Noch fünf Jahre?

Von 8. August 2014 bis zum 5. November 2015 wohnten einige Familien in der Kirche vom von «Kirche in Not» mitunterstützten Kloster Maryam al-Adhra in Sulaymaniyya, bevor sie in Wohncontainer neben dem Kloster umziehen konnten (Foto: Christoph Klein)).

Viele Christen im Irak blicken pessimistisch in die Zukunft

Die 25-jährige Robina, die vor wenigen Monaten ihr Anwaltspatent erworben hat, sieht keine Chance, in Dohuk (im Norden Kurdistans) diesen Beruf auszuüben: «Dass ich Christin bin, wiegt noch schwerer, als dass ich eine Frau bin, und auch schwerer, als dass ich keiner der alteingesessenen Familien angehöre.» Robina arbeitet darum nun bei einem Hilfswerk der assyrischen Christen.

Kurdistan – so heisst das Autonomiegebiet, das nach Saddam Husseins Sturz 2003 eingerichtet wurde. Die Kurden gehören fast durchwegs dem sunnitischen Islam an und sehen die schiitische Regierung in der irakischen Hauptstadt Baghdad entsprechend kritisch: Sie bevorzuge einseitig die schiitische Minderheit, sei korrupt und lasse die kurdischen Öleinnahmen in der eigenen Tasche verschwinden. Als Iraker bezeichnen sich die Kurden nur sehr ungern. Anders ist dies bei den nicht-kurdischen Irakern, die im Irak – ob nun als gewöhnliche Bewohner oder als Flüchtlinge – leben, also bei den Christen, Jesiden und den sunnitischen Arabern. Alle drei dieser Gruppen fühlen sich ein wenig wie Bürger zweiter Klasse. Denn was für den gesamten Vorderen Orient gilt, das gilt auch für Kurdistan: Die religiöse und ethnische Zugehörigkeit spielt eine eminent wichtige Rolle.

«Momentan sucht jeder seine Identität. In der westlichen Welt ist dies eine individuelle Frage, während im Orient diese Frage eine Gemeinschaftsfrage ist», formuliert dies Yousef Thomas Mirkis in einem Interview in seinem Bischofssitz in Kirkuk. Während die sunnitischen Araber mit dem Generalverdacht zu leben haben, sie könnten heimlich ISIS unterstützen, erfahren Jesiden und Christen die Kurden als wohlgesonnen – dies auch darum, weil Jesiden und insbesondere Christen als friedfertig gelten. Aber von Gleichberechtigung kann man nicht sprechen – selbst dann nicht, wenn sie Kurdisch gelernt haben, was mit dem Arabischen nur die Buchstaben gemeinsam hat, doch eine völlig andere Sprache darstellt. Wenn es etwa darum geht, eine staatliche Anstellung zu bekommen, sind Kurden klar im Vorteil.

Die Christen im Fokus

In diesem Beitrag soll es vor allem um die Christen gehen. Fast benötigt diese Einengung eine Rechtfertigung; man hat beinahe eine Scheu, nun eben auch religiös oder ethnisch zu kategorisieren. Und warum gerade die Christen? Sind die Jesiden nicht viel schlimmer dran als sie, weil ISIS sie nicht als irrgläubig, sondern als völlig ungläubig und somit als Freiwild betrachten? Und weil die Jesiden im Durchschnitt weniger gebildet sind, so dass sie als Flüchtlinge wesentlich weniger Optionen haben als die Christen? Und vor allem, weil Christen im Gegensatz zu den Jesiden als Flüchtlinge bei christlichen Institutionen anklopfen können, wo der Komfort in der Regel wesentlich besser ist als in gewöhnlichen Camps?

Die Antwort soll zunächst eine historische sein: Die Christen waren es, die den Nahen und Mittleren Osten geprägt haben – dadurch, dass sie die Denkwelten der Bibel und der Kirchenväter in ihren Kontext und in ihre Sprachen übersetzten. «Nach der islamischen Invasion bewahrten nur die Christen die Geschichte, die alten Sprachen und all die theologischen Texte», erinnert etwa Michel Constantin, Direktor der «Pontifical Mission» für den Nahen Osten. «Ohne die Christen wäre der Nahe Osten ein Ort voller Fanatismus», meint er, und der griechisch-katholische Patriarch Gregorius III. Laham von Damaskus sagt ganz unbescheiden: «Wenn Christen und Muslime im Nahen Osten es nicht mehr schaffen, miteinander zu reden, dann ist das das Aus für den christlich-muslimischen Dialog auf der ganzen Welt. Wir sind das Massgebende für die Zukunft dieses Dialogs! Wo Gott ganz am Anfang den Dialog mit den Menschen angefangen hat, dort muss der Dialog weitergehen.»

