«Schulden sind zu einer Droge geworden»

Wie weit steht die Finanzwirtschaft im Dienst des Lebens? Die SKZ sprach mit Marc Chesney, Mit-Initiant der Mikrosteuer-Initiative und kritische Stimme gegenüber Finanzmärkten und Grossbanken.

Prof. Dr. Marc Chesney (Jg. 1959) promovierte in Finanzwirtschaft an der Universität Genf und habilitierte an der Universität Sorbonne in Paris. Seit 2003 ist er Professor am Institut für Banking und Finance und seit März 2020 Direktor des neu gegründeten Kompetenzzentrums für nachhaltige Finanzwirtschaft an der Universität Zürich. (Bild: zvg)

 

SKZ: Seit der grossen Banken- und Finanzkrise von 2008 sind zwölf Jahre vergangen. Wo stehen die Banken heute?
Marc Chesney: Die Grossbanken haben den Vorteil, systemisch oder «too big to fail»1 zu sein. Das heisst, dass die Steuerzahlenden schliesslich für deren Risiken haften. Dies verschafft den Grossbanken Anreiz, Risiken auf Kosten der Gesellschaft einzugehen. Und sie gehen tatsächlich Risiken ein. Das gegenwärtige Finanzsystem basiert auf Schulden. Die Grossbanken haben trotz ihrer hohen Verschuldung noch bis Ende 2019 versucht, reiche Kunden anzulocken, um ihnen Kredite zu gewähren. Diese Kredite ermöglichten den Kunden, noch mehr zu investieren, um von den daraus resultierenden Kurssteigerungen zusätzlich zu profitieren. Dies wiederum trieb die Kurse noch weiter in die Höhe. Diese Steigerung war eine künstliche und von der Leistung der Wirtschaft abgekoppelt. Das funktioniert solange, wie die Börse steigt, aber sie steigt nicht für ewig. Irgendwann gibt es ein Problem, und heute heisst das Problem Coronavirus. Reiche Kunden verlieren Geld oder sind insolvent, und dies führt zu negativen Auswirkungen auf die Grossbanken und möglicherweise auch auf die Steuerzahlenden.

Zur aktuellen Coronavirus-Pandemie. Wie analysieren Sie die Pandemie und ihre Folgen?
Die Gesellschaft ist mit einer grossen Gesundheits- sowie einer sozialen, wirtschaftlichen und einer Finanzkrise konfrontiert. Das Gebot der Stunde ist, die Lehre aus dieser multidimensionalen Notlage zu ziehen. Erstens: Die schnelle Verbreitung der Pandemie geht Hand in Hand mit dem Wirtschaftsmodell der Globalisierung und der Freihandelsabkommen. Dieses Modell muss kritisch und ernsthaft hinterfragt werden. Lokale Kreislaufwirtschaften wären robuster und deswegen dringend vonnöten. Zweitens: Das Businessmodell von Grossbanken und Hedge-Fonds schwächt die Ökonomie sowie alle demokratischen Gesellschaften. Anstelle von Schulden, Wetten und Zynismus sind Ersparnisse, Investitionen und Vertrauen wesentlich, um die Resilienz gegenüber Krisen zu fördern. Drittens: Wenn die Natur nicht respektiert wird, sendet sie Signale, die man verstehen und respektieren sollte. Die Erderwärmung ist schon ein Signal, das auf die Dysfunktion der Ökonomie hinweist. Inwiefern ist die Steigerung der Pandemiefrequenz ein Signal dafür, dass der Verlust an Biodiversität schon zu hoch sowie die Abholzung der Wälder zu weit gegangen ist? Es würde sich lohnen, diese Frage eingehender zu analysieren. Schliesslich ist der wesentliche Wert, um einen Weg aus der Krise zu finden, nicht der Wettbewerb zwischen Individuen – seien sie Konsumierende oder Produzierende –, sondern die Solidarität zwischen Bürgerinnen und Bürgern. Denn die Solidarität fördert das Gemeinwohl.

Sie kritisieren in Ihrem Buch «Die permanente Krise» am gegenwärtigen Finanzsystem, dass versucht wird, Schulden mit Schulden zu tilgen. Die Notenbanken würden die permanente Finanzkrise mit historisch niedrigen Zinsen bekämpfen, sie und die Staaten würden Milliarden in ein marodes Finanzsystem pumpen. Was ist genau am derzeitigen System marode?
Es gibt viel zu viele Schulden im System. Schulden sind zu einer Droge geworden. Der Finanzsektor hängt am Tropf der Schulden. Die Zentralbanken lösen das Problem, indem sie weltweit niedrige Zinsen fördern und in verschiedenen Ländern sogar negative Zinsen in Kauf nehmen, so auch in der Schweiz. Der Zins ist der Preis des Geldes. Dass ein Preis so lange negativ bleibt, widerspiegelt eine fundamentale Dysfunktion des Finanzsystems. Der gegenwärtige Lösungsansatz ist total kontraproduktiv, weil er Anreize schafft, noch mehr Schulden zu machen.

