Wirtschaftliche Konkurrenz und Solidarität

Christliche Werte scheinen unvereinbar mit konstitutiven Elementen der freien Marktwirtschaft zu sein. Wie lässt sich über den Graben zwischen Wirtschaft und Kirche wie auch Theologie eine Brücke bauen?

Im deutschen Sprachgebrauch ist der Begriff Kapitalismus zumeist negativ konnotiert: als übersteigerte Form einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, in der das Streben nach Wachstum, Profit und dem eigenen Nutzen zu Masslosigkeit und Gier pervertiert ist und dem Gemeinwohl und der Nachhaltigkeit Schaden zufügt.

Theologische Kritik

Die katholische Sozialethik zeichnet sich wie jede Wissenschaft durch eine Vielzahl an Richtungen aus. Seit Beginn der modernen sozialen Frage im 19. Jahrhundert kann man, grob gesagt, zwischen einem gewerkschafts- und einem unternehmerfreundlichen Flügel unterscheiden. Aktuell sind postwachstumsökonomische Ansätze im Trend, die die Wachstumskritik der 1960er- bis frühen 1980er-Jahre wieder aufnehmen und mit globalisierungskritischen, ökologischen und suffizienzpolitischen Überlegungen und Massnahmen ergänzen. Ihr Leitbild eines guten und einfachen, sozial- und umweltverträglichen Lebens in überschaubaren Verhältnissen trifft heutzutage den Nerv der Zeit. Machtvollen Zuspruch durch Papst Franziskus erhalten jene, welche eine Postwachstumsökonomie befürworten. Die Umwelt- und Sozialenzyklika Laudato si' sowie das Apostolische Schreiben Evangelii gaudium mit seinem bekannten Diktum «Diese Wirtschaft tötet», mit dem Franziskus eine «Wirtschaft der Ausschliessung und der Disparität der Einkommen» (EG 53) kritisiert, wirk(t)en als Fanal für gleichgesinnte inner- wie ausserkirchliche Kreise, ihre Ablehnung des Kapitalismus bzw. der «neoliberalen» Marktwirtschaft aktiver und offensiver zu vertreten. Diese Ablehnung knüpft durchaus an die kapitalismuskritische Tradition des gewerkschaftsnahen Flügels der katholischen Sozialethik an. Der bekannteste Vertreter war der Jesuit Oswald von Nell-Breuning (1890–1991), der sich zwar schon in den 1920er-Jahren gegen eine Pauschalverurteilung der kapitalistischen Wirtschaft wandte, aber sehr deutlich zwischen einer zu begrüssenden «kapitalistischen Wirtschaftsweise» und einer zu bekämpfenden «kapitalistischen Klassengesellschaft» unterschied. Die «gesamte Tradition der päpstlichen Sozialverkündigung» zielt nach dem deutschen Sozialethiker Hermann-Josef Große Kracht auf eine «demokratisch-partizipative und laboristisch-modern zu verfassende Wirtschafts- und Sozialordnung jenseits privatkapitalistischer bzw. staatssozialistischer Verfügungsmacht». Sie biete sich auch heute als «Perspektive eines Dritten Weges» für eine zukunftsfähige moderne Gesellschaft an.1

Ökonomische Kritik

Es gibt aber auch eine Kritik von Seiten der Ökonomie, der Unternehmen und der Politik am Wirtschaftsverständnis der Kirchen. Zu den gängigen theologischen bzw. kirchlichen Vorwürfen gegen die Marktwirtschaft zählt ihre vermeintliche Unmenschlichkeit. Das sieht Gerhard Schwarz, früher Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion, ganz anders. Für ihn sind Marktwirtschaft und christliche Ethik kompatibel, weil es Parallelen im Welt- und Menschenbild gibt. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die Vernunftorientierung der christlichen Theologie und die durch die Religionen transportierten «Grundhaltungen und Werte» sind für ihn zentrale geistige Grundlagen, auf denen Individualismus und Liberalismus aufbauen. Er erklärt sich die kirchlichen bzw. theologischen Aversionen gegenüber der Marktwirtschaft einerseits mit dem Hang zum utopischen Denken, mit der «unzulässigen Übertragung des aszendenten Menschenbildes und der eschatologischen Heilserwartung auf unsere Erde». Andererseits trage die «Hypostasierung» des Marktes dazu bei. Übel werden dem Markt angelastet. Niemals handle jedoch der Markt, immer die Menschen. Sie verhalten sich verantwortlich oder nicht. Sollte die Marktwirtschaft nicht noch stärker sozial und ökologisch aufgeladen werden, um kirchlicherseits eine breitere Akzeptanz zu finden? Diesen Versuchen einer sozial und ökologisch geglätteten Marktwirtschaft erteilt Schwarz eine Absage. Das Christentum sei auch «mit einer ziemlich konsequenten, wenig verwässerten Marktwirtschaft im Sinne des Ordoliberalismus» kompatibel.2

Die gegenseitigen Aversionen erklären sich zu einem Grossteil damit, dass konstitutive Elemente der Marktwirtschaft wie Konkurrenz, Privateigentum, Konsumfreiheit, Staatsskepsis oder Freihandel Antipoden sind zu theologisch-kirchlichen Denkformen, Tugenden und Werthaltungen wie Nächstenliebe, Gemeineigentum, Genügsamkeit, Gemeinwohl. Diese Stolpersteine können nur ausgeräumt werden, wenn anthropologische Denkarbeit geleistet wird und auf beiden Seiten ein neues Verständnis dieser Begriffe entwickelt werden kann. Schauen wir uns zwei Antipoden näher an: Barmherzigkeit versus Konkurrenzverhalten und Konsumfreude versus einfaches Leben. Lassen sich da zwischen theologischen und ökonomischen Vorstellungen Brücken bauen?

