«Ich habe Freude an der Liturgie»

Der Liturgiewissenschaftler Martin Klöckener wird Ende September emeritiert. Die SKZ schaut mit ihm auf die Entwicklungen in der Liturgie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und fragt nach seinen zukünftigen Projekten. 

Prof. Dr. Martin Klöckener (Jg. 1955) ist seit 1994 Professor für Liturgiewissenschaft und seit 1999 Direktor des Instituts für Liturgiewissenschaft an der Universität Freiburg i. Ü. Er war bis Ende Juli Vizedekan an derselben Universität. Er wird am 30. September emeritiert.

 

SKZ: Herr Klöckener, was fasziniert Sie an der Liturgiewissenschaft?
Martin Klöckener: Ich habe Freude an der Liturgie selbst. In unserem Fach geht es nicht nur um eine intellektuelle Durchdringung, sondern auch um eine persönliche Motivation, die aus eigener Wertschätzung von Gottesdienstfeiern herrührt. Liturgie ist gleichsam eine Konzentration von Theologie. Die Liturgiewissenschaft kennt viele interdisziplinäre Verbindungen – zur Bibel, Pastoral, Geschichte usw. Sie bietet deshalb viele Anknüpfungspunkte. Interessant finde ich auch den Zusammenhang von Liturgie und Spiritualität. Gerade Liturgie als Ausdrucksgeschehen im geistlichen Bereich ist fundamental. Mich hat auch immer die Beschäftigung mit liturgischen Quellen aus unterschiedlichen Epochen interessiert. Hinter diesen historischen Dokumenten stehen Menschen, frühere Generationen von Schwestern und Brüdern im Glauben, die damit ebenfalls Gottesdienst gefeiert und ihrer Gottessuche Ausdruck verliehen haben. Und Liturgiewissenschaft ist ein stark ökumenisches Fach. Hier in der Schweiz spielt die Ökumene vor allem mit den Kirchen der Reformation eine bedeutende Rolle, aber es gibt auch Ökumene mit den vielen Ostkirchen. Darin besteht ein immenser Schatz. Wenn man diesen aufgreift, ergeben sich für die konkrete Arbeit und das Gottesdienstverständnis interessante und bereichernde Aspekte. Ökumene strebt oft auf eine gemeinsame liturgische Feier hin, da man von Seiten der unterschiedlichen Kirchen realisiert, dass sich vor allem in der liturgischen Feier die Einheit im Glauben ausdrückt.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat im Bereich der Liturgie vieles angestossen. Was wurde bereits umgesetzt und welche Anliegen müssen noch in Angriff genommen werden?
Das Konzil hat in den 1960er-Jahren stattgefunden. Wir haben heute eine völlig veränderte Ausgangssituation, was das Leben in der Kirche, den Glauben, auch was die Einbettung von Kirche und Liturgie in die Gesellschaft betrifft. Man muss natürlich vom Konzil selbst ausgehen, dort sind Grundlagen gelegt, die bleibende Gültigkeit haben; gleichzeitig muss  auch vieles weitergedacht werden. Die erste Sorge nach dem Konzil war, die liturgischen Bücher zu veröffentlichen; denn wenn man gottesdienstliche Erneuerung will, braucht man entsprechende Quellen. Die andere Frage ist, wie weit solche Reformmassnahmen implantiert werden können. Vieles ist problemlos und rasch verlaufen, manchmal sogar schneller, als es die kirchlichen Autoritäten wünschten. Bei anderen Fragen gab es eine weniger glückliche Entwicklung. Ich nenne als ein Beispiel den Umgang mit der Bibel in der Liturgie. Im deutschen Sprachgebiet hat sich bedauerlicherweise weithin durchgesetzt, dass man an Sonntagen und Feiertagen, an denen drei Lesungen vorgesehen sind, fast immer eine Lesung auslässt. Das findet man in keinem anderen Land. Die Frage nach dem Umgang mit der Heiligen Schrift in der Liturgie bleibt eine Herausforderung. Was insgesamt gut gelungen ist und schnell ging, war die Einführung der Muttersprache. Doch da diese viel stärker als eine lateinische Liturgie am Sprach- und Kulturwandel teilhat, sind konsequenterweise in viel grösserer Häufigkeit Erneuerungen der liturgischen Quellen erforderlich. Im deutschen Sprachgebiet gibt es von einigen liturgischen Büchern überarbeitete Neuauflagen, die versuchen, im Rahmen des Möglichen auf gewisse Veränderungen in der Pastoral zu reagieren. Auf das neue Messbuch warten wir noch; auch am Stundenbuch müsste man dringend arbeiten. Für die Tagzeitenliturgie sah das Konzil vor, dass Teile davon von den Gläubigen insgesamt verrichtet werden könnten. Recht bald wurde dieses Vorhaben aber aufgegeben, weil es sich als zu schwierig erwies und man damals doch noch zu sehr im alten «Brevierdenken» verhaftet war. Wir haben heute mit «Magnificat» und «Te Deum» brauchbare Hilfen, doch sind diese auf Einzelbeterinnen und -beter ausgerichtet und nicht auf gemeinschaftliche Feiern. Das ist ein grosses Defizit. Es fehlen Ideen und auch die Bereitschaft, sich in diesem Sinne zu engagieren. Weiterhin spannungsreich bleibt das Verhältnis von Ortskirche und Universalkirche. Das Konzil erkennt die Ortskirchen als vollständige eigene kirchliche Wirklichkeit an, die in Einheit mit dem Bischof von Rom stehen. In der Liturgie hinken wir auf diesem Feld teilweise hinterher. Es braucht eine Einheit in der Liturgie, aber man darf Einheit nicht mit Einheitlichkeit verwechseln; allerdings muss auch der gottesdienstlichen Vielfalt am Erhalt der Einheit gelegen sein. Diese komplexe Problematik wird von verschiedenen Seiten aus zu wenig reflektiert; dahinter stehen nicht zuletzt grundlegende Fragen der Ekklesiologie. Der neue Präfekt der Gottesdienstkongregation hat kürzlich geschrieben, dass man die Vielfalt und Vielgestalt der römischen Liturgie im Blick behalten müsse, die eben auch in den legitimen muttersprachlichen Fassungen bestehe und nicht mehr nur, wie früher, in einer einzigen lateinischen Gestalt. Das war meines Wissens das erste Mal, dass diese Frage vom Apostolischen Stuhl explizit wahrgenommen wurde.

