«Wir sind noch nicht angekommen»

Nach dem Bischofstreffen zu Missbrauch und Kinderschutz in Rom wurde eine gewisse Ernüchterung spürbar. Die Kirche Schweiz arbeitet seit Jahren an diesem Thema und hat auch schon erste Schritte unternommen.

Dolores Waser Balmer (Jg. 1967) war langjährige Leiterin des Schlupfhuus und Verantwortliche für den Fachbereich Weiterbildung und Prävention am Kinderschutzzentrum in St. Gallen. Sie gehört dem Fachgremium gegen sexuelle Übergriffe des Bistums St. Gallen an und war an der Erarbeitung des Schutzkonzeptes beteiligt. Seit Februar 2018 hat sie die Bereichsleitung Diakonieanimation der Caritas St. Gallen-Appenzell inne. (Bild: rs)

 

Das Bistum St. Gallen erarbeitete ein umfassendes Schutzkonzept. Dolores Waser Balmer arbeitete als Mitglied des Fachgremiums gegen sexuelle Übergriffe an diesem Konzept mit. Die SKZ unterhielt sich mit ihr über die aktuelle Situation.

SKZ: Worum geht es beim «Schutzkonzept für die seelische, geistige und körperliche Integrität der Menschen im Bereich des Bistums St. Gallen1»?
Dolores Waser Balmer: Nach einem Vorfall im Jahr 20022 rief der damalige Bischof Ivo Fürer ein Fachgremium ins Leben. Dieses Fachgremium war für die Intervention da, das heisst, es handelte, wenn eine Meldung kam. Im Verlauf der Zeit gab es aber immer mehr Anfragen zur Prävention. Die Schweizer Bischofskonferenz verlangte, dass alle Bistümer ein Fachgremium haben müssten. Die meisten dieser Fachgremien hatten die Prävention bereits in ihrem Auftrag integriert, wir in St. Gallen nicht. Dies war mit ein Grund, dass das Bistum entschied, eine übergeordnete Kommission ins Leben zu rufen, welche ein Schutzkonzept erstellte. Bereits in der ersten Sitzung wurde klar, dass dieses Konzept nicht nur sexuelle Gewalt, sondern auch psychische und physische Gewalt sowie Arbeitskonflikte (Mobbing) beinhalten sollte. Auch sollte nicht nur die Prävention geregelt werden, sondern alle drei Schritte: Prävention, Intervention und Nachbetreuung. Grundsätzlich geht es um ein Vermitteln und Aufrechterhalten der Grundhaltung der Achtsamkeit, wie wir es nennen. Wir möchten, dass diese in verschiedensten Kontexten immer wieder zum Thema wird.

Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Punkte des Konzepts?
Für mich ist das Wichtigste, dass es über alle Ebenen geht, auch über das duale System. Alle Ebenen sagten, dass ihnen das Schutzkonzept wichtig sei für jede Berufsgruppe im Bistum, auch für die Freiwilligen und die Gläubigen. Und man kam von der Idee weg, dass nur Priester Übergriffe machen.

Welche realistischen Chancen geben Sie dem Konzept?
Die erste grosse Hürde haben wir geschafft, indem die Einführung sehr ernsthaft gemacht wurde. Jetzt kommt als nächste Hürde die Einforderung der Strafregisterauszüge. Alle, auch langjährige Mitarbeiter, müssen einen Strafregisterauszug vorlegen, was regelmässig wiederholt werden wird. Und die dritte grosse Hürde wird sein: Was machen wir in drei, vier Jahren, wenn die erste grosse Wiederholungswelle kommt? Finden wir dann einen Weg und eine gute Thematik, um das Thema wieder aktuell zu halten? Wir sind noch nicht angekommen. Wir dürfen aber mit Stolz sagen, dass wir es im Bistum sehr ernst nehmen.

Mit den unabhängigen Anlaufstellen scheinen die Schweizer Diözesen auf einem guten Weg zu sein. Genügt das oder braucht es noch mehr?
Die Unabhängigkeit – ich gehe jetzt von unserem Fachgremium aus – ist so hoch gegeben, dass ich glaube, dass sie im Moment reicht. Wir haben in den letzten Jahren auch keinen Übergriffsfall mehr erlebt, wo wir hätten sagen müssen: Wenn es noch etwas anderes gegeben hätte, hätten wir anders gehandelt.

Die Schweizer Bischofskonferenz entschied, dass nun auch bei erwachsenen Opfern immer Anzeige gemacht werden muss. Ich finde das ganz schwierig, denn es nimmt uns als Fachgremium die Chance, mit einem Menschen auf dem Weg zu sein bis er sich entscheidet, Anzeige zu erstatten. Da der Bischof aber immer handeln muss, sobald er etwas erfährt, haben wir diese Chance nicht mehr. Wir stehen vor der Entscheidung: Entweder wir verzichten auf diese Chance oder wir müssen den Bischof für eine gewisse Zeit aussen vor lassen. Das finde ich eine ganz schwierige Ausgangslage. Ich habe im Kinderschutzzentrum gearbeitet und es hat manchmal ein Jahr gedauert, bis es zu einer Anzeige gekommen ist. Hätte man nach dem ersten Gespräch bereits gehandelt, hätten diese Menschen ihre Aussage zurückgezogen.

