«Wir wollen uns den gegenwärtigen Aufgaben stellen»

50 Jahre nach der Synode 72 steht die Kirche vor ganz neuen Herausforderungen. Der Verein «tagsatzung.ch» lädt anlässlich des Synodenjubiläums zur Tagung «Synode22» ein. Auf ihr werden Fragen nach dem Ort der Kirche in der heutigen Zeit neu eruiert. Martin Spilker unterhält sich mit zwei Mitgliedern der Vorbereitungsgruppe, Kathrin Lochbühler und Felix Senn, darüber, warum es 2022 in der katholischen Kirche wieder einen solchen Prozess braucht.

Kathrin Lochbühler (Jg. 1960) ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Seit 2009 ist sie Geschäftsführerin des Vereins tagsatzung.ch. Sie ist ehrenamtlich aktiv in der Frauengemeinschaft, in Gottesdienstrguppen verschiedener Altersstufen und im Pfarreirat der Pfarrei. Darüber hinaus ist sie Mitglied im Grossen Kirchenrat der Stadt Luzern. Dr. theol. Felix Senn (Jg. 1955) war von 1992 bis 1999 Erwachsenenbildner in der katholischen Landeskirche Aargau, von 1999 bis 2015 Studienleiter theologiekurse.ch und von 2016 bis 2020 Bereichsleiter Theologische Grundbildung am Theologisch-pastoralen Bildungsinstitut TBI. Seit 2020 ist er pensioniert und im aktiven Unruhestand als freier Referent und Berggänger.

 

Vor 50 Jahren begann in der Schweiz die Synode 72. Es war eine Zeit des Aufbruchs in der katholischen Kirche. Heute ist die Situation ganz anders: Die Kirche droht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken und steckt zudem in einer massiven Vertrauenskrise. Zahlreiche vor 50 Jahren in intensiver Arbeit von Laien und Priestern gemeinsam erarbeiteten Errungenschaften einer Kirche, die sich an den Fragen und Bedürfnissen der Gläubigen ausrichtet, scheinen heute bei weiten Teilen der Bevölkerung, aber auch der Kirchenleitung, gar nicht mehr auf Interesse zu stossen.

Der Verein «tagsatzung.ch» nimmt – in Kooperation mit der Paulus Akademie und der Fachstelle Bildung und Propstei der Katholischen Kirche im Aargau – das Synodenjubiläum zum Anlass, Fragen nach dem Ort der Kirche in der heutigen Zeit neu zu stellen. An einer Jubiläumstagung unter dem Titel «Macht und Partizipation» wird im Juni – mitten im weltweiten synodalen Prozess – zur Synode22 eingeladen.1 Martin Spilker unterhält sich mit zwei Mitgliedern der Vorbereitungsgruppe darüber, warum es 2022 in der katholischen Kirche wieder einen solchen Prozess braucht.

SKZ: Vor 50 Jahren wurde die Synode 72 eröffnet, die einen wahren Aufbruch in der Kirche ausgelöst hatte. Ist das heute noch spürbar?
Kathrin Lochbühler (KL): In vielen Pfarreien ist dieser Geist des Volkes Gottes noch spürbar. So auch in meiner Pfarrei. Es wird vieles «gemacht», ohne nach den Zuständigkeiten oder Erlaubnis von «oben» zu fragen. Dies hängt aber stark von der Pfarreileitung ab. So feiere ich mit den Frauen Frauengottesdienste mit Kommunionfeiern ohne je eine theologische Ausbildung gemacht zu haben. Diese Feiern sind sehr spirituell und bewegend. Hier erfahre ich immer wieder das Bedauern darüber, dass Frauen nicht ordiniert werden dürfen.

Felix Senn (FS): Vom damaligen Aufbruch ist meiner Meinung nach nur noch wenig zu spüren. Damals kam der Impuls für die Synode «von oben», also von Spitzenvertretern in den Bistümern. Und 50 Prozent der Synodalen waren – grossenteils demokratisch gewählte – Laien, also Männer und Frauen aus dem Kirchenvolk. Das ist einzigartig und leider einmalig geblieben. Nie mehr seither haben die Bistumsleitungen auch nur im Entferntesten einen solchen demokratischen Entscheidungsprozess initiiert oder aktiv gefördert. Seither müssen die sogenannten «Laien» ihr Recht der Mitsprache wieder hart erkämpfen. Umso weniger dürfen wir die Erinnerung an ein solches Grossereignis einfach aussen vor lassen! Darum wollen wir an diesen Aufbruch von vor 50 Jahren nicht nur rückwärtsgewandt erinnern, sondern uns den gegenwärtigen Aufgaben stellen.

Wo sehen Sie heute denn den grössten Handlungsbedarf in der katholischen Kirche?
FS: Bei der gleichwertigen Beteiligung der Frauen. Wenn wir schauen, wer heute das Pfarreileben trägt, sind es doch zu einem grossen Teil ehrenamtlich tätige Frauen. Strukturell haben sie aber nichts zu sagen, sind auf Gedeih und Verderb abhängig von Entscheidungen geweihter Männer. Hier braucht es formale Veränderungen, die Frauen gleichstellen, sonst geht die Kirche an ihren Strukturen zugrunde. Wenn Kirche eine gesellschaftspolitische Kraft sein will, die gehört und ernst genommen wird, muss sie zuerst solch unglaubwürdige Strukturen im eigenen Haus in Ordnung bringen.