Sie forschen auch über die Geschichte der Liturgie. Welches waren Ihre interessantesten Entdeckungen?
Ich habe viel zur Liturgie bei Augustinus geforscht. Das Werk des Augustinus ist eine exzellente Quelle für das Leben der Alten Kirche, aus dem sich viele Inspirationen für heute gewinnen lassen. Augustinus war die Erschliessung von Liturgie für die Gläubigen ein grosses Anliegen. In vielen Predigten legt er die Liturgie direkt aus oder knüpft an sie an und führt von dort in das christliche Leben hinein. Im Bereich nördlich der Alpen ist es eine hoch spannende Geschichte, wie die römische Liturgie in die gallisch-fränkische Liturgie hinein transferiert wird, wie sie geändert, rezipiert, angepasst wird. Die spätantiken römischen Quellen waren zum Teil recht knapp; so setzte sich beispielsweise Anfang des 9. Jh. jemand im Frankenreich hin und schrieb 222 neue Präfationen. Oder die Verschmelzung mit anderen Liturgiefamilien wie der spanischen Liturgie, deren Texte äusserst emotionsgeladen sind. Es kommen neue Buchtypen auf, die vom tatsächlich notwendigen Gebrauch für bestimmte Feiersituationen ausgehen. Gerade die Karolingerzeit ist in dieser Hinsicht immens schöpferisch. Man bewahrt eine Tradition und zeigt gleichzeitig, wie man sie weiterentwickeln muss, damit sie lebendig bleibt. Zurzeit arbeite ich im Rahmen eines Forschungsprojekts des Schweizerischen Nationalfonds über die Tagzeitenliturgie in St. Nikolaus in Freiburg im Spätmittelalter. Fünf Breviere aus der Zeit zwischen ungefähr 1300 und 1460 sind erhalten, dazu zahlreiche andere Buchtypen wie Antiphonare, Hymnare usw. Sie zeigen, welche Vielfalt es im Mittelalter innerhalb einer Diözese gegeben hat und wie liturgische Texte fortlaufend weiterbearbeitet wurden.

Welche Projekte, Ideen, Wünsche haben Sie für die Zeit nach Ihrer Emeritierung?
Zunächst hoffe ich, dass mir die Gesundheit erhalten bleibt. Ich werde vorerst noch Hauptherausgeber des «Archivs für Liturgiewissenschaft» bleiben, ebenso der Freiburger wissenschaftlichen Reihe «Spicilegium Friburgense». Beim Handbuch «Gottesdienst der Kirche» muss ich, ebenfalls als Herausgeber, selbst noch einen Band über die Quellen der Liturgie schreiben. Als eine alte Pflicht wartet der vierte Band der «Dokumente zur Erneuerung der Liturgie» darauf, abgeschlossen zu werden. Im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt zu den Freiburger liturgischen Quellen möchte ich ein Zeremoniale der heutigen Kathedrale von Freiburg aus dem Ende des 16. Jh. edieren, eine hoch interessante Quelle. Ihr erster Teil befasst sich mit einer Feiertagsordnung und der Verpflichtung zur Sonntagsmesse. Hier sieht man gut, wie die Sozialstrukturen funktioniert haben. Der zweite Teil behandelt das Offizium der Chorherren nach der Lausanner Tradition, aber mit Freiburger Eigenheiten. Der interessanteste Teil ist das Prozessionale, in dem beschrieben wird, welche Prozessionen an welchen Tagen zu welchen Stationen gehalten werden. Wenn man einen Stadtplan daneben legt, kann man noch heute nachverfolgen, welche Wege die Gläubigen damals gegangen sind. Der vierte Teil betrifft die Messe, und das in einer bemerkenswerten Situation: Im Auftrag des Konzils von Trient wurden die neuen Bücher bereits veröffentlicht, diese sind aber in Freiburg noch nicht umfassend eingeführt worden. Französische Kollegen wünschen, dass ich einen Band über meine Augustinusforschung in französischer Sprache publiziere. Des Weiteren gehöre ich einer Arbeitsgruppe an, die Vorüberlegungen für eine Neuausgabe des deutschen Messbuchs anstellt, woraus vielleicht eine längerfristige Arbeit werden könnte. Die vielfältigen Herausforderungen der Gegenwart im Blick auf die Liturgie verdienen eine intensive Beschäftigung. Ich erhoffe mir allerdings schon, dass ich nach der Emeritierung ein bisschen mehr Freiheit und Zeit für die Familie haben werde. Bei allem macht es mir grosse Freude, in der Theologie und speziell in der Liturgiewissenschaft zu arbeiten. Ideen habe ich noch genug. Ich werde schauen, was die kommende geschenkte Lebenszeit mir erlaubt.

Interview: Rosmarie Schärer

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