Wie wenig ich nütze bin

 

Wie wenig nütze ich bin,
ich hebe den Finger und hinterlasse
nicht den kleinsten Strich
in der Luft.

Die Zeit verwischt mein Gesicht,
sie hat schon begonnen.
Hinter meinen Schritten im Staub
wäscht Regen die Strasse blank
wie eine Hausfrau.

Ich war hier.
Ich gehe vorüber
ohne Spur.
Die Ulmen am Weg
winken mir zu wie ich komme,
grün blau goldener Gruss,
und vergessen mich,
eh ich vorbei bin.

Ich gehe vorüber –
aber ich lasse vielleicht
den kleinen Ton meiner Stimme,
mein Lachen und meine Tränen
und auch den Gruss der Bäume im Abend
auf einem Stückchen Papier.

Und im Vorbeigehn,
ganz absichtslos,
zünde ich die ein oder andere
Laterne an
in den Herzen am Wegrand.

(Hilde Domin)

 


Hilde Domin

Hilde Domin, geborene Hildegard Dina Löwenstein (1909–2006), war eine deutsche Schriftstellerin jüdischen Glaubens. Sie war vor allem als Lyrikerin bekannt und eine bedeutende Vertreterin des «ungereimten Gedichts». Nach ihrem Exil in der Dominikanischen Republik, der Domin ihren Künstlernamen entlehnte, lebte sie von 1961 an in Heidelberg. Das nebenstehende Gedicht stammt aus «Gesammelte Gedichte», 4. Auflage, Frankfurt a. M. 1993.