«Menschenrechte sind kein Luxus»

Sollen multinationale Unternehmen mit Sitz in der Schweiz für Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden in Drittstaaten, auch von ihren Tochterfirmen, haften? Die SKZ konfrontierte Peter G. Kirchschläger mit Argumenten der Gegnerschaft.

Prof. Dr. theol. lic. phil. Peter G. Kirchschläger (Jg. 1977) ist seit 2017 Ordinarius für Theologische Ethik und Leiter des Instituts für Sozialethik ISE an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. (Bild: zvg)

 

Die Volksinitiative «für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt» – die sogenannte Konzernverantwortungsinitiative – wurde am 10. Oktober 2016 eingereicht. Nationalrat und Ständerat haben je einen indirekten Gegenvorschlag eingebracht. Aufgrund der Coronavirus-Pandemie wurde die Frühjahrssession 2020 abgebrochen und damit auch die Beratungen und Abstimmungen der beiden Räte über die Gegenvorschläge. Der Bundesrat wird für dieses laufende Geschäft die Frist neu ansetzen, denn ursprünglich wäre sie am 10. April 2020 abgelaufen.

SKZ: Was verlangt die Initiative?
Peter G. Kirchschläger: Alle Menschen haben Menschenrechte – nicht nur Menschen in der Schweiz. Doch immer wieder verletzen Konzerne mit Sitz in der Schweiz diese Menschenrechte und ignorieren minimale Umweltstandards. Die Konzernverantwortungsinitiative fordert eine Selbstverständlichkeit: Wenn Konzerne auf Kinderarbeit setzen oder Flüsse verschmutzen, sollen sie dafür geradestehen. Beispielsweise verkauft die Firma Syngenta in Indien ein Pestizid, das mitverantwortlich ist für die Vergiftung von Menschen und in der Schweiz längst nicht mehr zugelassen ist. Syngenta muss heute für die von ihr verursachten Schäden nicht geradestehen. Die Firma Glencore mit Hauptsitz in Zug vergiftet mit einer Mine in Peru Luft und Wasser mit Schwermetallen. Glencore wird dafür nicht zur Rechenschaft gezogen. Dieses Unrecht will die Initiative ändern: Sie will, dass die Menschenrechte überall respektiert werden, und verlangt, dass multinationale Konzerne bei ihren Geschäften sicherstellen, dass die Menschenrechte beachtet und Umweltstandards eingehalten werden. Wenn sie die Menschenrechte verletzen, soll dies für sie Konsequenzen haben, sie sollen für die verursachten Schäden haften.

Die Gegner der Initiative führen ins Feld, dass mit der Annahme der Initiative kleine und grosse Schweizer Unternehmen mit sehr hohen Kosten konfrontiert wären, weil sie für die ganze Wertschöpfungskette Kontrollsysteme einrichten müssten, und sich insbesondere die KMU dies nicht leisten könnten. Die Initiative schade der Schweizer Wirtschaft und bestraft würden alle jene Unternehmen, die anständig wirtschaften. Inwieweit ist diese Kritik berechtigt?
Diese Aussagen der Gegner sind schlicht und einfach falsch. Richtig ist: Konzerne mit Sitz in der Schweiz sollen künftig dafür sorgen, dass keine Menschenrechte oder Umweltstandards verletzt werden. Passiert es dort, wo sie die Kontrolle haben, also klassischerweise bei Tochtergesellschaften, doch, müssen sie dafür geradestehen. KMU sind ausgenommen, ausser sie sind in einem Risikosektor wie dem Diamantenhandel tätig. Der Grossteil der Schweizer Unternehmen wirtschaftet anständig. Aber leider stellen einige Konzerne ihren Profit über den Schutz der Menschenrechte und der Natur. Deshalb brauchen wir ein verbindliches Gesetz. Dafür setzen sich auch Unternehmerinnen und Unternehmer ein: Im «Wirtschaftskomitee für verantwortungsvolle Unternehmer» haben sich über 170 von ihnen zusammengeschlossen, die hinter der Initiative stehen. Für sie ist die Respektierung der Menschenrechte eine Selbstverständlichkeit, und sie wollen gleich lange Spiesse für alle. Skrupellose Konzerne sollen keine Wettbewerbsvorteile auf Kosten von Mensch und Natur haben.

Weiter erwähnen die Gegner, die weltweite Haftungspflicht für alle Unternehmen mit Sitz in der Schweiz führe nicht nur zu einer Klageflut aus dem Ausland, sondern auch zu einer Amerikanisierung unseres Rechtssystems. In welchen Punkten kommt es zu einer Veränderung im bisherigen Schweizer Rechtssystem?
Es kommt zu keiner Klageflut, denn mit der Initiative können nur die Opfer von Menschenrechtsverletzungen selbst vor einem Zivilgericht in der Schweiz auf Schadenersatz klagen und eine finanzielle Kompensation für den erlittenen Schaden einfordern. Ausserdem kommt es auch nicht zu einer Veränderung des bisherigen Schweizer Rechtssystems. Vielmehr soll die Durchsetzung bereits existierenden Rechts verbessert werden, nämlich die Durchsetzung der Menschenrechtsverpflichtungen von multinationalen Konzernen mit Sitz in der Schweiz.

