Wo sich die Wasserfälle kreuzen

Hinter den Geleisen von Biasca TI erhebt sich steiles, felsiges Gelände. Ein ungestümer Bergbach strömt den Hang herab und bildet einen höchst merkwürdigen Wasserfall. Oberhalb steht schon seit 1000 Jahren ein Kirchlein, der heiligen Petronilla geweiht.

Simon von Kyrene hilft Jesus von Giuseppe Bolzani. (Bild: Andreas Keller)

 

Zu den Attraktionen, die den Reisenden des nun von der SOB betriebenen Treno Gottardo über die Gotthard-Bergstecke vorgeschlagen werden, gehört eine kurze Wanderung oberhalb von Biasca, die bei den für Zugreisende immer wieder dominant erscheinenden beiden Wasserfällen oberhalb des Bahnhofsgebäudes endet. Es ist ein Kreuzweg, der seit 1799 besteht und der die frühere Hauptkirche der Täler des Nordtessins, die romanische Kirche San Pietro e Paolo, mit einer der heiligen Petronilla gewidmeten Kapelle bei den Wasserfällen verbindet.

Die drei Täler Riviera, Leventina und Blenio waren historisch lange Herrschaftsgebiet von Mailänder Familien und deshalb auch kirchlich den Mailänder Domherren zugeordnet. Davon zeugt bis heute, dass im Gebiet zwischen Arbedo, Airolo und Olivone der ambrosianische (Mailänder) Ritus und nicht der römische gefeiert wird. Man vergleiche Details dazu in den Artikeln der SKZ 16/2019 und 17/2019.

1998 wurden die längst verblassten Kreuzwegstationen von vier zeitgenössischen Künstlern (Giuseppe Bolzani, Max Läubli, Giancarlo Tamagni und Mauro Valsangiacomo) als Steinfresken, teilweise in Farbe, teilweise in Weiss-Grau, neu gestaltet und mit entsprechenden Bibelzitaten unterlegt. Die zu jeder Jahreszeit schöne Wanderung beansprucht ohne Zwischenhalte nicht länger als etwa 25 Minuten für den Hin- und Rückweg. Sie muss aber erdauert werden, weil der Zugang mitten im Dorf Biasca liegt und nicht beim Bahnhof beginnt. Wer mit dem öV anreist, ist deshalb gut beraten, mit dem Bus bis zur Haltestelle Centro/Borgo zu fahren und via die neue Pfarrkirche San Carlo aufzusteigen. San Pietro e Paolo ist tagsüber geöffnet und gut auch auf Deutsch dokumentiert.
Die 14 Stationen des Kreuzwegs folgen nicht dem klassischen Ablauf, sondern sind bibeltheologisch durchdacht:1

  1. Das Ostermahl und die Fusswaschung
  2. Gethsemane – Trauer und Verzagtheit, der Verrat Judas, die Gefangennahme
  3. Die Verurteilung durch den Hohen Rat, der Verrat des Petrus
  4. Das Gericht vor Pilatus
  5. Geisselung und Dornenkrönung
  6. Jesus nimmt das Kreuz auf
  7. Simon von Cyrene hilft Jesus
  8. Begegnung mit den Frauen
  9. Die Kreuzigung
  10. Die Vergebung für den reumütigen Schächer
  11. Die Mutter und der Jünger zu Füssen des Kreuzes
  12. Der Tod am Kreuz
  13. Die Abnahme vom Kreuz und die Grablegung
  14. Die Auferstehung


Am Ende des Kreuzwegs wartet die Steinbrücke über die Cascata und öffnet den Blick der Besuchenden weit über die Talebene samt Neat-Neustrecke und Autobahn.

Heinz Angehrn

 

1 Bilder/Erklärungen zu den einzelnen Stationen des Kreuzwegs: www.kirchen-online.com

 


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.