«Wo sind die anderen neun?»

28. Sonntag im Jahreskreis (9. Oktober) 2 Könige 5, 14–17; Lk 18, 1–8

Die Leseordnung verbindet die Geschichte von der Heilung der zehn Aussätzigen mit der Geschichte von der Heilung des Naaman im Buch der Könige. Das Evangelium selber legt diesen Zusammenhang nahe: «Viele Aussätzige waren in Israel zur Zeit des Propheten Elischa. Keiner von ihnen wurde rein – nur Naaman, der Syrer», (Lk 4,27) sagt Jesus zu Beginn seines öffentlichen Auftretens – und zieht sich damit die Wut der Synagogenbesucher in seiner Heimatstadt Nazareth zu.

Die Sklavin des Naaman, eine Friedensstifterin

Es lohnt sich, die Geschichte des Naaman im Buch der Könige nachzulesen. Der Gott Israels wirkt unter den Völkern. Er hat dem Feldherrn des Königs von Aram zu seinen Siegen verholfen. Nachdem dieser durch ein Bad im Jordan von seiner Hautkrankheit geheilt worden ist, kehrt er mit seinem ganzen Gefolge zu Elischa zurück. Er findet einen Weg, dessen Gott die Ehre zu erweisen, ohne die Loyalität zu seinem eigenen Volk und seinem König zu verraten. Er vertraut darauf, dass JHWH Verständnis haben wird, wenn er sich in Ausübung seines Amtes auch weiterhin im Tempel Rimmons niederwirft.

Das Buch der Könige sagt nichts darüber, was aus der aus Israel verschleppten Sklavin geworden ist, die Naaman den Tipp gegeben hat, bei dem Propheten in ihrer Heimat Heilung zu suchen. Als junges Mädchen wurde sie von den Aramäern aus ihrer Heimat verschleppt. Sie ist eine der namenlosen Friedensstifterinnen, die im Laufe der Geschichte Gewaltspiralen durchbrochen und der Menschheit in ihrer Suche nach Freiheit von Furcht und Not neue Möglichkeiten eröffnet haben.1

Mangelnde Dankbarkeit?

Von zehn Aussätzigen, die Jesus heilt, kehrt einer zu ihm zurück, um Gott zu loben und ihm zu danken. Weshalb zeigen die übrigen neun keine Dankbarkeit für ihre Heilung? Joseph Wresinski, der den Text mit den Augen der Armen liest, wirft die Frage auf, welchen Empfang die Priester und ihre Umgebung den Geheilten wohl in der Synagoge bereitet haben.

«Da sind schon wieder so lästige Kerle, Unreine, die behaupten, von Jesus geheilt worden zu sein! Wird er denn nie aufhören, uns zu stören, uns zu belehren und Zweifel an unserer Autorität zu wecken? Zeigt euch einmal mit eurer angeblichen Heilung! Ihr werdet uns doch nicht sagen, dass ihr durch ein Wunder rein geworden seid. Das geht nicht so einfach, wir müssen das genauer anschauen, wir werden abwarten, ob es sich bestätigt. Ihr werdet doch nicht behaupten, dass dieser Jesus euch nur zu sagen braucht: ‹Geht, zeigt euch den Priestern!›, und schon seid ihr rein? Hat er euch nur berührt, oder hat er euch ein Mittel gegeben? Der Empfang ist skeptisch, gereizt, gerade weil die Berichte von den Heilungen in der Synagoge und im Tempel jedes Mal Verlegenheit hervorrufen. Ich habe dieses Misstrauen oft angetroffen, als sei es den Ärmsten verboten, Glück zu haben. ‹Es muss etwas faul sein an der Sache›, sagte man mir eines Tages angesichts einer Familie, die aus einer Notsiedlung wegzog. Ausser sich vor Freude, überliess sie den Nachbarn ihre wenigen abgenutzten Möbel. Das ‹Faule› daran war eine winzige Erbschaft. Aber was gewisse Leute aus der Fassung zu bringen, ja sogar zu empören schien, war, dass diese Familie glücklich und mit einem Mal unabhängig war, nachdem sie jahrelang nur mit Unterstützung überlebt hatte.»2

Rehabilitierung

«Es sind doch alle rein geworden!» Das könnten wir heute von den Menschen sagen, die in der Schweiz bis 1981 Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen geworden sind. Jahrzehntelang wurde ihnen nicht geglaubt, viele schämten sich oder fühlten sich schuldig. Nun werden sie rehabilitiert. Das Gesetz, das voraussichtlich im nächsten Frühjahr in Kraft treten wird, anerkennt, dass diesen Menschen Unrecht angetan worden ist, «das sich auf ihr ganzes Leben ausgewirkt hat».

Die Aufarbeitung dieser Geschichte zusammen mit den Betroffenen ist eine historische Chance, um der Diskriminierung und Ausgrenzung der Armen in unserem Land ein Ende zu setzen. Es braucht aber einen enormen Einsatz, damit sich wirklich alle Betroffenen über die Rehabilitierung freuen und ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen können. «Wir werden weiterhin kontrolliert und müssen über alles Rechenschaft ablegen», sagte eine Frau in einer Debatte. Aufgrund der Armut werden weiterhin Kinder von ihren Familien getrennt. Wie viel Mut werden Menschen aufbringen müssen, die von der Sozialhilfe abhängig sind oder eine IV-Rente beziehen, um den ihnen zustehenden Solidaritätsbeitrag anzufordern? Wird ihnen nicht Misstrauen entgegenschlagen, wenn sie plötzlich über Geld verfügen? Und wird man nicht wieder Rechenschaft fordern, ob sie es auch vernünftig ausgeben?

Machen wir uns die Frage von Joseph Wresinski zu eigen: «Was habe ich selber getan, damit die Dankbarkeit der Armen zum Ausdruck kommt und niemals lächerlich gemacht, erstickt oder in Bitterkeit verwandelt werden kann?»

 

1 Siehe dazu zwei Beiträge in Bibel und Kirche 2/2016 Grenzen und Grenzgänge.

2 Joseph Wresinski, Selig ihr Armen, Lit Verlag Münster 2005, S. 91f.

Marie-Rose Blunschi Ackermann

Dr. theol. Marie-Rose Blunschi Ackermann ist Mitarbeiterin der Bewegung ATD Vierte Welt in deren Schweizer Zentrum in Treyvaux.