Wozu sich der Mensch entscheiden muss

Versöhnung und Vergebung sind unbequem. Mitten im Leben befassen wir uns damit am ehesten inmitten von Leidensdruck. Oder wo wir einen neuen Lebensabschnitt antreten. Anders ist es, wenn es aufs Sterben zugeht.

In meiner therapeutisch-spirituellen Begleitung Schwerkranker und Sterbender am Kantonsspital St. Gallen fiel mir auf, dass es bei Gläubigen wie Nicht-Glaubenden ein inneres Drängen nach Versöhnung auf den Tod hin gibt. Und dass oft genau dann gestorben werden kann, wenn dies erfolgt ist. Auch wurde ich auf eine bei vielen einbrechende Hoffnungs- oder Liebeserfahrung aufmerksam, die Vergebung und Versöhnung überhaupt erst ermöglichte. Solche Beobachtungen veranlassten mich, mit einem Forschungsteam1 bei 50 Sterbenden Prozesse der Versöhnung und Vergebung zu beobachten. Alle bekundeten grosse Konflikte mit einem Menschen, mit sich und/oder mit Gott bzw. dem Schicksal.

Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt

• Gross war meine Überraschung, dass bei 49 von 50 auf ihren Tod zugehenden Patientinnen und Patienten zumindest einmal Versöhnung stattfand; meist als Frucht intensiver Prozesse. 45 starben in einem versöhnten Zustand. Das ist fast unglaublich. Und doch nicht. Die Todesnähe mobilisiert. Es gab aber auch Unterschiede. Unvergesslich sind für mich jene, die sterbend den Raum mit Frieden erfüllten.

• Versöhnung und Vergebung geschah als Prozess, oft in mehrfachem Vor und Zurück. Ich spreche von Phasen, ähnlich und anders als E. Kübler-Ross: Vermeidung, Zuspitzung, Hoffnungserfahrung, Entscheidung, Versöhnung/Vergebung. Das Phasenmodell ist nicht absolut zu nehmen, es hilft zu verstehen.

• Hoffnungserfahrungen markieren Wendepunkte: Sie können begriffen werden als Gnaden- oder Glücksmomente, in welchen etwas so tief berührt, dass es sich in den Betroffenen zu erweichen oder zu öffnen beginnt. Das kann eine Liebeserfahrung oder Würdigung sein. Eine Patientin hörte in einem Traum die Worte «Du bist wichtig im Garten Gottes» und sah sich darin jäten. Andere überkommt eine Glückserfahrung in der Natur, ob eines Anrufs eines Freundes oder einer Würdigung vonseiten eines Kindes. Eine neue Energie ist da, vielleicht die Gnade zur Vergebung. Was können wir Therapeutinnen und Therapeuten sowie Seelsorgende dazu beitragen, dass sich solche Glücksmomente bei den uns Anvertrauten ereignen? Ich brachte auch schon eine Blume ans Krankenbett oder schlug vor: «Versuchen Sie heute, einfach offen zu sein für das, was Ihnen Gutes entgegenkommt.» Ich empörte mich stellvertretend, wo sich andere nicht empörten. Oder ich schaffte die Verbindung zu einem Angehörigen, der eine Begegnung mit dem Sterbenden lange verweigert hatte. Oft sind es Dritte, deren Einsatz eine neue Hoffnung auslöst: ein tiefes Verstanden-Sein. In der Patientin, im Patienten kann das in eine tiefe Liebes- oder Gotteserfahrung münden.

• Zur Vergebung und Versöhnung muss man sich entscheiden und einen ersten Schritt wagen. Eine Patientin, für die Gott kein Thema war, wollte es auf meinen Vorschlag hin «mit Gott versuchen» und Gott ihre Schmerzen zeigen: «Beten geht nicht, aber das geht.» Später erlebte sie Gott als «irgendwie anwesend» und war erstaunt.

Von allen wird Versöhnung abverlangt

Worin liegt der Unterschied zwischen Versöhnung und Vergebung? Gibt es Unterschiede im Prozess, je nachdem, ob wir es mit einem Opfer und oder einem Täter zu tun haben? Darf man so fragen? Dieses Thema möchte ich nicht unausgesprochen lassen. Versöhnung und Vergebung werden beiden abverlangt: uns allen, in der Opfer- wie in der Täterposition. Die Herausforderungen aber sind verschieden.

Rechtsprechung steht uns nicht zu. Das hebräische chafat hiess schon zu Zeiten der Erzväter: Gott ist der Richter. Wir können aber auf Gott setzen, wir können staunen, aktiv leiden und Eucharistie feiern. Dieser Ritus ist, wenn vom Einzelnen nachvollzogen, genial für Erlösung aus der Täterposition, das erläutere ich in meinem Buch zum Thema. In der Opferposition aber berührt er oft nicht – noch nicht.

Monika Renz

 

1 Das Forschungsteam bestand aus Ärzten, Pflegenden und therapeutisch-spirituellen Begleiterinnen und Begleitern.

Literaturhinweise:

  • Renz, Monika, Versöhnung und Vergebung. Wie Prozesse der Befreiung im Leben und im Sterben möglich werden, Freiburg i. Br. 2019.
  • Renz, Monika, Ich träume von einer Kirche der Hoffnung, Freiburg i. Br. 2020.

 


Monika Renz

Dr. phil. Dr. theol. Monika Renz studierte pädagogische Psychologie, Psychopathologie und Musikethnologie an der Universität Zürich sowie Theologie an den Universitäten Innsbruck und Freiburg i. Ü. Sie ist seit 1998 Leiterin der Psychoonkologie am Kantonsspital St. Gallen. Sie forscht und publiziert in den Bereichen Sterben, Spiritualität und tiefenpsychologische Exegese.