Es gilt aber auch: Es muss Sache speziell einer kirchlichen Fachzeitschrift wie dieser sein, die Frage nach den christlichen Glaubensbrüdern und -schwestern zu stellen. «Wenn ein Glied leidet, leidet der ganze Leib mit, und wenn ein Glied sich freut, so freut sich der ganze Leib», gibt Paulus in 1 Kor 12,26 zu bedenken. Was derzeit im Nahen Osten passiert, hat also nicht nur eine menschliche Dimension (der gemäss es richtig ist, dass Hilfsorganisationen allen helfen müssen, die Hilfe benötigen, unabhängig von ihrer Religion), sondern auch eine ekklesiologische. Worunter leidet also konkret im Irak der Leib Christi, die Kirche?

Irakische Christen ohne Heimat

Erstens sind die irakischen Christen heimatlos geworden. Viele kommen aus Mossul und dem vorgelagerten, stärker christlich geprägten Karakosch. «Ich mag Mossul gar nicht», sagt Nilsn über seine Herkunftsstadt, die er darum schon einige Jahre vor deren Eroberung durch ISIS verlassen hat. Er spricht perfekt Englisch und lebt nun wie Robina in Dohuk. Die Leute in seiner Heimatstadt seien engstirnige Sunniten, die zu religiösem Fundamentalismus neigten. «ISIS hat Mossul mit weniger als 1000 Mann eingenommen – das zeigt doch, dass die Bewohner den Dschihadisten ein grosses Mass an Sympathie entgegenbrachten.» Diese Sympathie ist einerseits damit zu erklären, dass die Stadt ganz am westlichen Rand Kurdistans liegt und somit in höherem Mass von den ungeliebten Schiiten in Baghdad aus regiert wurde. Andererseits, so erzählen die Christen, seien sie schon seit dem Sturz Saddam Husseins in Mossul schwer benachteiligt worden, in sämtlichen Belangen öffentlichen Lebens. Und das ist auch der Grund, warum sie in der Zeit nach dem Islamischen Staat nicht alle automatisch zurückkehren. «Jetzt heisst es ISIS, in ein paar Jahren werden vielleicht andere kommen und uns vertreiben» – diese Einschätzung hört man oft, etwa auch von christlichen Flüchtlingen aus der einstigen Christen-Hochburg Karakosh etwas östlich von Mossul.

Die Schweiz als Traumziel

Nissan Boutros Kriakos beispielsweise kommt von dort. Er lebt nun in dem kleinen Flüchtlingslager auf dem Gelände von Mar Elija in Ankawa bei Erbil. Er sieht für die Christen im Irak keine Zukunft und meint, in fünf Jahren seien sie aus dem Land verschwunden. «Fast jeder hier im Lager denkt so und will den Irak verlassen.» Macht man die Probe aufs Exempel, wird Kriakos’ Aussage mit unerwarteter Klarheit bestätigt: Die meisten wollen sich, falls sie die Möglichkeit haben, nach Europa aufmachen. Traumdestination Schweiz. Das Verstörende daran: Mar Elija ist, vor allem dank des umtriebigen Paters Douglas Bazi und des Hilfswerks «Kirche in Not», auf das dieser sich verlassen kann, ein regelrechtes Luxuslager. 568 Leute leben hier in Wohncontainern; niemand muss hungern oder frieren. Jede Familie wohnt in einem von der UNHCR zur Verfügung gestellten Container mit etwa 35 Quadratmetern und drei Zimmern.

Bazi mag den Begriff «Flüchtlingslager» dafür, was er hier seit dem August 2014 errichtet hat, als die Christen aus Mossul, Karakosh und vielen Orten der Niniveh-Ebene vertrieben wurden, gar nicht: «Es sind Brüder und Schwestern; ‹Flüchtlinge› klingt für mich zu unpersönlich. Und ‹Lager› – nun, wir versuchen, ihnen ein Stück Zuhause zu bieten» – etwa dadurch, dass Pater Douglas von Anfang an eine kleine Bibliothek in zwei Containern eingerichtet hat, zudem einen Kindergarten. Ausserdem: «Mir war und ist es wichtig, dass jedes Kind ein Musikinstrument lernen kann.»

Sind Länder wie Deutschland oder die Schweiz zu attraktiv für die Flüchtlinge? «Ja, ganz klar», antwortet darauf mit überraschender Deutlichkeit der assyrische Erzdiakon Emanuel Youkhana, der in Dohuk das Hilfswerk CAPNI leitet. «Jede Flüchtlingsbewegung hat zwei Ursachen: den Druck im Herkunftsland und die Anziehungskraft des Ziellandes. Christen emigrieren seit etwa einem Jahrhundert – Stichwort Genozid an den Armeniern – aus nahöstlichen Ländern, und bei jeder dieser Migrationsbewegungen spielten beide Faktoren eine Rolle.» Solche und ähnliche Voten kommen nicht von europäischen Rechtspopulisten, sondern von Menschen, die sich mit ihrer ganzen Existenz für die Flüchlinge einsetzen. Von Menschen wie Pater Jens Petzold etwa, der in Berlin geboren und in Effretikon aufgewachsen ist und in Syrien Anschluss zur Gemeinschaft «Al-Chalil» (arabisch «der Freund», gemeint Abraham) gefunden hat. Der Gemeinschaft gehören elf Frauen und Männer an; der Gründer Paolo Dall’Oglio wurde entführt und ist derzeit in der Hand von Islamisten. Mit Schwester Friederike Gräf zusammen beherbergt Pater Jens in Sulaymaniyya 60 Flüchtlingsfamilien in den Räumen des kleinen Klosters. Wie Pater Douglas werden sie von «Kirche in Not» unterstützt, doch anders als er kämpfen die beiden noch mit der Grundversorgung der Flüchtlinge. So lebten bis Anfang November einige Familien noch in der Kirche, nur durch Vorhänge von der Nachbarfamilie getrennt, bevor Wohncontainer geliefert werden konnten, so dass auf einem leeren Platz nun ein kleines Dorf entstanden ist. Doch nun wollen Pater Jens und Schwester Friederike so bald wie möglich Theaterworkshops zur Bewältigung von Traumata und zur Steigerung der Lebensfreude, Kurdischkurse zur Integration und Computerkurse zur Weiterbildung anbieten.

