Komplexen Situationen gerecht werden (I)

Wer sich nach andauernden und vielleicht lange verschleppten Schmerzen endlich zum Arztbesuch durchringt, hofft zumeist, dass die Palette der ärztlichen Therapiemassnahmen eine rasch wirksame Spritze bereithält. Wie unliebsam ist dann der Bescheid: «Du musst dein Leben ändern», wenn nämlich statt oder nach einer solchen Spritze eine langwierige Massnahme verordnet wird – Fitness, Gewichtsreduktion, Abstinenz von Nikotin oder wie immer typischerweise solche Therapien aussehen.

In eine ähnliche Situation bringt die Bischofssynode jene, die auf eine rasche Heilung in bestimmten «Schmerzen» gehofft hatten. Allerdings, in manchen Fällen braucht es für den ersten Schmerz in der Tat eine rasche Therapie, wie auch Papst Franziskus wahrnimmt: «Ich sehe ganz klar (…), dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, die Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen schwer Verwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem Anderen sprechen. Die Wunden heilen, die Wunden heilen (…). Man muss unten anfangen.»1

Im Folgenden ist darum zuerst (1.) nach der heilenden «Spritze» für jene Personen zu fragen, die in unserer Kultur nicht nur durch Lebensumstände, sondern darüber hinaus durch kirchliche Verhaltensweisen verletzt und verwundet sind. Die Kirche ist berufen, «sich ohne Zögern der blutenden Wunden anzunehmen und in vielen Menschen ohne Hoffnung die Hoffnung neu zu entfachen».2

Danach (2.) gilt es, sich der Langzeittherapie zu stellen. In den Blick kommt dabei als Patientin die Kirche selbst, der ein Umdenken aufgetragen ist.

1. Die Spritze gegen die Schmerzen

Vor und während den Bischofssynoden 2014 und 2015 wurde davor gewarnt, sich allein auf die in unseren Breiten besonders sensible Frage nach der Zulassung von nach Scheidung Wiederverheirateten zur Eucharistie zu fixieren. In der Tat: Wie das Abschlussdokument, die Relatio Synodi,3 eindrücklich erkennen lässt, haben Familien und Ehen auf der ganzen Welt mit unterschiedlichen Problemen zu kämpfen. Die Solidarität gebietet es, nicht ein Problem anzuschauen und andere Nöte auszublenden. Gleichwohl wäre es fragwürdig, die Diversität von Problemen zum Vorschub zu nehmen, um am Ende jeweils unter Verweis auf andere gar keines anzugehen. Überdies stellte sich bei der Bischofssynode 2015 interessanterweise heraus, wie verbreitet Scheidung und Wiederheirat auch in anderen Kulturkreisen sind,4 wenngleich der Blick darauf verständlicherweise in von Krisen geschüttelten Regionen nicht im Vordergrund steht.

Immerhin bezog sich Papst Franziskus im Umkreis der Synode mehrfach selbst auf das Thema der nach Scheidung Wiederverheirateten. An sie dürfte er auch in seiner Predigt bei der Eucharistiefeier zur Eröffnung der Bischofssynode 2015 gedacht haben, als er das Bild vom Feldlazarett aufnahm: Die Kirche sei berufen, ihre Sendung in der Liebe zu leben, «die nicht mit dem Finger auf die anderen zeigt, um sie zu verurteilen, sondern – in Treue zu ihrem Wesen als Mutter – sich verpflichtet fühlt, die verletzten Paare zu suchen und mit dem Öl der Aufnahme und der Barmherzigkeit zu pflegen; ein ‹Feldlazarett› zu sein mit offenen Türen, um jeden aufzunehmen, der anklopft und um Hilfe und Unterstützung bittet».5