Wie kann denn dieses System aufgebrochen und wie können neue Wege beschritten werden?
Die Finanzkrise von 2007 bis 2008 war nicht harmlos. Das ganze Finanzsystem brach fast zusammen. Eine solche Krise verlangt mutige Bürgerinnen und Bürger und insbesondere mutige Akademikerinnen und Akademiker, die neue Regeln fordern, und es bedarf Politikerinnen und Politiker, die solche Regeln umsetzen. «Business as usual»2 ist keine Option. Die Krise verlangt, dass Grossbanken mehr Eigenkapital aufweisen sowie weniger Schulden machen und komplexe Finanzprodukte wie beispielsweise Derivate3 handeln. Solche Finanzprodukte sind im Prinzip nützlich für die Wirtschaft, denn sie erlauben den z. B. im Ausland tätigen Unternehmen, sich vor Währungsrisiken zu schützen. Leider werden die Derivate sehr oft benutzt, um Wetten auf die Insolvenz von Unternehmen oder Ländern abzuschliessen. Die Coronavirus-Pandemie erzeugt Notsituationen, die günstig sind und (aus-)genutzt werden können, um solche Wetten abzuschliessen.

Wie weit sollen Dritte (Staaten) den Finanzmarkt mit Rahmenordnungen und Gesetzen regulieren?
Das Hauptprinzip der Wirtschaft sollte respektiert werden. Nämlich, dass diejenigen, die Risiken eingehen, diese auch tragen. Es ist äusserst inakzeptabel, dass noch heute die Steuerzahlenden für die Risiken des Finanzsystems haften. Noch schlimmer ist, dass diese Risiken undurchsichtig sind. Deshalb sollten die Regierungen weltweit Regeln erlassen, welche Grundprinzipien, wie das vorher genannte, sichern.

Wie müsste ein Finanzsystem aussehen, das mehr im Dienst des Lebens steht als das jetzige?
Wir brauchen ein Finanzsystem, das im Dienst der Ökonomie und der Gesellschaft steht und nicht umgekehrt. Wir brauchen Grossbanken, die Investitionen tätigen, damit wir die Hauptherausforderungen der aktuellen Epoche angehen können: die Erderwärmung, den Verlust der Biodiversität und die Finanzinstabilität.

Sie sind Mit-Initiant der Mikrosteuer-Initiative4. Welches sind die Kernelemente und Ziele dieser Initiative?
Das Steuersystem der Schweiz ist alt und nicht an das 21. Jahrhundert angepasst. Im Zeitalter der Digitalisierung der Wirtschaft ist es kontraproduktiv, die Arbeit und den Konsum zu besteuern. Denn es werden immer mehr Arbeiten von Maschinen und Robotern ausgeführt. Und in Einkaufsläden werden die Kassiererinnen und Kassierer durch Self-Checkout ersetzt. Aus diesem Grund ist es sinnvoller, das riesige Volumen von elektronischen Transaktionen als Steuersubstrat zu betrachten als die Arbeit zu besteuern. Dieses Substrat entspricht mindestens 150-mal dem schweizerischen Bruttoinlandprodukt (BIP), in Schweizer Franken ausgedrückt: hunderttausend Milliarden. Es handelt sich um eine Mindestzahl, weil wir die Zahl an elektronischen Transaktionen nicht vollständig kennen. Denn beispielsweise sind die Intrabanken-Transaktionen5 eine Black-Box. Ihre genaue Zahl ist unbekannt. Eine Mikrosteuer von 0,1 Prozent auf dieses Steuersubstrat würde ungefähr 100 Mia. Franken pro Jahr erzeugen. Genug, um drei Steuern abzuschaffen: die Mehrwertsteuer, die direkte Bundessteuer sowie die Stempelsteuer. Dafür wären aber nur ungefähr 50 Mia. Franken nötig. Mit dem, was übrigbleibt, wäre es möglich, z. B. den Übergang von fossilen zu erneuerbaren Energiequellen zu finanzieren.  

Welche Vorteile hätte die Mikrosteuer in Krisenzeiten wie der jetzigen?
Für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) wie für Familien und Einzelpersonen würde der Wegfall der Mehrwertsteuer und der direkten Bundessteuer eine grosse finanzielle Entlastung bedeuten. Sie würden sich in einer besseren finanziellen Lage befinden.

Sie schlagen eine schrittweise Einführung des neuen Systems vor, zuerst auf Bundesebene, dann auf Gemeindeebene. Wie sieht es mit der Kirchensteuer aus? Wie würden Sie diese in dieses neue Steuersystem integrieren?
Wir fokussieren uns nur auf die Bundesebene, das heisst, wir wollen nur die drei Bundessteuern abschaffen: die Mehrwertsteuer, die direkte Bundessteuer und die Stempelsteuer. Die Kirchensteuer würde von dieser Initiative nicht tangiert.

Interview: Maria Hässig
 

 

1 Zu gross, um zu scheitern.

2 Weitermachen, wie gewohnt.

3 Derivate sind Finanzverträge, die erlauben oder verpflichten, Basiswerte (Aktien, Währungen, Anleihen, Indizes, Rohstoffe …) zu einer bestimmten Zeit (oder während einer Zeitperiode) zu kaufen oder zu verkaufen. Es gibt auch Derivate, die erlauben, auf die Entwicklung eines Zinses oder auf die Insolvenz einer Firma zu spekulieren.

4 Mehr Informationen zur Mikrosteuer-Initiative unter: https://mikrosteuer.ch

5 Intrabanken-Transaktionen werden innerhalb einer Bank, z. B. von einem Konto auf ein anderes, realisiert.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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