Barmherzigkeit und Konkurrenz

Der deutsche Sozialethiker Markus Vogt möchte einerseits das Konkurrenzprinzip «als Realität wie als ethische Leitidee der offenen Gesellschaft» würdigen, andererseits aber «die Differenz konkurrenzorientierter Mentalitäten und Strukturen zum (christlichen) Anspruch von Nächstenliebe, Barmherzigkeit und langfristig verlässlicher Kooperation» nicht verharmlosen. Die «agonale Kultur» zähle zu den «produktivsten sozialethischen Leitideen Europas», gleichzeitig bedürfe sie aber der «Anerkennung allgemeiner Regeln» und des Zusammenspiels der Verhaltensmodi Konkurrenz, Kooperation und Fürsorge. Hier könne der Blick auf das Evangelium, auf eine «vom Gedanken der Barmherzigkeit geprägte Ethik» hilfreich sein. Für einen funktionierenden Markt, für einen fairen Wettbewerb brauche es eben nicht nur rechtliche Regelungen, «sondern auch freiwillige moralische Mehrleistungen der Individuen». Die soziale Marktwirtschaft erachtet Vogt als eine gelungene Verbindung von Konkurrenz, Kooperation und Solidarität, die «sich wechselseitig durchdringen, begrenzen und stabilisieren».3

Genügsamkeit und Konsumfreiheit

Die durch den Kapitalismus geschaffene Konsumkultur ist Faszinosum und Quelle anhaltender Kritik zugleich. Eine oberflächliche Lektüre der Enzykliken deutet auf einen weiteren Graben zum Kapitalismus hin: Die Lehrschreiben kritisieren die Überentwicklung von Wirtschaft, Produktion und Konsum in den reichen Staaten, geisseln Materialismus, Hedonismus und Konsumismus. Die Enzyklika Sollicitudo rei socialis warnt die Konsumierenden davor, zum «Sklaven des Besitzens und Geniessens» zu werden (SRS, 28). Dieses «Pathos der ‹prophetischen Kritik›» verdeckt allzu leicht eine zweite Argumentationsebene der Soziallehre, die sich um eine anthropologische Fundierung der modernen Konsumkultur bemüht. Wirtschaftliche Freiheit und Konsumfreiheit werden auf dieser Ebene durchaus als Elemente der menschlichen Freiheit anerkannt, sie haben aber keinen Selbstzweck, sondern stehen im Dienst eines metaökonomischen Sinns, nämlich dem Aufbau einer geistigen und materiellen Kultur, in der sich der Mensch zu einer reifen Persönlichkeit entwickeln kann. Der Mensch wird als Berufener verstanden, der in allen Dimensionen seines Daseins – auch im Konsum – ein Qualitätsbewusstsein für das eigene Leben, für die Mit- und Umwelt und die Beziehung zu Gott zu entwickeln hat. Durch eine frei gewählte Suffizienz kann der Mensch eine innere Freiheit gewinnen, um eine (moralisch) kluge Auswahl an Gütern zu treffen. Solche anthropologischen Überlegungen sind durchaus kompatibel mit einer liberalen Konsumethik. Das formale ethische Kriterium der individuellen humanen Selbstverwirklichung muss aus einem liberalen Verständnis heraus inhaltsleer bleiben. Da der Mensch aber ein Konzept für einen Lebensentwurf benötigt, braucht es ein vielfältiges Angebot an Sinnkonzepten, aus denen der Mensch das für ihn passende aussuchen kann. Eines dieser Angebote können auch die Überlegungen der katholischen Soziallehre für eine bereichernde Kultur des Konsums sein.

Diese knappen Hinweise mögen illustrieren, dass ein innovativer Brückenschlag zwischen theologischen und ökonomischen Vorstellungen durchaus möglich ist.

Stephan Wirz

 

1 Vgl. Große Kracht, Hermann-Josef, Rekonstruktionen zur Kapitalismustheorie der katholischen Soziallehre. To end capitalism as we know it, in: Wirz, Stephan (Hg.), Kapitalismus – ein Feindbild für die Kirchen? Zürich/Baden-Baden 2018, 41–56.

2 Vgl. Schwarz, Gerhard, Ist der Markt unmenschlich? Zur Vereinbarkeit von Marktwirtschaft und christlicher Ethik, in: Wirz, Stephan (Hg.), Kapitalismus – ein Feindbild für die Kirchen? aaO., 99–115. Ordoliberalismus ist ein Konzept für eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung, in der ein durch den Staat geschaffener Ordnungsrahmen den ökonomischen Wettbewerb und die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger auf dem Markt gewährleisten soll.

3 Vgl. Markus Vogt, Konkurrenz: Antipode zu Barmherzigkeit und Kooperation? In: Wirz, Stephan (Hg.), Kapitalismus – ein Feindbild für die Kirchen? aaO., 175–191.

Buchempfehlung: «Kapitalismus – ein Feindbild für die Kirchen?» Von Stephan Wirz. Zürich/Baden-Baden 2018. ISBN 978-3-290-20167-8, CHF 42.−. www.tvz-verlag.ch


Stephan Wirz

Tit.-Prof. Dr. Stephan Wirz (Jg. 1959) studierte Theologie und Politische Wissenschaften, Nationalökonomie und Völkerrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2007 habilitierte er an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern und ist seit 2012 Titularprofessor an derselben. Seit 2007 leitet er den Fachbereich Wirtschaft und Arbeit der Paulus-Akademie in Zürich.

 

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