Kurz gefasst lautet die Botschaft, welche diesen Menschen zuerst ausgerichtet werden darf:6 Die Bischofssynode hat sich dezidiert für eine «Logik der Integration» (Nr. 84) ausgesprochen, die pauschale Verurteilungen ebenso wie pauschale Ausschlüsse überwindet (siehe dazu auch Abschnitt 2.2.). Positiv heisst dies grundsätzlich: «Es ist (…) zu unterscheiden, welche der verschiedenen derzeit praktizierten Formen des Ausschlusses im liturgischen, pastoralen, erzieherischen und institutionellen Bereich überwunden werden können» (Nr. 847). Neben dem Ausschluss von der Kommunion gibt es andere Formen der Exklusion: Ausschluss von den Sakramenten überhaupt (z. B. Taufe für erwachsene Katechumenen8), Ausschluss vom Patenamt und Ausschluss von kirchlichen Diensten (auf der Synode für Katecheten thematisiert9). Deswegen wäre es zu wenig gewesen, auf die Zulassung zum Eucharistieempfang fixiert zu sein: Dies hätte einen einzelnen Aspekt der Exklusion isoliert, statt den Status von nach Scheidung Wiederverheirateten viel grundsätzlicher zu überprüfen.

Im Blick auf einzelne Menschen ist die Integration auf einem Weg der Unterscheidung anzustreben, «entsprechend der Lehre der Kirche und den Richtlinien [Orientierungspunkten] des Bischofs» (Nr. 85). Hier werden also die Ortskirchen in die Pflicht genommen, Kriterien zu formulieren (Papst Franziskus: «Jeder allgemeine Grundsatz muss inkulturiert werden, wenn er beachtet und angewendet werden soll»10). Die nach Scheidung Wiederverheiratete sollen sich fragen, «wie sie sich ihren Kindern gegenüber verhalten haben, als die eheliche Gemeinschaft in die Krise geriet; ob es Versuche der Versöhnung gab; wie die Situation des verlassenen Partners ist; welche Folgen die neue Beziehung auf den Rest der Familie und die Gemeinschaft der Gläubigen hat; welches Vorbild sie den jungen Menschen gibt, die sich auf die Ehe vorbereiten». Diese Kriterien werden nicht benannt, um mit einem drohenden Zeigefinger dazustehen, sondern weil «ein ehrliches Nachdenken (…) das Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes stärken [kann], die niemandem verwehrt wird». Zudem ist evident, dass es dem menschlichen Wohl und der Beziehung in einer neuen Partnerschaft dient, sich mit solchen Fragen auseinandergesetzt zu haben.

Nr. 86 benennt den Ertrag dieses Unterscheidungsprozesses. «Der Weg der Begleitung und der Unterscheidung richtet diese Gläubigen darauf aus, sich ihrer Situation vor Gott bewusst zu werden. Das Gespräch mit dem Priester im Forum internum trägt zu einer zutreffenden Beurteilung dessen bei, was die Möglichkeit einer volleren Teilnahme am Leben der Kirche behindert, und welches die Schritte sind, die diese Teilnahme fördern und sie wachsen lassen können.»

Wer in diesem Text von Nr. 86 die «Zulassung zur Kommunion» vermisst, übersieht die «Schritte», von denen hier die Rede ist. Da Nr. 84 verschiedene Formen der Exklusion benannt hatte, wäre es nicht sinnvoll gewesen, nun eine Engführung auf die Zulassung zur Kommunion vorzunehmen. Im Kontext ist alles dafür getan, dass diese Zulassung mit in den Blick kommen kann. Aber auch andere Formen der Exklusion müssen auf den Prüfstand. Unmissverständlich klar ist: «Die Logik der Integration ist der Schlüssel für ihre [bezogen auf nach Scheidung Wiederverheiratete] pastorale Begleitung, damit sie nicht nur wissen, dass sie zum Leib Christi gehören, der die Kirche ist, sondern davon auch eine freudige und fruchtbare Erfahrung haben» (Nr. 84). Kritisiert diese Formulierung implizit frühere Beteuerungen, der Ausschluss von der Kommunion sei nicht diskutabel, doch Wiederverheiratete dürften sich trotzdem der Kirche zugehörig wissen?

Umgekehrt wird an keiner Stelle des Dokumentes der Ausschluss vom Eucharistieempfang überhaupt nur genannt oder gesagt, dass es eine letzte Grenze der Integration gäbe. Ebenso bleiben die früher üblichen Empfehlungen aus, wie Bruder und Schwester zusammenzuleben oder den alternativen Weg der geistlichen Kommunion zu gehen. Damit ist das Tabu Eucharistieempfang überwunden; der Ausschluss davon wird nicht als Vorbehalt einer unaufhebbaren Exklusion genannt.

