Der Autor Ariano Suassuna (1927–2014) konvertierte mit 25 Jahren zum Katholizismus. Im Verlauf eines turbulenten Lebens als Theatermensch und Dramatiker studierte er so nebenbei noch Jus und Philosophie, war Professor für Ästhetik in Recife und machte sich landesweit einen Namen als Vertreter eines eigenständigen brasilianischen Volkstheaters. Als sein wichtigstes Werk wird das Theaterstück «Auto da Compadecida» von 1955 werden, mit vollem deutschem Titel «Das Testament des Hundes oder Das Spiel von Unserer Lieben Frau der Mitleidvollen», mehrfach übersetzt und für TV und Film bearbeitet.
Verständnis für die Notlage der Menschen
In genialer Weise treffen sich in diesem Werk die barocken Mysterienspiele im Stile des «Grossen Welttheaters» von Calderón de la Barca (1655) wie auch ihre direkten Nachfolgerinnen etwa bei Shakespeare und Hugo von Hofmannsthal («Jedermann» 1911) mit den bis in die Neuzeit darauf basierenden Stücken. Sie alle schwanken zwischen Komödie und Tragödie, Slapstick und tiefem Ernst.
Es fällt einem als Theologen zunächst schwer, nicht von Häresie und religiösem Unfug zu sprechen, wenn wir die Handlung knapp zusammenfassen: Ein Hund mit Namen Xareú hat in seinem Testament ein lateinisches Begräbnis angeordnet. Die gesamte Dorfprominenz vom Bürgermeister bis zum Bischof streitet nun um das Erbe. Sie wird von Banditen niedergestreckt. Und so landet im dritten Akt die ganze Bagage im Vorhof von Himmel und Hölle, wo sie vom Teufel ausgelacht und von «Manuel», dem Herrn Jesus persönlich, abgekanzelt wird. Bis dies geschieht: Vom Theaterdach auf Mond und Sternen glänzend stehend kommt «Unsere Liebe Frau» niedergefahren, äussert Verständnis für die Notlage der handelnden Personen und stellt sich damit sich sowohl dem Teufel wie ihrem Sohn entgegen. Ihre Fürsprache hat Erfolg: Die Übeltäter werden begnadigt, einige betreten den Himmel, andere wandern ins Fegefeuer, andere werden zurückgeschickt.
Hier nun Originalzitate aus der deutschen Übersetzung von Willy Keller1:
Manuel: «Ich bin es, Manuel, der Löwe aus Juda, der Sohn Davids. Steht auf, das Gericht wartet auf euch! […] Für mich gibt es keinen Unterschied zwischen schwarz und weiss. Ich bin doch kein Amerikaner.»2
Der Teufel: «Da kommt die Mitleidvolle! Die Weiber müssen sich überall einmischen.»3
Die Mitleidvolle: «Es ist wahr, sie gehören nicht zu den Besten, aber du darfst nicht vergessen, was es heisst Mensch zu sein. Das Fleisch bedingt alle diese finsteren und niedrigen Laster. Was sie taten, das taten sie aus Angst. Ich kenne das, denn ich habe mit diesen Menschen gelebt.»4
Und Manuel fast zynisch am Ende der Verhandlung: «Wenn das so weitergeht, wird die Hölle enden [...] ein öffentliches Amt, das zwar existiert, aber nicht funktioniert.»5
Wenn wir vom Vorwurf der Häresie absehen, wenn wir ernst nehmen, dass Suassuna mit den Versatzstücken des grossen Volkstheaters spielt, dann zeigt sich uns das Werk wie eine possenhaft-komödiantische Fortsetzung der theologischen Diskussionen um die Bedeutung Marias im Gesamt christlicher Theologie. Wenn sie in Ephesos gewürdigt wurde, «Gottesmutter» zu sein, später «unbefleckte Empfängnis» zu sein, direkt in den Himmel Aufgenommene zu sein, wenn sie gar als «Miterlöserin» im Gespräch war, dann bekommt sie in diesem Volkstheater die Bedeutung eines Korrektivs zu einem rigorosen Verständnis der neutestamentlichen Reich-Gottes-Botschaft als einer so dringlichen, dass besser Hände abgehackt und Augen ausgerissen würden, als dass der Botschaft des Rabbi aus Nazareth irgendetwas vorgezogen würde. Die grosse Mutter, die das Volk versteht und auf die das Volk in seiner ganzen Erbärmlichkeit darum vertrauen kann, was für ein Bild! Nicht mehr Komödie, sondern tiefer religiöser Ernst.
Heinz Angehrn