erfahBleibende Sehnsucht nach Vergebung

Schuld und Versagen sind Themen der Öffentlichkeit geworden. Die Menschen sehnen sich nach Vergebung und einem Neuanfang. In der evangelischen Kirche wird die Beichte im 20. Jahrhundert neu entdeckt.

Jahrzehntelang wurde die Schuld aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt: Man denke nur an die Waschmittelreklame der 1960er-Jahre, in denen Hausfrauen aufgrund des Gebrauchs des richtigen Waschmittels ein gutes Gewissen verheissen wurde. Seit einigen Jahren zeichnet sich jedoch eine Veränderung der gesellschaftlichen Gemütslage ab: Im Gefolge des Scheiterns der modernen Utopien von einer neuen Gesellschaft und einem neuen Menschen ist die Rede von Schuld und Versagen in den öffentlichen Raum zurückgekehrt. Ja, es ist geradezu modern geworden, in der Öffentlichkeit Schuld zu bekennen, und zwar individuelle und kollektive gleichermassen. Das Thema Schuld und Entlastung, das ursprünglich im Raum der Religion beheimatet war, wird an säkularen Orten aufgegriffen und thematisiert. Aber auch in der evangelischen Theologie und Kirche scheint sich eine Renaissance der Beichte zu ereignen. Es gibt offensichtlich sowohl bei einzelnen Menschen als auch bei ganzen Gesellschaften die Sehnsucht nach Entlastung und Entschuldigung, nach der Chance eines Neuanfangs.

Das Ziel der folgenden Überlegungen besteht darin, zu zeigen, dass im Bekennen von Schuld und Versagen vor Gott eine Lebenskraft verborgen liegt, die heute weithin unbekannt ist und deshalb ungenutzt bleibt. Ansatzpunkt ist dabei die Überzeugung, dass Schuldbekenntnis und Vergebungszusage Zeichen menschlicher Würde darstellen. Schuldig zu werden gehört zum Menschsein. Ich nehme mein Leben ernst, indem ich meine Schuld eingestehe. Schuld zu leugnen, zu bagatellisieren oder zu verdrängen, bedeutet demgegenüber eine Missachtung meines Menschseins. Das Stehen zu meinem Sündersein in der Beichte ermöglicht mir die Einkehr in eine Selbstbegrenzung, die mir letztlich zugutekommt.

Therapie anstelle der Beichte

Kein Mensch kann leben, ohne von Zeit zu Zeit Entlastung von Schuld und Versagen zu erfahren: Ohne Aussprache, Annahme und Entlastung keine seelische Gesundheit! Das belegen nicht nur Talkshows mit ihren Geständnissen vor Millionen, sondern auch die überfüllten Praxen von Therapeutinnen und Therapeuten der unterschiedlichsten Schulen. «Ein Katholik hat die Beichte … Ich habe bloss meinen Hund», schrieb Max Frisch in seinem Roman «Mein Name sei Gantenbein». Tatsächlich wird die Einzelbeichte im evangelischen Raum gegenwärtig kaum wahrgenommen. Vielen evangelischen Christinnen und Christen ist sie nicht einmal bekannt, ja, sie wird von vielen als konfessionsunterscheidendes Merkmal missverstanden. An ihre Stelle ist inzwischen nicht nur beim Protestanten, sondern auch beim Katholiken der Besuch des Therapeuten bzw. der diakonischen Beraterin getreten. Diese gelten als die kompetenteren Gesprächspartnerinnen und -partner: Von ihnen wird eher als von Seelsorgenden erwartet, dass sie aufgrund ihrer Ausbildung vorurteilsfrei zuhören können und die komplizierten Reaktionsmechanismen der menschlichen Seele zu enträtseln vermögen.

Dennoch scheint die Therapie Menschen nicht zu genügen. Obwohl die Beichte selbst von Joachim Scharfenberg, einem prominenten Vertreter der kirchlichen Seelsorge in den 1970er Jahren, totgesagt wurde, erlebt sie seit einiger Zeit eine Renaissance. Bücher zum Thema Beichte finden auch ausserhalb von Kirche und Theologie in den säkularen Medien Resonanz. Immer wieder werden Diskussionssendungen über den Umgang mit Schuld und Versagen im Radio ausgestrahlt. Der christliche Beitrag zur Frage nach der Entlastung von Schuld ist wieder gefragt. Während Therapien die Hintergründe von Schuld und Schuldgefühlen analysieren und so verstehen helfen, geht es in der Beichte darum, dass Menschen Vergebung ihrer Schuld erfahren. Die Beichte eröffnet einen Weg, auch dann mit Schuld und Versagen fertig zu werden, wenn sie nicht wiedergutgemacht werden können.