An dieser Stelle ist ein Seitenblick auf einen anderen Brennpunkt der Diskussionen in unserer Kultur zu werfen. Die Lebenssituationen von Personen mit homosexueller Orientierung wurden an der Synode weniger beherzt angeschaut. Zu sehr machten sich kulturelle Unterschiede bemerkbar. Die Relatio geht in Nr. 76 auf das Thema nur indirekt ein, indem sie von Familien spricht, in deren Mitte Personen mit homosexueller Orientierung leben. Dies hinterlässt den zwiespältigen Eindruck, Homosexuelle würden bleibend als Minderjährige nur im Kontext ihrer Herkunftsfamilien angesehen. Positiv impliziert dies den Anspruch an die Kirche(nfamilie), den in vielen Familien vollzogenen Lernprozess – verstehend, annehmend, anerkennend – nachzuvollziehen.

Jedenfalls sind manche der nun folgenden Aussagen über die grundsätzlichen Veränderungen der Kirche nach der Synode auch auf Personen mit homosexueller Orientierung und die von ihnen gelebte partnerschaftliche Lebensform zu beziehen. Schon auf der Synode schien es manchmal, als seien über das grundsätzliche Anliegen der Inklusion kulturübergreifend Verständigungen selbst dort möglich, wo der Blick sich auf unterschiedliche Personengruppen richtete. Wie Menschen nicht ausschliessend, sondern inkludierend zu begleiten sind, fragen sich afrikanische Kirchen primär für in Polygamie lebende Menschen und Kirchen in anderen Kulturkreisen primär für die nach Scheidung Wiederverheirateten und Personen mit homosexueller Orientierung.

2. Die Langzeittherapie

In vielen ersten Reaktionen auf die Bischofssynode war von Enttäuschung die Rede. Das mag an einer oberflächlichen Rezeption des Abschlussdokumentes liegen. Gleichwohl ist zu reflektieren, warum die Synode sich nicht eindeutiger positioniert hat. Warum konnte nicht noch klarer gesagt werden, welche Exklusionen künftig nicht mehr gelten?

Dem anfänglich verwendeten Bild folgend würde dies verkennen, dass es nicht nur eine Spritze braucht, sondern auch eine Langzeittherapie. Dabei muss jetzt differenziert werden, wer der Patient ist. Es sind Menschen, deren Leben nicht so verläuft, wie sie es sich gewünscht haben und denen mit dem Schlüssel einer Logik der Integration bislang verschlossene Türen zu öffnen sind. Die Langzeittherapie aber, welche die Bischofssynode einleitet, betrifft primär die Kirche selbst, die ihre Pastoral überprüfen muss. Hierzu formuliert das Abschlussdokument Einsichten, die zwar im Sinne einer Empfehlung an den Papst formuliert sind, die aber als Einsichten bereits Gewicht haben. Sie betreffen den in den bereits zitierten Texten geforderten Unterscheidungsprozess im Blick auf einzelne Menschen.

2.1. Bedürfnisse anhören

Auf die Frage, wie Wertvermittlung ohne Rigorismus, aber auch ohne «Laissez-faire» möglich ist, antwortete Kardinal Jorge Bergoglio in einem 2010 publizierten Interview mit einer pointierten Diagnose, was «Rigorismus» und «Relativismus» bedeuten: «Rigorist ist jemand, der die Norm ohne Wenn und Aber anwendet: ‹Das Gesetz lautet so. Punktum.› Derjenige, der zu weitherzig ist, lässt die Norm ganz beiseite: ‹Das macht alles nichts, es passiert gar nichts, das Leben ist nun einmal so, und jetzt weiter.› Das Problem ist, dass keiner dieser beiden Typen sich um den Menschen, den er vor sich hat, wirklich kümmert.»11 In ähnlicher Weise sprach Papst Franziskus am Ende der Bischofssynode 2014 von der Versuchung, sich entweder in den Buchstaben zu verschliessen oder einer trügerischen Nachsicht zu verfallen.12