Pater Jens meint, dass die Leidensbereitschaft der irakischen Christen geringer sei als in typischen Armenkirchen. «In Indien zum Beispiel wird die Kombination von Armsein und Christsein leichter akzeptiert als bei uns, wo im Bewusstsein vieler so etwas Alttestamentliches mitschwingt, im Sinne von: Der Gerechte wird belohnt, und es wird ihm gut ergehen.» Aber: «Auswandern ist ganz schlecht», formuliert er kurz und klar, während er seine Geburtsstadt vor seinem geistigen Auge zu haben scheint: «Wenn jemand von meinen Leuten auswandern will, frage ich ihn, was er denn im Westen zu bieten hat – zum Beispiel ob er altes lokales Holzhandwerk beherrscht, das in Deutschland gefragt sein könnte.» Doch dann sagt er es auch auf orientalische Weise: «Hier auf den trockenen Ebenen wachsen die Grashalme oft im 30-cm-Abstand. Wenn ich in die Ferne schaue, sieht es wegen des Winkels darum üppig grün aus. Nur mein eigenes kleines Feld scheint so kahl zu sein.» Das ist ein seelsorgliches Argument. Seelsorger im Irak fragen sehr ehrlich danach, ob Emigration ihre Leute wirklich glücklicher machen kann. Und parallel versuchen sie, ihnen mehr zu geben als Grundversorgung, nämlich Würde, eine Perspektive, Sinn im Leben. Und das ist wesentlich schwieriger als Nahrung und Gebäude. Auch wenn man als Aussenstehender den Eindruck hat, das Leben einer durchschnittlichen Flüchlingsfamilie beispielsweise in Mar Elija verlaufe einigermassen geregelt: Daheim fühlen wird sie sich noch lange nicht. Auswandern will sie nach wie vor.

40 Jahre, nicht viereinhalb Stunden

Youkhana bittet die, die dem Land den Rücken kehren wollen, erst einmal, nochmals genau darüber nachzudenken: «Der Direktflug von Erbil nach Frankfurt dauert viereinhalb Stunden. Aber bis ihr in einer ganz anderen Kultur angekommen seid, dauert es vielleicht 40 Jahre.» Doch was heisst überhaupt «angekommen sein»? Bischof Mirkis: «14 Jahrhunderte haben die Christen hier zusammen mit Muslimen gelebt und die Dialogkultur mit ihnen gepflegt. Wenn sie nun einfach nach Europa gehen, dauert es vielleicht nur 14 Jahre, bis sich ihr chaldäisches Erbe einfach aufgelöst hat.» Darum unterstützt Bischof Mirkis Gesuche seiner Gläubigen, die bei der Auswanderung helfen sollen, in keinster Weise. «Die wissen das. Und das ist eine klare Linie.» Stattdessen entfaltet er Visionen, unterstützt etwa Studierende – Christen wie Muslime – in Kirkuk, damit Führungskräfte heranwachsen, die den christlich-muslimischen Dialog verinnerlicht haben.

Youkhana versucht zuweilen, seine Leute mit einem theologischen Argument von der Emigration abzuhalten: «Christsein heisst, den leidenden Christus zu repräsentieren. Und das kann eben auch bedeuten, dabei selbst zu leiden.» Bischof Mirkis ist immerhin stolz darauf, dass kein einziger irakischer Christ unter Zwang zum Islam konvertiert ist, und erzählt dazu einen in seinem Bistum gängigen Witz: «Wenn einer unserer Christen vor der Himmelstüre steht, dann fragt ihn Petrus, woher er komme. Und dann antwortet er: ‹Aus Mossul!› Petrus fragt ihn dann, ob er seinem Glauben zu Jesus stets treu geblieben sei, und erhält zur Antwort: ‹Ja! Ganz im Gegensatz zu dir! Und nun geh zur Seite!›» 

 

Christoph Klein

Christoph Klein

Christoph Klein (1974-2022) studierte in München, Jerusalem und Luzern katholische Theologie und war durch seine kleine Filmfirma kleinfilm bekannt. Er war auch Autor der Ausstellung über Christenverfolgung des Hilfswerks Kirche in Not (ACN).