Wohl der Schwachen - Stärke der Gemeinschaft

24. Sonntag im Jahreskreis: Sir 27,30–28,7, Röm 14,7–9, Mt 18,21–35

Am Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag laden uns die Bibeltexte ein, über Vergebung nachzudenken. In Sir 28,2 klingt schon die Vater-Unser-Bitte an: «Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern». Der Text des Evangeliums bildet den Abschluss einer Reihe von Hinweisen und Richtlinien für das Zusammenleben in der Nachfolge Jesu. Was kann er uns heute sagen für das Zusammenleben in unserem Gemeinwesen, in unserem Land?

Wohl der Schwachen – Indikator für Stärke der Gemeinschaft

Die Präambel der Bundesverfassung hält die grundlegenden Werte für das Zusammenleben in unserem Bundesstaat fest. Herausgreifen möchte ich die folgenden Worte: «Gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.» Sie drücken ein Kernanliegen der christlichen Botschaft aus.

So beginnt die Rede Jesu in Mt 18 damit, dass dieser ein Kind in die Mitte stellt. In dem neuen Gemeinwesen, das er verkündet – dem Himmelreich –, stehen die Kleinen, die Armen, die Schwachen im Zentrum. Das Verhalten ihnen gegenüber wird über Jesu Tod hinaus zum Masstab der Verbundenheit mit ihm. Von da aus werden die Beziehungen in der Jüngergemeinschaft geregelt. Hier stellt sich dann auch die Frage nach der Vergebung. Sie ist realistisch. Die Jünger und Jüngerinnen haben einander nicht ausgesucht. Sie sind zusammen, weil jeder von ihnen Jesus nachgefolgt ist. Konflikte sind vorprogrammiert. Wird diese Gemeinschaft tragfähig sein, wenn er, dessen Autorität von allen anerkannt wird, nicht mehr sichtbar unter ihnen weilt? Heute, 2000 Jahre später, können wir sagen: Sie war es. Und angesichts der Gewalt, die die Geschichte der Kirche ebenfalls durchzieht, dürfen wir annehmen, dass Vergebung dabei eine wichtige Rolle gespielt hat.

Im Laufe der Jahrhunderte hat die Kirche eine erstaunliche Innovationsfähigkeit an den Tag gelegt. Ich denke an die verschiedenen Orden, religiösen Gemeinschaften und Bewegungen, deren Gründer und Gründerinnen die Verbundenheit mit den Armen, den Kleinen, den Schwachen je für ihre Zeit konkretisiert und damit grundlegend zur Erneuerung von Kirche und Gesellschaft beigetragen haben, namentlich auch an Père Joseph Wresinski.

Vergebung

Zurück zum Zusammenleben in unserem Land. Als Bundesrätin Simonetta Sommaruga vor vier Jahren die ehemaligen Verding- und Heimkinder, administrativ Versorgten, Zwangssterilisierten und anderen Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen im Namen der Landesregierung um Entschuldigung bat für das Leid, das ihnen angetan wurde, hat sie ganz im Sinne der Präambel unserer Bundesverfassung gehandelt. Sie hat ihre Freiheit gebraucht, um ein schwieriges Dossier aufzugreifen, sie hat die Opfer rehabilitiert und einen umfassenden Aufarbeitungsprozess in Gang gesetzt. Damit konnte sie das Geschehene nicht ungeschehen machen, aber unser Land sieht heute der Tatsache ins Auge, dass es in seiner jüngsten Geschichte um das Wohl der Schwachen nicht gut bestellt war.

Freiheit

Und wie steht es heute um dieses Wohl? Wie ernst nehmen wir zum Beispiel im Umgang mit Ärmeren, Kleineren, Schwächeren den ersten Teil der Aussage in der Präambel? Ohne Freiheit gibt es keinen Dialog, keine Partizipation und auch keine Möglichkeit, zu vergeben. Menschen in prekären finanziellen Verhältnissen erleben aber bis heute, dass ihnen praktisch keine Freiheit bleibt. «Sie sind dabei, uns zu ersticken», sagte mir kürzlich eine Frau. In ihrem abgelegenen Haus ohne Komfort erfindet sie tausend Wege, um leben zu können, und gerät dabei mit Bestimmungen der Behörden in Konflikt, die sie bei bestem Willen nicht einhalten kann – etwa im Bereich des Tierschutzes. Dabei liebt sie ihre Tiere und hält sie so gut, wie es mit ihren äusserst knappen Mitteln möglich ist.

Wer von finanzieller Unterstützung abhängig ist und Initiativen ergreift, um nicht untätig zu sein, steht schnell in Verdacht, zu betrügen. Die ständige Rechenschaftspflicht lastet schwer. Dabei wäre es doch zuerst an unserer Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass jeder und jede, der/die arbeiten will, auch Arbeit erhält, inklusive Sozialversicherungen und mit einem Lohn, der zu einem menschenwürdigen Leben reicht.

Im Hinblick auf solche Situationen wirft der Text von Père Joseph Wresinski (Kasten) überraschendes Licht auf unseren Evangeliumstext. Er ermutigt uns, gemeinsam nach Wegen zu suchen, damit auch der Ärmste an einen barmherzigen Gott glauben kann. In Hinblick auf die Kirche wäre die Fähigkeit, Gott gemeinsam zu danken, weil wir alle seine Barmherzigkeit konkret erfahren haben, dann vielleicht auch ein Massstab für unsere Stärke als Volk Gottes.

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«Menschen, die ständig ins Unrecht gesetzt werden, die immer wieder Anlass haben, sich ihrer eigenen Schwächen zu schämen, wollen an einen Gott der Barmherzigkeit und der Vergebung glauben. Wir aber übersehen fast systematisch ihre Anläufe und Anstrengungen, es immer wieder nochmals miteinander zu versuchen; wir werfen ihnen pausenlos einen Mangel an menschlichen Qualitäten vor. Dadurch schwächen wir sie noch mehr und machen ihnen das Leben zur Hölle. Wir hindern sie daran, an einen guten Gott zu glauben, der vergibt. Wenn wir auch nur eine Unze Menschlichkeit hätten, würden wir erkennen, dass wir selber durch das Leben, das wir ihnen auferlegen, das Beste in ihnen zerstören. Wir haben sie in ein Ghetto der Mittelmässigkeit gesperrt: Sozialsiedlungen, gesundheitsschädigende Arbeit, ein lächerlicher Lohn … Wir haben ihnen verweigert, was es braucht, um anständig, solidarisch in gegenseitiger Achtung und Vertrauen leben zu können. Wann werden wir verstehen, dass das erste Recht, das wir für sie anerkennen müssen, das Recht auf Vergebung ist?» Joseph Wresinski, Die Armen sind die Kirche: Gespräche mit Joseph Wresinski über die Vierte Welt, Zürich 1998, 92 f.

 

Marie-Rose Blunschi Ackermann

Dr. theol. Marie-Rose Blunschi Ackermann ist Mitarbeiterin der Bewegung ATD Vierte Welt in deren Schweizer Zentrum in Treyvaux.