Die katholische Kirche steckt in einer Vertrauenskrise. Welches sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe dafür?
KL: Ich stamme väterlicherseits aus einer streng katholischen Familie. Das Obrigkeitsdenken durfte nie in Frage gestellt werden. Im Teenageralter habe ich von einem Missbrauch in unserer Familie durch einen Priester erfahren. Die Schuld und das Unrecht wurden aber nicht beim Geistlichen festgemacht, sondern bei der missbrauchten Person. Der Missbrauchsskandal hat mich erschüttert. Dass noch immer vieles vertuscht wird, ist ein Hauptgrund, warum die Kirche in einer Vertrauenskrise steckt.

Kann ein solcher Anlass wie die Synode22 heute Veränderungen in der katholischen Kirche bewirken?
KL: Ja. Ich denke, er kann immer wieder aufrütteln und den Bischöfen zeigen, dass das Kirchenvolk nicht aufgibt. Dies kann Forderung aber auch Unterstützung für einen echten Reformwillen, auch der Bischöfe sein. Weiter greift die Tagung ja nicht nur religiöse Themen auf. Sie beschäftigt sich auch aus christlicher Sicht mit gesellschaftspolitischen Themen, wie zum Beispiel das Klima, um nur ein weiteres zu nennen. Die Tagung soll auch jüngere Menschen ansprechen und dazu ermutigen, sich für das geschwisterliche Zusammenleben in der Kirche und der Gesellschaft einzusetzen.

FS: Es ist natürlich ein sehr begrenzter Anlass. Aber mehr würde unsere Kräfte übersteigen. Deshalb haben wir vor drei Jahren die Bischöfe offiziell angefragt, ob sie anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums der Synode 72 etwas Grösseres planen. Die wenigen Antworten blieben leider komplett unverbindlich, und bis heute ist – so viel ich weiss – von  den Bischöfen nichts geplant. Dass sie ein solches Jubiläum ungenutzt verstreichen lassen, sagt auch etwas! Aber obwohl wir auf kleinem Feuer kochen müssen, erhoffe ich mir von unserem geplanten Schlussdokument der Tagung doch eine Ausstrahlung in der Kirche und darüber hinaus. Es wird gesellschaftspolitische und innerkirchliche Brennpunkte aufgreifen.

Ein Papier mehr, das in der Schublade verschwindet?
FS: Schlimmstenfalls. Aber wir haben es wenigstens öffentlich gesagt, und es bleibt ein Stachel im Fleisch. Und nein, es kann nicht einfach beiseite gelegt werden, denn wir werden darin mit guten Gründen konkrete Visionen formulieren und Forderungen stellen.

Wird der von Papst Franziskus eingeleitete synodale Weg hier keine Veränderungen bringen?
FS: Wir wissen nicht, wohin dieser Weg führt. Er läuft ganz anders als seinerzeit die Synode 72. Was mit den Ergebnissen der Befragung vom letzten Herbst gemacht wird, ist völlig offen. An der Bischofssynode 2023 werden grossmehrheitlich Bischöfe zu Wort kommen. Laien werden – ganz im Unterschied zur Synode 72, wo die Hälfte der Teilnehmenden die Synodenpapiere bis zuletzt mitgeschrieben haben – kaum einbezogen.

Sie engagieren sich nichts desto trotz für Partizipation und Geschwisterlichkeit in der katholischen Kirche. Sind Sie einfach unverbesserlich optimistisch?
KL: Ja, ich bin Optimistin. Aber dies ist nicht der alleinige Grund, dass ich mich für Partizipation und Geschwisterlichkeit in der Kirche einsetze. Ich glaube an Gott und an die vielen Texte der Heiligen Schrift, in der von Geschwisterlichkeit gepredigt wird und dies ist auch mein eigenes Lebensbild. Geschwisterlichkeit und Partizipation braucht die Gesellschaft in allen Bereichen, um zu überleben – und daher braucht es dies auch in der Kirche.

FS: Ja, auch ich bin trotz allem vorsichtig optimistisch. Allerdings halte ich es hier mit Odilo Noti im Werbevideo für unsere Veranstaltung «Synode22»: Es braucht einen steten Druck von unten, sonst verändert sich in der Kirche rein gar nichts.

Was wünschen Sie sich für die katholische Kirche der Zukunft?
KL: Ich wünsche mir, dass die Kirche ihr Kirchenrecht reformiert, glaubwürdiger wird und das, was sie predigt auch selber lebt!

Interview: Martin Spilker

1 Mehr zur Tagung «Synode22 – Macht und Partizipation» Synode 22 | tagsatzung.ch

 

 

 


Martin Spilker

Martin Spilker (Jg. 1963) ist ausgebildeter Katechet (KIL, heute RPI). Er arbeitete als Redaktor bei Tages- und Lokalzeitungen sowie beim Onlineportal kath.ch. Seit 2022 ist er für die Inländische Mission im Bereich Kommunika-
tion und Administration sowie als freischaffender Journalist tätig.