Als ich als Ansprechperson angefragt wurde, mass ich dem Stellenwert, dass die andere Person jemand aus der Kirche ist, zu wenig Gewicht bei. Ich fand es immer gut, hatte aber den Eindruck, es sei nicht so relevant. In den letzten vier Jahren war es für mich beeindruckend, wie Menschen, die in ihrer Kindheit missbraucht wurden, in den Gesprächen zunächst nur mit mir sprachen. Den Seelsorger würdigten sie anfangs kaum eines Blickes. Doch wenn wir es schafften, dass diese Person ihre Geschichte erzählen konnte, wandte sie sich an den Seelsorger und erzählte so der Kirche, was passiert war. Ganz oft kommt eine grosse Erleichterung und die Person kann sagen: «Jetzt ist es am richtigen Ort angekommen.» Ich wäre nicht der richtige Ort. Ich denke manchmal, dass jene, die die Kirche repräsentieren, viel abbekommen. Ein Stück weit setzt die Kirche die eigenen Mitarbeiter dem aus, und das finde ich eine Leistung. Das macht die Kirche wahnsinnig gut.

Die Missbrauchsdebatte läuft schon seit einigen Jahren. Bemerkten Sie eine Veränderung im Sprechen darüber?
Wenn etwas bekannt wird, ist es immer wieder der gleiche Hype. Das hat sich nicht verändert. Was sich bei kirchennahen Menschen verändert hat, ist eine Trauer darüber, dass es immer wieder kommt. Und was ich auch erlebe, ist manchmal eine Sättigung bei den Menschen. Diese Sättigung trägt die Gefahr ins sich, dass man sagt: Alle in der Kirche haben es getan. Wenn diese Phase überwunden ist, auch im Gespräch, dann erlebe ich oft und auch verstärkt, dass Menschen nachfragen, was wir genau machen. Im Bistum St. Gallen erfahre ich, dass viel weniger pauschale Aussagen kommen. Dies hat sicher damit zu tun, dass wir so viel in diesem Bereich getan haben. Eine grosse Schwierigkeit sehe ich bei den Wiedereingliederungsgeschichten. Ich kann verstehen, dass man dies möchte, doch ich denke, dass wir uns das im Moment schlicht nicht leisten können.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch etwas anderes ansprechen, nämlich die Fallzahlen. Wir geben immer bekannt, wie viele Fälle wir behandelt haben. Wenn wir z. B. bekannt geben, dass wir 25 Fälle hatten, waren die gravierendsten Fälle darunter vielleicht aus den 1960er-Jahren. Andere Fälle brauchten nur kurze Interventionen. Doch sie werden alle als gleichwertig angeschaut. Die Fallzahlen sagen nichts darüber aus, was wirklich war. Deshalb finde ich diese Zahlen auch so schwierig. Wir hatten im letzten Jahr zum Beispiel keinen Fall, in dem wir zivilrechtlich hätten handeln müssen.

Generell aufgrund Ihrer Erfahrungen gefragt: Gibt es gesamtgesellschaftlich gute Ansätze zur Prävention, damit es gar nicht zu Missbrauch kommen kann? Oder sind wir da hilflos, weil Täter auch aus dem Nichts auftauchen können?
Ich glaube, es gibt sehr gute Ansätze. Wir werden immer Täter haben. Was wir aber ändern können, ist, dass sich die Opfer schneller wehren. Der Kinderschutz führt zurzeit für verschiedene Altersgruppen Kampagnen durch. Wenn wir es schaffen, für jede Altersstufe spannende Angebote für die Auseinandersetzung mit dem Thema anzubieten und wir Fachstellen haben, die bekannt sind, bin ich überzeugt, dass wir weiterkommen.

Als katholisch sozialisierte Mutter von drei Kindern und langjährige Leiterin des Schlupfhauses in St. Gallen: Wie reagieren Sie auf die Ergebnisse des Treffens in Rom?
Ich habe die Konferenz mit Interesse verfolgt. Ich merke, dass ich nicht enttäuscht bin. Ich finde es wichtig, dass es weltweite Konferenzen zum Thema gibt, um alle Bischöfe für diese Thematik zu sensibilisieren. Betreffend des 21-Punkte-Resultats: Da können wir uns in der Schweiz zurücklehnen und sagen, dass wir das sowieso schon machen. Das Einzige, was mich dabei etwas aufgebracht hat, war die Priorisierung, vielleicht war sie auch nicht beabsichtigt. Wenn es zunächst nur um Priester geht, dann um die Wiedereingliederung (wie können straffällige Priester wieder eingesetzt werden) und erst ganz zum Schluss um Prävention − dann habe ich das Gefühl, dass nicht viel verstanden wurde. Wenn ich aber an die südlichen Länder denke und das dortige Priesterbild betrachte, dann kann ich es nachvollziehen. Wichtig ist, dass es überall in der Kirche zum Thema wird und dass alle ihre Verantwortung wahrnehmen. Wenn Papst Franziskus eine Nulltoleranz fordert, dann müssen wir als Kirche beweisen, dass wir es können.

Interview: Rosmarie Schärer

 

1 Das «Schutzkonzept für die seelische, geistige und körperliche Integrität der Menschen im Bereich des Bistums St. Gallen»: siehe Bonusbeitrag.

2 2002 wurde in Uznach ein Pfarrer wegen schweren Missbrauchs zweier Buben verhaftet.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

Dokumente