Ein weiterer Kritikpunkt ist die Beweislastumkehr. Es gilt nicht mehr die Unschuldsvermutung, sondern die Firmen bleiben solange schuldig, bis sie das Gegenteil beweisen können. Was halten Sie diesem Kritikpunkt entgegen?
Die Beweislast liegt – so sieht es die Konzernverantwortungsinitiative vor – bei der geschädigten Person selbst. Diese Person muss aufzeigen, dass sie einen Schaden erlitten hat, dieser widerrechtlich entstanden ist, der Konzern dafür verantwortlich ist und die entsprechende Tochterfirma kontrolliert. Kann die geschädigte Person alle diese Punkte nachweisen, bleibt dem Konzern die Möglichkeit, sich aus der Haftung zu befreien. Dafür muss er nachweisen, dass er die Verantwortung gegenüber seiner Tochterfirma wahrgenommen hat, also alle nötigen Instruktionen und Kontrollen durchführte. Die Beweislast liegt also bei den Opfern.

Der Ständerat lehnte in der Dezembersession 2019 den vom Nationalrat befürworteten Gegenvorschlag ab und nahm den von der Minderheit der Rechtskommission vorgeschlagenen Gegenvorschlag an. Dieser entspricht grundsätzlich dem Vorschlag des Bundesrates. Können Sie kurz aufzeigen, wo die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Vorschlägen, auch im Vergleich zur Initiative, liegen?
Mit dem Vorschlag des Bundesrates wird versucht, dafür zu sorgen, dass sich nichts ändert. Konzerne sollen weiterhin ungestraft rücksichtslose Geschäftspraktiken verfolgen können. PR- und Marketingkampagnen und die Propagierung von Corporate Social Responsibility1 ändern aber nichts an den Unrechtstaten einiger multinationaler Konzerne. Der Vorschlag des Bundesrates schwächt gezielt die Grundanliegen der Konzernverantwortungsinitiative. Wie kann es sein, dass sich im 21. Jahrhundert jemand dagegen wehrt, dass der Minimalstandard Menschenrechte auch von multinationalen Konzernen eingehalten wird? Das ist eine Selbstverständlichkeit – so sieht es auch der Nationalrat. Denn die Menschenrechte sind kein Luxus. Sie schützen nur das Überleben und ein menschenwürdiges Leben.


Wenn sich die beiden Räte innerhalb der neuen Frist nicht auf den Gegenvorschlag des Nationalrates einigen können, kommt die Initiative zur Abstimmung. Wie würde die Schweiz im internationalen Vergleich dastehen, wenn die Initiative angenommen wird?
In anderen Ländern gibt es heute schon Regeln, wie sie die Konzernverantwortungsinitiative fordert: In Kanada, Grossbritannien oder Australien laufen Verfahren gegen Konzerne wegen Menschenrechtsverletzungen im Ausland.

Wie nehmen Schweizer Unternehmen bisher ihre Verantwortung hinsichtlich Menschenrechtsstandards und Ökologie in Staaten wahr, in denen sie wirtschaftlich tätig sind?
Die meisten Konzerne wirtschaften heute schon anständig. Mit hoher Dringlichkeit gilt es aber dafür zu sorgen, dass klare Regeln geschaffen werden, damit alle multinationalen Konzerne die Menschenrechte respektieren. Es ist ein Skandal, dass einige multinationale Konzerne mit Hauptsitz in der Schweiz weiterhin ungestraft Menschenrechte verletzen und sich nicht an Umweltstandards halten, um ihre Gewinne zu maximieren. Natürlich sind es nur einige multinationale Konzerne, die sich nicht an die Regeln halten. Unser Rechtsstaat hat jedoch meistens Gesetze nur für ein paar wenige, die Unrecht begehen. Z. B. begeht nur ein äusserst geringer Anteil der Gesamtbevölkerung in der Schweiz Mord und Totschlag. Es käme aber niemand auf die Idee, deswegen zu fordern, dass wir keine Gesetze brauchen, die dies verbieten.

Bundesrat wie Ständerat setzen für den weltweiten Schutz von Menschenrechten und Umwelt auf die Kooperation mit Partnern vor Ort. Zudem ist die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes die beste Form der Armutsbekämpfung. Wird die Initiative angenommen, müssten sich Firmen laut den Gegnern aus Risikoländern zurückziehen, um nicht in unnötige Klagen verwickelt zu werden. Das wiederum würde der Entwicklung des Landes und damit auch der Armutsbehebung wesentlich schaden.
Die Kooperation mit Partnern vor Ort ist sicherlich der richtige Weg zur Förderung wirtschaftlicher Entwicklung. Daran würde auch die Annahme der Konzernverantwortungsinitiative nichts ändern. Natürlich schaffen Unternehmen Arbeitsplätze. Diese sollten aber keine Menschenrechte verletzenden und Umwelt zerstörenden Arbeitsplätze und keine Arbeitsplätze für Kinder sein. Es geht auch hier um einige wenige Grosskonzerne, die sich über Umweltstandards hinwegsetzen und Menschenrechte ignorieren. Diese Konzerne sollen künftig für Menschenrechtsverletzungen haften, die sie verursachen.

Interview: Maria Hässig

1 Corporate Social Responsibility (Unternehmerische Gesellschafts- bzw. Sozialverantwortung) steht für den freiwilligen Beitrag der Wirtschaft zu einer nachhaltigen Entwicklung, der über die gesetzlichen Mindestforderungen hinausgeht.

 

 

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