Windeier, Scheinleiber oder doch Beischlaf?

Wie kam Maria zu ihrem Kinde? Das Geheimnis um Marias Jungfrauengeburt bleibt intakt. Historische Spekulationen darüber sind aber dennoch äusserst anregend.

Esther Schläpfer – «Christliche Glaubensaussagen werden heute losgelöst von einem naturwissenschaftlichen Hintergrund gedeutet. Doch religiöse Vorstellungen sind durch den Kontext geprägt, in welchem sie entstanden sind.» So bringt Gregor Emmenegger auf den Punkt, was er in seinem 355-seitigen Werk vorhat: Aufzuzeigen, wie sich medizinisches Wissen und die Entwicklung von Glaubensinhalten im frühen Christentum gegenseitig beeinflussten. Dies zum Untertitel. Zum Buch greifen lässt jedoch der Haupttitel, der eine Erklärung verheisst, wie denn die Jungfrau zu ihrem Kind kam. Bevor der Autor die spannungsvolle Erwartung der Leser auflöst, widmet er sich sehr ausführlich ausgewähl-ten theologischen Auseinander-setzungen, die die gegenseitige Beeinflussung von antiker Medizin und der Ausbildung christlicher Dogmen illustrieren. Seinen Rundgang durch die frühe Kirchengeschichte reichert der Leiter des Projekts «Bibliothek der Kirchenväter im Internet» mit zahlreichen Zitaten an, die er inhaltlich und textkritisch sorgfäl-tig kommentiert. Ein gewichtiger Fussnotenteil mit originalsprachlichen Quellentexten oder weiterführenden Beobachtungen begleitet seine Überlegungen.

Konflikt um Heilungsmonopol

Im ersten Kapitel führt der Autor in die medizinischen Schulen der Antike ein und weist auf die engen Verbindungen von Medizin und Religion hin: Verfügten die meisten Priester über medizinisches Wissen, verstand sich umgekehrt der antike Arzt als Seelenheiler oder Philosoph. In einem weiteren Kapitel wendet sich der Autor dem Zusammenhang von Krankheit und Sünde, Heilung und Sündenvergebung und dem Tun-Ergehen- Zusammenhang zu. Dies tut er anhand schriftlicher Zeugnisse aus den ersten christlichen Jahrhunderten. Doch damit nicht genug: Er öffnet hier auch noch den Grundkonflikt zwischen dem «Heilungsmonopol» Gottes und der Notwendigkeit von Arztbesu-chen und fächert der Medizin gegenüber ablehnende und zustimmende Argumente auf: So wird auf der einen Seite betont, dass ein wahrer Gläubiger auch in der Krankheit alles einzig von Gott erhoffen sollte. Auf der anderen Seite wird die – richtig verwendete – Medizin als Teil der Schöpfung und von Gott zum Heil der Menschen geschenkte Gabe als «kleine Schwester der Erlösung» hochgeachtet. In einem weiteren Schritt wird die These, dass religiöse Vorstellungen durch Medizin und Naturphilosophie beeinflusst werden, anhand der Themenbereiche Frauen, Zeugung, Empfängnis und Geburt weiter überprüft. Beachtenswert ist dabei das Kapitel zur «Hierarchie der Heils-fähigkeit», in dem der Autor mit Liebe zum Detail Texte aus dem Nag-Hammadi-Codex zitiert und analysiert. Inhaltlich geht es hier darum, dass eine Frau nur gerettet werden kann, wenn sie an Männlichkeit zunimmt.

Spontangeburt

Nach diesen einführenden Beobachtungen nähern wir uns nun der brennenden Frage nach der gebärenden Jungfrau. Dabei wirft der Autor zuerst einen Blick auf Analogien zur Jungfrauengeburt in der Tierwelt und erläutert antike Theorien zur Windbefruchtung und zur asexuellen Fortpflanzung oder der «Urzeugung». Entsprechend können gemäss antiken Vorstellungen auch Frauen ohne männlichen Samen sogenannte Windeier bekommen. Und so ist es vorstellbar, dass auch Gott sein Pneuma entsendet und eine Frau schwanger werden lässt («Windbefruchtung»). Aber auch die «Urzeugungs-These» wurde an-hand von Psalm 21,7LXX («ein Wurm bin ich und kein Mensch») auf Christi Geburt übertragen: Wie Würmer spontan geboren werden, so ist auch Christus ohne männlichen Samen aus dem Uterus der Jungfrau durch eine schöpferische «Kraft» hervorgegangen.

Freier himmlischer Akt

Die von der Naturphilosophie beeinflussten Erklärungsversuche der Inkarnation Christi verortet Emmenegger kirchengeschichtlich in den christologischen Auseinandersetzungen der frühen Kirchengeschichte: Während der Doketismus die Jungfräulichkeit als Beweis dafür verwendet, dass Jesus nur als Geistwesen (mit ei-nem «Scheinleib») in der Welt er-schienen ist, versuchen rationale Theorien oder medizinische Argumente Christi leibliche Geburt zu beweisen. Als «Meilenstein» bewertet er das Zurücktreten der naturphilosophischen Deutungen, da nun der Weg frei wurde, um die Inkarnation als freien Akt Gottes und an keine irdischen Regeln gebundene Kreation zu bekennen: Die Inkarnation ist rational nicht erklärbar, sondern «neue Schöpfung». Wie steht es nun aber mit der gebärenden Jungfrau? Und wie kann Jungfräulichkeit überhaupt überprüft werden? Hängt sie vom Hymen ab, vom ausgeübten Geschlechtsverkehr, von der erfolgten Geburt, oder ist sie vielmehr ein sozialer Stand? Und wie sieht es aus mit der immerwährenden Jungfräulichkeit Marias, die nach Jesus ja auch noch weitere Kinder geboren hat? Ausführlich untersucht der Autor schliesslich verschiedene Kriterien der Jungfräulichkeit, bleibt dann aber vor der Tatsache stehen, dass in den ersten Jahrhunderten keine Zeugen für körperliche Merkmale der Jungfräulichkeit überliefert sind.

Mysteriöser Schoss Marias

So zeichnet sich auch hier am Ende der Diskussionen kaum überraschend ab, dass Marias Jungfräulichkeit der naturwissenschaftlichen Beweisbarkeit entzogen werden muss, da Gott nicht gemäss der Natur, sondern auf wunderbare Weise an ihr gewirkt hat: Sie ist Zeichen für das Mysterium der Inkarnation Christi, und Maria ist ebenso ganz Mutter und ganz Jungfrau, wie ihr Sohn ganz Mensch und ganz Gott ist. Wie kam nun also die Jungfrau zu ihrem Kind? Die Antwort bleibt offen, Jungfrau und Kind ein Geheimnis des Glaubens. Dennoch schliesst der Leser das Buch bereichert mit vielen Entdeckungen rund um die antike Wahrnehmung von Medizin, Zeugungsvorstellungen und Jungfräulichkeitsinspektionen.

Gregor Emmenegger: Wie die Jungfrau zum Kind kam. Zum Einfluss antiker medizinischer und naturphilosophischer Theorien auf die Entwicklung des christlichen Dogmas. Academic Press Fribourg 2014. 360 Seiten, Fr. 64.–.