Wenn eine Ehe zerbricht, haben in der Regel beide Partner einen leidvollen Weg hinter sich, der Ratlosigkeit, Enttäuschungen und Verletzungen mit sich gebracht hat. Die Frage, warum es so gekommen ist, lässt sich meist nicht klar und vor allem nicht von aussen beantworten. Unverzichtbar ist es aber für beide Partner, nach eigenen Anteilen zu fragen, ganz gleich, ob diese dann als Schuld, als Versagen, als Überforderung, als Neigung zu Projektionen, als symbiotische Überforderung des Partners oder wie auch immer beschrieben werden. Die Häufigkeit von Scheidungen in unserer Kultur sollte nicht mit einer Banalisierung der entsprechenden Lebenssituationen einhergehen. Die Pastoral jedenfalls muss darum besorgt sein, nicht nur begütigend zu verharmlosen, sondern anstehende Prozesse zu begleiten.

Wie das gemeint ist, kann die Predigt in der Eucharistiefeier zum Abschluss der Bischofssynode 2015 erhellen. Mit Bezug auf die Begegnung des blinden Bettlers Bartimäus mit Jesus unterstrich Papst Franziskus das Verhalten Jesu als Vorbild für pastorales Handeln: «Er gibt ihm [Bartimäus] weder Anweisungen, noch Antworten, sondern stellt eine Frage: ‹Was soll ich dir tun?› (Mk 10,51). Das könnte wie eine nutzlose Frage erscheinen: Was sollte ein Blinder anderes ersehnen als das Augenlicht? Und doch zeigt Jesus mit dieser direkten, aber respektvollen Frage von Mensch zu Mensch, dass er unsere Bedürfnisse anhören will. Er wünscht sich mit jedem von uns ein Gespräch, das um das Leben, um reale Situationen geht und vor Gott nichts ausschliesst.»13

Eine kirchliche Pastoral oder Rechtsordnung, die eine bestimmte Form von Antwort – und sei es die Zulassung zur Eucharistie – als Patentlösung für die Situation von nach Scheidung Wiederverheirateten ansieht, verkennt, dass es ganz andere Bedürfnisse geben könnte oder dass Menschen unter ganz anderen Formen von Ausschlüssen leiden.

2.2. Unterscheidung angesichts «komplexer Situationen»

Sobald sich der Blick auf einzelne Menschen richtet, versagen allgemeine Regeln. Aus diesem Grund gewinnt in der Relatio das Prinzip der Unterscheidung hohes Gewicht. Interessanterweise taucht der Begriff anders als im Instrumentum laboris14 nicht mehr im Titel des zweiten Teils auf. Dies dürfte mit einer veränderten Einschätzung des mit Unterscheidung Gemeinten zusammenhängen.

Der Blick auf die christliche Sicht der Familie («Die Familie im Plan Gottes») ist nicht schon Unterscheidung im hier geforderten Sinn. Vielmehr bezieht sich der Prozess der Unterscheidung auf die Berufung der Familie in der Vielfalt der Situationen. Der zweite Teil bietet dafür, wie es an dessen Beginn nun heisst, einen Kompass, mit Hilfe dessen dann erst die Unterscheidung vorgenommen werden kann.15 Von daher ist verständlich, dass von Unterscheidung vor allem im dritten Teil die Rede ist (siehe die bereits zitierten Texte aus Nr. 84–86) sowie in den anderen Teilen dort, wo schon konkrete Situationen im Blick sind.

Das Gewicht dieser Kategorie der Unterscheidung führt nun aber dazu, dass es künftig weder pauschale Verurteilungen noch pauschale Regeln geben kann. Deutlich wird dies zunächst an einer Schlüsselstelle des Dokumentes, nämlich in dessen Zentrum. Hier wird zuerst an jene Stelle aus dem Apostolischen Schreiben «Familiaris Consortio» (1981; dort Nr. 84) erinnert, wo ebenfalls die Unterscheidung der Situationen eingeschärft wird: «Die Hirten mögen beherzigen, dass sie um der Liebe zur Wahrheit willen verpflichtet sind, die verschiedenen Situationen gut zu unterscheiden.» Daraus zieht die Relatio die Konsequenz, dass ungerechte Verurteilungen unterbleiben müssen: «Während die Lehre mit Klarheit zum Ausdruck gebracht wird, sind Urteile zu vermeiden, welche die Komplexität der unterschiedlichen Situationen nicht berücksichtigen. Es ist notwendig, auf die Art und Weise zu achten, in der die Menschen leben und aufgrund ihres Zustands leiden» (Nr. 51).

