Weitere Meilensteine folgten

Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde in der Schlussabstimmung «Nostra Aetate» klar angenommen. Thomas Schaffner blickt auf das Konzil und die Schritte der Versöhnung und Partnerschaft danach.1

1960 hatte Kardinal Bea von Papst Johannes XXIII. im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils den Auftrag erhalten, ein Konzilsdokument auszuarbeiten für einen neuen Umgang mit den Juden, abgestützt auf jene biblischen Stellen, die unter anderen das Judentum als Wurzelgrund des Christentums würdigten, etwa mit dem paulinischen Bild, dass die Kirche «genährt wird von der Wurzel des guten Ölbaums» (Röm 11,17–24).

Trotz aktiver Gegner ein klares Ja

Da zwei der vier Mitglieder, die den ersten Entwurf verfertigten, konvertierte Juden waren, Gregory Baum und Johannes Oesterreicher, hatten die doch zahlreichen Gegner einer Versöhnung mit dem Judentum unter den Konzilsvätern die gewünschte Munition, um gegen das Anliegen zu polemisieren. Eine Versöhnung bedeutete für diese Traditionalisten, die Axt an drei der Grundpfeiler der katholischen Kirche zu legen: die Heilige Schrift, die Tradition und Konzilsentscheide. Denn effektiv negierte die Gruppe um Kardinal Bea judenfeindliche Konzilsbeschlüsse wie jene von Florenz aus dem 15. Jahrhundert, auch stellten sie die Kirchenväter des 3. und 4. Jahrhunderts bezüglich ihrer judenfeindlichen Aussagen ins Unrecht, und biblisch fokussierten sie ganz auf die judenfreundlichen Stellen im Neuen Testament und liessen die judenfeindlichen, in einen historischen Kontext gestellt, in den Hintergrund treten. Die Traditionalisten liessen verschwörungstheoretische Schriften wie die üble antisemitische Schmähschrift «Die Protokolle der Weisen von Zion» in Umlauf bringen, die Behandlung des Entwurfs wurde verzögert. Es kam zu Mord- und Bombendrohungen. Umso erstaunlicher, dass es dann doch in der letzten Konzilssession im Herbst 1965 zur Schlussabstimmung kam. Das Ergebnis war sensationell: 96 Prozent der wichtigsten Vertreter der katholischen Weltkirche stimmten mit Ja. Zwar war die endgültige Version des Dokuments im Vergleich zur Version von 1964 arg verwässert, dennoch war es gelungen, ein Dokument zu verabschieden, das «in kaum 500 Worten ein zweitausend Jahre altes Problem behandelt», wie Kardinal Bea es ausdrückte.

Und wie reagierten die Vertreter des Judentums? Nahum Goldmann, der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, bedauerte, dass die verabschiedete Erklärung weniger günstig ausgefallen sei, als sie erhofft hätten, aber dennoch sei sie von grosser historischer Bedeutung. Gerhart M. Riegner, der Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses bezeichnete Nostra Aetate gar als das wichtigste Dokument des 20. Jahrhunderts.

Bitten um Vergebung

Wichtige Meilensteine in der weiteren Versöhnungsarbeit waren die Besuche von Päpsten in Synagogen, angefangen mit jenem von Johannes Paul II. in der Synagoge in Rom im Jahre 1986. Es folgten Schulderklärungen von nationalen Bischofskonferenzen, die die Kirche als Institution, und das war neu, als sündig und der Umkehr bedürftig bezeichneten. Auch die Mitschuld an Auschwitz wurde thematisiert. 1993/94 wurde der Grundlagenvertrag zwischen dem Vatikan und Israel unterzeichnet und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vereinbart. Im Jahr 2000 kam es zur grossen Vergebungsbitte Johannes Paul II. Im gleichen Jahr besuchte er Yad Vashem, die israelische Gedenkstätte für die Opfer der Shoah, und betete an der Klagemauer.

Aber auch auf jüdischer Seite wurden Erklärungen verabschiedet, so als erste im Jahre 2000 eine von jüdischen Gelehrten aus den USA und Kanada mit dem Titel «Dabru emet», «Sprecht Wahrheit», die betonte, man solle das Versöhnungsanliegen der Kirche nach Nostra Aetate ernst nehmen und auf den angebotenen Dialog eintreten.

Entwicklungen im interreligiösen Dialog

Anlässlich des 60. Jahrestages der wegweisenden Konferenz von Seelisberg veröffentlichte der Internationale Rat der Christen und Juden im Jahre 2009 ein «Update» der Thesen von 1947. Darin wurden nun erstmals auch die Juden und die jüdischen Gemeinden aufgefordert, anzuerkennen, dass viele christliche Gemeinden nach der Shoah ihre Einstellungen gegenüber Juden geändert hatten; auch die jüdischen Texte und die jüdische Liturgie im Licht dieser christlichen Reformen neu zu überdenken; zwischen fairer Kritik an Israel und Antisemitismus zu unterscheiden und den Staat Israel darin zu ermutigen, darauf hinzuarbeiten, die in seinen Gründungsdokumenten formulierten Ideale zu verwirklichen – eine Aufgabe, die Israel mit vielen Völkern der Welt teile.