Das Plus der Beichte

Dabei wirkt sich die Beichte in mehrfacher Weise positiv auf die seelische Gesundheit aus. Untersuchungen über die Häufigkeit psychosomatischer Erkrankungen legen nahe, dass Christinnen und Christen, die regelmässig die persönliche Beichte in Anspruch nehmen und sich aktiv am Gemeindeleben beteiligen, weniger seelisch erkranken als andere. Der Arzt und Psychotherapeut Paul Tournier meinte schon vor vielen Jahren, dass Beichte und Umkehr auf dem Weg zu seelischer Gesundheit die wichtigsten Schritte seien. Durch die Möglichkeit, Schuld einzugestehen, gibt die Beichte dem Menschen seine Verantwortlichkeit zurück. Das führt zur Stärkung des Selbstwertgefühls. In der Selbsterkenntnis liegt auch für viele Therapien ein wichtiges Moment der Personwerdung. Das Bekenntnis zum eigenen schuldhaften Handeln führt psychologisch gesprochen zur Integration verdrängter Persönlichkeitsanteile, stellt mithin einen Akt der Reife dar. Die Beichte vermag auf diese Weise, Menschen «Mut zum Selbst» (Carl R. Rogers) zu machen, wie es in der Seelsorgebewegung früher formuliert worden ist. Indem Seelsorge und Beichte einen geschützten Raum bieten, in dem Nöte, Probleme und belastende Emotionen ausgesprochen werden können, kann sich die Persönlichkeit der Ratsuchenden entfalten und weiterentwickeln.

Der Zuspruch der Vergebung in der Beichte besitzt ausserdem einen kathartischen Effekt. Viele Menschen leiden darunter, dass sie selbst und die Welt um sie herum nicht so sind, wie sie sein sollten. Sie erkennen, dass sie hinter den Ansprüchen an sich selbst zurückbleiben und ein unheilvoller Riss durch die gesellschaftlichen Verhältnisse geht! Gleichzeitig ist in den vergangenen 300 Jahren das Angebot des Evangeliums, dass Gott bereit ist, um Jesu Christi willen Menschen die Sünden zu vergeben, mehr und mehr in Vergessenheit geraten oder für unzeitgemäss erklärt worden. Beides – die Erkenntnis des persönlichen und des gesellschaftlichen Fehlverhaltens bei gleichzeitiger Verdrängung des vergebungsbereiten Gottes aus dem öffentlichen Bewusstsein – hat nach Überzeugung des bekannten Philosophen Odo Marquard den neuzeitlichen Menschen in eine prekäre Lage gebracht. Er muss mit seiner Schuld und Schuldverflochtenheit selber fertig werden und findet sich als Konsequenz in einer «Übertribunalisierung» seiner Lebenswirklichkeit vor. Weil er die Entlastung durch die göttliche Vergebung nicht mehr kennt, ist er selbstverantwortlich für alles, was im persönlichen und gesellschaftlichen Leben misslingt. Die Beichte stellt angesichts dieser Situation einen Weg zu innerer Entlastung dar.

Die Beichte neu entdeckt

Schon in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sind einzelne Gruppen im deutschsprachigen Protestantismus zu der Überzeugung gelangt, dass ihm mit dem Verlust der Einzelbeichte eine wesentliche Lebensäusserung verloren gegangen ist. Nicht zuletzt Dietrich Bonhoeffer gehört zu den Pionieren der evangelischen Beichte im vergangenen Jahrhundert. Das Neue seines Ansatzes bestand darin, dass es ihm darum ging, die Beichte für die gesamte Kirche wiederzugewinnen, und dass er sie nicht nur als Angelegenheit einer mehr oder weniger privaten Bewegung betrachtet wissen wollte. Als Direktor eines Predigerseminars der Bekennenden Kirche und als Leiter der damit verbundenen Bruderhaus-Kommunität in Finkenwalde bei Stettin (1935–1937) ermunterte Bonhoeffer die Vikare zur persönlichen Beichte untereinander und beichtete selber bei einem von ihnen. Schriftliches Zeugnis dieser Bemühungen ist sein Buch «Gemeinsames Leben».

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich diese Ansätze zur Erneuerung der Beichte noch verstärkt. Der damals gegründete Deutsche Evangelische Kirchentag entdeckte die Einzelbeichte wieder. Aus den Kirchentagsprotokollen der Nachkriegszeit wird ersichtlich, dass viele Kriegsheimkehrer die Möglichkeit zur persönlichen Beichte genutzt haben. Heute sind neben den Kirchentagen vor allem die verschiedenen, seit dem Zweiten Weltkrieg entstandenen evangelischen Kommunitäten Orte, an denen die Einzelbeichte angeboten und von einer grösseren Anzahl evangelischer Christen praktiziert wird. In Taizé fällt nach dem Abendgebet auf, dass sich in der grossen Kirche junge Menschen in langen Schlangen bei einzelnen Brüdern zu Aussprache und Beichte anstellen. Aus meiner früheren Tätigkeit als Pfarrer einer evangelischen Kommunität weiss ich, dass eine Reihe von Freunden und Tagungsgästen regelmässig bei einzelnen Mitgliedern der Gemeinschaft beichtete.1

Peter Zimmerling

 

1 Die voranstehenden Gedanken habe ich ausführlich entfaltet in meinem Buch: Beichte. Gottes vergessenes Angebot, Giessen 32018.

 


Peter Zimmerling

Prof. Dr. Peter Zimmerling (Jg. 1958) studierte evangelische Theologie in Tübingen und Erlangen. Er promovierte 1990 bei Jürgen Moltmann zu Zinzendorfs Trinitätslehre. Er ist seit 2005 Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Seelsorge und Spiritualität an der Universität Leipzig und seit 2009 Domherr zu Meissen. Er war von 2012 bis 2020 Erster Universitätsprediger in Leipzig.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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