Wie ein Kommentar zu dieser Aussage klingt die Äusserung des Bischofs Lucas Van Looy von Gent in einer Medienkonferenz des vatikanischen Pressebüros. Er beschrieb den Weg der Synode als das Ende einer Kirche, die über Situationen und Personen richte, der Beginn einer neuen Kirche, die nicht als Richterin auftrete.16

Dies bestätigt die Ansprache von Papst Franziskus, in der er zum Abschluss der Bischofssynode 2015 fragt, was es bedeutet, sie abgehalten zu haben: Es bedeute, «die verschlossenen Herzen entblösst zu haben, die sich oft sogar hinter den Lehren der Kirche oder hinter den guten Absichten verstecken, um sich auf den Stuhl des Mose zu setzen und – manchmal von oben herab und mit Oberflächlichkeit – über die schwierigen Fälle und die verletzten Familien zu richten». Und weiter: «Die erste Pflicht der Kirche ist nicht die, Verurteilungen und Bannflüche (Anathematisierungen) auszuteilen, sondern jene, die Barmherzigkeit Gottes zu verkünden, zur Umkehr aufzurufen und alle Menschen zum Heil des Herrn zu führen.»17

Auffälligerweise überschreibt die Relatio den ersten Abschnitt zur Thematik jener Situationen (ab Nr. 69), die nicht mit den kirchlichen Normen übereinstimmen, mit dem Titel «Situazioni complesse/ komplexe Situationen». Vielleicht beginnt hier ein neuer Sprachgebrauch, welcher die defizitorientierte und tendenziell verurteilende Rede von «irregulären Situationen» ablöst.

Situationen sind komplex, weil von aussen oft nicht ohne weiteres wahrnehmbar ist, warum Menschen sich so oder anders verhalten und welches ihre Beweggründe sind. Ein erstes Beispiel sind in Nr. 70 f. Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht kirchlich (und evtl. auch nicht zivil) verheiratet sind. Für die nach Scheidung Wiederverheirateten weist Nr. 85 darauf hin, dass Situationen und die darin gelebten Verantwortlichkeiten allein aufgrund einer objektiven Betrachtungsweise nicht hinreichend erfasst sind.

Gemäss Nr. 51 geht es zudem nicht nur um eine differenzierte Beurteilung der Schuldfrage. Es soll geschaut werden, wie «Menschen leben und aufgrund ihres Zustands leiden». Vonnöten ist die Empathie, die Lebenswirklichkeiten von innen her sieht und mitfühlt, z. B. mit der Einsamkeit der Menschen «in der bitteren Dämmerung der zerbrochenen Träume und gescheiterten Pläne», in den Häusern, in denen «der Wein der Freude und damit der Geschmack des Lebens, die Weisheit des Lebens selbst» fehlt.18

Darüber hinaus hält das Dokument für die verschiedenartigen «komplexen Situationen» nach den Werten und positiven Elementen Ausschau, die in solchen Situationen gelebt werden (vor allem bezogen auf Menschen in nur ziviler Ehe oder ohne institutionelle Bindung und auf nach Scheidung Wiederverheiratete: vgl. Nr. 69, 70, 71, 84): Dort können Früchte geerntet und Gaben des Geistes entdeckt werden. So heisst es von Menschen, die nach Scheidung wiederverheiratet sind: «Der Heilige Geist giesst Gaben und Charismen zum Wohl aller auf sie aus» (Nr. 84).

Unterscheidende Wahrnehmung nimmt von blossen Verurteilungen Abstand, sucht statt nach Defiziten nach Anknüpfungspunkten für Begleitung und Verkündigung (vgl. am Ende von Nr. 69) und ist in der Lage, positiv Gelebtes wahrzunehmen.