Als eigentlicher Durchbruch im interreligiösen Dialog zwischen Christen und Juden – über 40 Jahre nach Nostra Aetate – dürfen die ersten Verlautbarungen aus jüdisch-orthodoxen Kreisen gelten. Nach zwei Texten des orthodoxen Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation (CJCUC) in Efrat und Jerusalem von 2011 und 2015 gab 2017 das Rabbinat der israelitischen Kultusgemeinde Wien einen Text heraus, der vom Rabbinat Council of America, der Conference of European Rabbis und dem Chief Rabbinate of Israel verfasst worden war. Das Dokument trägt in der deutschen Übersetzung den Titel «Zwischen Jerusalem und Rom – Gedanken zu 50 Jahre Nostra Aetate».

Dieser Text betont, dass die Juden lange Zweifel gehegt hätten, ob es die Kirche mit dem Versöhnungsangebot wirklich ernst meine. Zwar seien die theologischen Unterschiede zwischen den beiden Religionen unüberbrückbar. So sei für die Juden Jesus als Messias und zweite Person des dreieinen christlichen Gottes nicht annehmbar. Aber die Christen würden den Gott Israels verehren und hätten diesen Glauben weitergegeben an die Welt. Auch eine sie der Glaube an den göttlichen Ursprung der Tora und die Erlösung am Ende der Zeiten. Nostra Aetate Nr. 4 sei ein Wendepunkt gewesen und habe die 2000-jährige «Lehre der Verachtung» der Juden beendet. Die Kirche habe klar gemacht, dass die göttliche Erwählung Israels nicht widerrufen sei, die Juden nicht zur Diaspora verdammt seien. Gewürdigt wird in der Erklärung auch, dass die Katholiken heute als Partner gelten könnten für den Aufbau einer besseren Welt. Insbesondere in dieser unserer Zeit der Säkularisierung müssten Juden und Christen zusammenstehen für Religionsfreiheit, gegen Intoleranz, für Lebensschutz und den Schutz der Familie.

Gemeinsam für Frieden und Versöhnung

Wie gut die Zusammenarbeit zwischen Vertretern der jüdischen Orthodoxen und dem Vatikan heute ist, zeigt auch deren Würdigung des Dokuments der Päpstlichen Kommission von 2015 mit dem Titel «Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt» (Röm 11,29). Darin werde betont, so die Rabbiner, dass die Juden Anteil an Gottes Heil haben. Wie, das sei das abgrundtiefe Geheimnis Gottes. Und dass die Kirche auf die Mission bei Juden verzichte.

Effektiv lässt dieses Dokument der päpstlichen Kommission, unterzeichnet von Kardinal Kurt Koch, in 49 Artikeln die 50 Jahre seit Verabschiedung von Nostra Aetate Revue passieren. Judentum und Christentum seien wie zwei Geschwister, die sich – wie es für Geschwister normalerweise üblich ist – in verschiedene Richtungen entwickelten. Der Dialog zwischen den Geschwistern sei deswegen weniger ein inter-religiöser als vielmehr ein intra-religiöser, ein innerfamiliärer Dialog. Auch wenn es nur einen Heilsweg gebe, seien Juden nicht vom Heil ausgeschlossen, denn der Bund mit Gott bestehe weiterhin. Wie die Juden aber ohne Bekenntnis zu Christus Anteil am Heil haben, bleibe das Geheimnis Gottes. Das Dokument definiert auch die Ziele des Dialogs mit dem Judentum: Es gehe darum, sich gemeinsam für Gerechtigkeit, Frieden, die Bewahrung der Schöpfung und Versöhnung in der Welt einzusetzen. Der fehlende und ständig erbetene Frieden im Heiligen Land spiele dabei eine grosse Rolle. Und es sei alles zu tun, um antisemitische Tendenzen einzudämmen. Wiederholt habe Papst Franziskus betont, dass ein Christ niemals ein Antisemit sein könne, insbesondere weil das Christentum jüdische Wurzeln habe.

«Wenn Juden und Christen nach fast 2000 Jahren theologischer Delegitimierung und physischer Konflikte Partner werden können, dann ist Frieden zwischen zwei Völkern überall möglich.» Diese Formulierung des Center For Jewish-Christian Understanding and Cooperation (CJCUC) von 2011 harrt noch heute seiner Umsetzung – wir alle sind dazu aufgerufen, nicht nur unsere Politiker.
Thomas Schaffner

 

1 Der Beitrag setzt jenen in der Ausgabe 21/2022 fort.

 


Thomas Schaffner

Thomas Schaffner (Jg. 1958) ist dipl. Gymnasiallehrer für Geschichte und Deutsch. 2022 schloss er in Luzern sein Studium der Theologie mit dem Master ab, absolviert derzeit ein Masterstudium Judaistik und plant eine Dissertation zum Thema jüdisch-christliche Versöhnung.