gewordene Welt es so dringend brauchen würde, eine Antwort auf die Frage nach dem Wozu des Hierseins vielfach vernachlässigt. Die Frage nach dem "Wozu sind wir auf Erden?" wurde eine Zeitlang selbst aus religiösen Unterrichtsbüchern gestrichen. "Warum?" bleibt ohne Antwort! Und doch blieb und bleibt die Frage nach dem Wozu mehr denn je aktuell!

Unsere Erde – ein geschrumpfter Planet

Die Welt ist durch die Möglichkeit der Massen- medien geschrumpft, klein geworden. Sie wird mit allem, was sie ist, in medialen Kanälen in unsere Stuben geflutet. Wir sind Weltbürger geworden. Wir nehmen Teil an der Schönheit auch fremder Welten, aber auch an den Katastrophen, an der Unmenschlichkeit und den Brutalitäten dieser gleichen Welt. In der Noah-Geschichte der Genesis wird etwas dargelegt, was wir als Weltbürger heute noch teilweise erfahren und erleben, auch ohne irgendeinem Pessimismus verfallen zu sein. So lesen wir: "Und die Erde wurde verderbt vor den Augen des wahren Gottes und die Erde wurde mit Gewalt erfüllt …" (Gen 6,11 f.). Wenn wir nicht vollständig abgestumpft sind, leiden wir auch mit dieser unserer Umwelt mit. Die "Stürme" aus weiter Ferne – dabei sind nicht jene auf den weiten Meeren, sondern jene aus sozio-kultureller, sozio-ökonomischer und soziopolitischer Umgebung zu verstehen – werfen ihre gefährlichen Wellen in verschiedenster Form hinein in unser Leben. Und es gibt genug Belege dafür, dass diese "Stürme" die menschliche Seele auf vielerlei Weise überfordern. "Bedeutendes verkümmert, während Belangloses übertrieben reflektiert wird. Statt der Frage ‹Welche Werte gilt es zu verwirklichen?›, kommen Fragen in den Vordergrund wie ‹Habe ich dabei Spass?› oder ‹Wie fühle ich mich dabei?› oder ‹Was habe ich davon?›" (so Paul Ostberg, Leiter der Sektion Logotherapie in Wirtschaft und Arbeitswelt, in einem Arbeitspapier, November 2014).

Die Frage nach dem Wozu allen Seins mag in den "Fluten" untergegangen sein. Und doch wäre sie überlebenswichtig. "Spass haben – dürfte die geläufige Antwort nicht nur von Kindern und Jugendlichen auf obige Frage sein", schreibt Herbert Frohnhofen zur Frage "Wozu sind wir auf Erden?" Und er setzt fort mit Bedenkenswertem: "‹Das Leben noch ein wenig geniessen oder Hauptsache, gesund bleiben›", heisst es dann bei den Älteren. Beides ist okay; doch beides findet sein natürliches Ende. Der Spass hört irgendwann auf, und die Gesundheit streikt. Was dann? ‹Ich spring von der Brücke›, sagte vor kurzem eine junge, gesunde und attraktive Frau, ‹bevor ich in einer Hungersnot um Kartoffeln betteln würde, springe ich von der Brücke.› – Andere sagen: ‹Ich lass’ mir die Todesspritze geben, wenn ich nicht mehr kann, oder ich nehme Gift.› Ist das die Lösung, wenn der Spass aufhört oder die Gesundheit abhanden gekommen ist? Ja, es ist eine Lösung. Aber eine traurige, eine, die keine Hoffnung zeigt und auch keine Verantwortung erkennen lässt."

Sinnorientierung hält am Leben

Der Wiener Arzt und Professor für Nervenkrankheiten und Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, Viktor E. Frankl, schrieb vor Jahren in einem Abschnitt seines gleichnamigen Buches "Sinnorientierung hält am Leben": "Dem Menschen von heute wird aber jede Sinnorientierung erschwert. Er hat genug, wovon er leben kann, aber weiss kaum um etwas, für das er zu leben vermöchte. Mit einem Wort, er leidet an einem Sinnlosigkeitsgefühl. Der Wohlfahrtsstaat und die Wohlstandsgesellschaft befriedigen praktisch alle Bedürfnisse des Menschen, ja, in Form der Konsumgesellschaft werden einzelne Bedürfnisse überhaupt erst erzeugt. Nur ein Bedürfnis geht leer aus, und das ist das Sinnbedürfnis des Menschen. Unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen wird er eigentlich frustriert (…), wenn er um keinen Sinn des Lebens weiss, dann pfeift er aufs Leben, auch wenn es ihm äusserlich noch so gut gehen mag, und unter Umständen wirft er es dann weg. Trotz Wohlstand und Überfluss. Die Eskalation der Selbstmordziffern, mit der wir heute konfrontiert werden, beweist uns, dass es trotz materiellen Wohlstands zu einer existentiellen Frustration kommen kann" (Viktor E. Frankl: Logotherapie und Existenzanalyse. München-Zürich 1987, 236).

Die von Frankl begründete Logotherapie ist eine sinnzentrierte Therapie, die davon ausgeht, dass der Mensch als geistiges Wesen fähig ist und gar oft gedrängt wird, nach dem Wozu seines Seins, seines Leidens, seiner Arbeit usw. zu fragen. Um nur eine Gleichung zu erwähnen: "Ich bin arbeitslos, folglich bin ich nutzlos, folglich ist mein Leben sinnlos!" Diese stimmt so nicht, wie in zahlreichen wissenschaftlichen Studien klar belegt wurde. "Es gibt also", wie Frankl in einem Beitrag dargelegt hat, "nicht nur einen Hunger nach Brot, sondern sehr wohl auch einen Hunger nach Sinn!" Und nach dem, was diesen Sinn ausmacht. Die Frage nach dem Wozu des Hierseins vernachlässigt man zu sehr. 

 

 

 

Giosch Albrecht

Dr. Giosch Albrecht ist Gründer und ehemaliger Leiter des Schweizerischen Instituts für Logotherapie und Existenzanalyse in Chur. Vgl. www.logotherapie.ch