2.3. Begleitung und die Bedeutung der Ortsgemeinschaften

Folge einer unterscheidenden Pastoral ist ein hoher Anspruch an die Seelsorgenden (und darüber hinaus an die ganze Kirche). Ihnen wird viel Kunst der Begleitung zugemutet und zugetraut (vgl. Nr. 7719), damit sie die oft auch bedrückende Last des Teilnehmens an komplexen und schwierigen Situationen aushalten (vgl. Nr. 85). Sie brauchen ein Gespür dafür, wann es ganz einfach zu hören gilt, wann es notwendig ist, einen Weg aufzuzeigen, und wann Ermutigung angezeigt ist (vgl. Nr. 77). Pastorale Begleitung ist vonnöten, weil sie hilft, die Situationen wirklich zu bestehen, im Leiden Trost zu finden, Prozesse der Trennung versöhnlich und in einem guten Geist zu leben (vgl. Nr. 78–82) und – wie gesehen – Schritte der weitergehenden Integration zu gehen.

Den Menschen nahe sein («stare vicino»: Nr. 77) und sich um der pastoralen Unterscheidung und Begleitung willen mit Situationen belasten («farsi carico»: Nr. 85): diese Aufgabe findet in aller Regel «vor Ort» statt. Entsprechend häufig nimmt die Relatio Bezug auf die christliche Gemeinschaft, die an vielen Stellen eindeutig auf die pfarreiliche Ebene zu beziehen ist. Die christliche Gemeinschaft hat Verantwortung gegenüber Witwern und Witwen (Nr. 19), Familien, die von Krankheit, Unfall oder Alter betroffen ist (Nr. 20), Familien mit Personen mit besonderen Bedürfnissen (Nr. 21), unverheirateten Personen (Nr. 22), Migranten (Nr. 24) und Jugendlichen (Nr. 29).

Die Begleitung der Ehen und Familie ist eine Sache der Seelsorgenden ebenso wie der Gemeinschaft (Nr. 52), so dass Ehevorbereitung (Nr. 57), Trauung (Nr. 59), Begleitung in den ersten Ehejahren (Nr. 60) und die Sorge um einen kinderfreundlichen Kontext (Nr. 63) nicht ohne Bezug zur örtlichen Gemeinschaft bleiben kann. Auch hinsichtlich der «komplexen Situationen» (zurückbleibende Ehepartner, Beziehung zwischen Geschiedenen, Alleinerziehende, nach Scheidung Wiederverheiratete) ist die Ortsgemeinschaft gefragt (vgl. Nr. 77, 78, 79, 80, 84).

Die christliche Gemeinschaft ist der Ort, in der Familien heranwachsen und sich begegnen (Nr. 89). Schliesslich müssen die Entscheidungen über die konkreten «Schritte», die die vollere Teilnahme am kirchlichen Leben «fördern und sie wachsen lassen können» (Nr. 86), auf dieser Ebene der Begegnung mit konkreten Menschen fallen.

Wenn Papst Franziskus von Dezentralisierung spricht, so kommt in den Blick, dass Bischofskonferenzen oder – wie in Nr. 85 vorgeschlagen – Bischöfe für diverse Fragen eine wichtigere Bedeutung erhalten sollten und könnten. Hinsichtlich der konkreten Pastoral und der Begleitung einzelner Menschen zeigt die Relatio, dass das Gewicht kirchlichen Lebens sich noch weiter verschieben muss. Die dogmatisch vernachlässigte Grösse der örtlichen Gemeinschaft, die das Zweite Vatikanische Konzils immerhin kurz in LG 26 würdigte, erhält hier grössere Bedeutung. Dies ist in der Praxis kirchlichen Lebens immer schon erfahren worden, wird in der Relatio aber auch theoretisch gewürdigt. 

1 Papst Franziskus, Interview mit P. Antonio Spadaro, August 2013: http://www.stimmen-der-zeit.de/zeitschrift/online_exklusiv/details_html?k_beitrag=3906412 (Oktober/November 2013). Die Internetquellen wurden alle am 23. November 2015 geprüft. Die Daten hinter der URL beziehen sich auf das Publikationsdatum.

2 Papst Franziskus: Predigt in der Eucharistiefeier zum Abschluss der Bischofssy-node 2014: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/homilies/2014/documents/ papa-francesco_20141019_omelia-chiusura-sinodo-beatificazione-paolo-vi.html (19.10.2014).

3 Vgl. http://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2015/10/24/0816/01825.html (24.10.2015); Nummern im Text beziehen sich auf diese Relatio. Eine deutsche Arbeitsübersetzung auf http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/abschlussbericht-liegt-auf-deutsch-vor (19.11.2015) wurde konsultiert und z. T. verwendet.

4 Vgl. exemplarisch die Stimmen von Weihbischof Benjamin Phiri aus Sambia: http://it.radiovaticana.va/news/2015/10/06/mons_phiri_dal_sinodo_risposte_per_famiglie_in_ difficolt%C3%A0/1177205 (6.10.2015), von Erzbischof Roberto González Nieves aus Puerto Rico http://ncronline.org/news/vatican/puerto-rico-archbishop-calls-path-communion-remarried (19.10.2015) und von Bischof Alfonso Miranda Guardiola von Mexiko: http://vaticaninsider.lastampa.it/es/reportajes-y-entrevistas/dettagliospain/articolo/sinodo-famiglia-44218/ (24.10.2015).

5 Papst Franziskus: Predigt bei der Eucharistiefeier zur Eröffnung der Bischofssynode 2015: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/homilies/2015/documents/papa-francesco_20151004_omelia-apertura-sinodo-vescovi.html (4.10.2015).

6 Vgl. dazu: Eva-Maria Faber: Der Logik der Integration folgen, in: http://www.feinschwarz.net/der-logik-der-integration-folgen/ (25.10.2015).

7 Für diese Formulierung dürften der Circulus Italicus C und der Circulus Hibericus A wegweisend gewesen sein: Vgl. http://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2015/10/21/0803/01782.html (21.10.2015).

8 Vgl. Nr. 75 der Relatio, die allerdings nur die Situationen anspricht, die in den Bereich des Privilegium paulinum oder petrinum fallen, nicht jene, die sakramentale Ehen betreffen.

9 Vgl. Circulus Hibericus A (wie Anm. 7).

10 Papst Franziskus: Ansprache zum Abschluss der Bischofssynode 2015: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2015/october/documents/papa-francesco_20151024_sinodo-conclusione-lavori.html (24.10.2015).

11 Papst Franziskus: Mein Leben. Mein Weg. El Jesuita. Die Gespräche mit Jorge Mario Bergoglio von Sergio Rubin und Francesca Ambrogetti. Freiburg i. Br. 2013, 70 f.

12 Vgl. Papst Franziskus: Ansprache zum Abschluss der Bischofssynode 2014: http://w2.vatican.va/content/francesco/it/speeches/2014/october/documents/papa-francesco_20141018_conclusione-sinodo-dei-vescovi.html (18.10.2014).

13 Papst Franziskus: Predigt in der Eucharistiefeier zum Abschluss der Bischofssynode 2015: http://w2.vatican. va/content/francesco/de/ homilies/2015/documents/papa-francesco_20151025_omelia-chiusura-sinodo-vescovi.html (25.10.2015).

14 Vgl. http://www.vatican.va/roman_curia/synod/documents/rc_synod_doc_20150623_instrumentum-xiv-assembly_ge.html (23.6.2015).

15 «Die Unterscheidung der Berufung der Familie in der Vielfalt der Situationen, denen wir im ersten Teil begegnet sind, bedarf einer sicheren Orientierung für den Weg und die Begleitung. Dieser Kompass ist das Wort Gottes in der Geschichte, die in Jesus Christus, der ‹Weg, Wahrheit und Leben› für jeden Mann und jede Frau ist, die eine Familie bilden» (Nr. 35).

16 https://www.youtube.com/watch?v=XRu0xe6jUXs bei Minute 1:01:15 (23.10.2015).

17 Wie Anm. 10.

18 Papst Franziskus: Ansprache bei der Vigil zur Bischofssynode 2014: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2014/october/documents/papa-francesco_20141004_incontro-per-la-famiglia.html (4.10.2014). In der Predigt zur Eröffnung der Bischofssynode 2015 (wie Anm. 5) benennt Papst Franziskus die Einsamkeit der Menschen, «die von ihrer Frau bzw. ihrem Mann verlassen wurden».

19 Sie müssen deswegen gut ausgebildet sein, sowohl für ihren Dienst der Begleitung als auch für die Aufgabe, die Integration von Familien in der christlichen Gemeinschaft zu fördern (vgl. Nr. 61).

Eva-Maria Faber

Eva-Maria Faber

Prof. Dr. Eva-Maria Faber ist Ordentliche Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Theologischen Hochschule Chur