Wie kann Gott Menschen bedeutsam werden?

Gerade auch angesichts von Versagen und Leid sehnen sich die Menschen nach Heil. Hier kann der christliche Glaube an die Inkarnation Gottes anknüpfen. Denn in ihr kommen Licht und Dunkel zur Sprache.

«Das gelebte Christentum der Gegenwart ist vor allem ein Weihnachts-Christentum. […] Weihnachten ist nicht nur das ‹Fest der Feste›, Weihnachten – und nicht Karfreitag oder Ostern – ist das ‹Christfest›. Im Gegenzug haben Karfreitag und Ostern […] an Bedeutung verloren […]. An die Stelle des Kreuzes ist die Krippe getreten, und mit ihr die Geschichte von dem kindgewordenen Gott im Stall zu Bethlehem.»1 Was fangen wir mit diesen Beobachtungen an? Provozierend sind sie allemal für eine Christologie, die selbst von sich behauptet, dass ihre Wahrheit mit dem Wort vom Kreuz steht oder fällt.

Wer ist denn dieser Jesus Christus?

Man sollte zunächst die beschriebenen Phänomene nicht einfach mit dem Hinweis abtun, solche Weihnachtschristen seien doch gar keine echten Christen; Weihnachten sei hier nur noch ein bürgerlich-kommerzielles Versatzstück ohne religiöse Bedeutung und theologische Tiefe. Das hiesse nämlich, nicht nur die zentrale Grunderkenntnis der anthropologischen Wende in der Theologie – dass nämlich die «Heilsbedeutsamkeit eines Gegenstandes der Theologie, die ein notwendiges Moment jedes theologischen Gegenstandes ist, … sich nur erfragen [lässt], indem auch nach der Heilsempfänglichkeit des Menschen für diesen Gegenstand gefragt wird»2 – in den Wind zu schlagen. Es hiesse auch, sich an der Herausforderung vorbeizumogeln, dass die Frage, wer denn dieser Jesus Christus eigentlich ist und wie er Menschen von heute bedeutsam werden kann, in unserer Zeit vielleicht anders beantwortet werden will, als dies in früheren Epochen des Christentums der Fall war.

Wer ist Gott? Wer sind wir?

Das Bekenntnis zur Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus hatte aber immer schon eine grundlegend heuristische Funktion: den Glauben an jene im Christusereignis letztgültig sichtbar gewordene, nicht mehr aufhebbare Beziehung von Gott und Mensch plausibel zu machen. In der Frage der Christologie geht es um nichts weniger als die Gottesfrage selbst: Wer ist Gott? Und es geht um die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Mensch und dem sich daraus ergebenden Stellenwert der Frage nach dem Menschen: Wer sind wir? Dieser Jesus von Nazareth ist eben nicht nur ein vorbildhafter Mensch, nicht nur ein menschlicher Vermittler, sondern in ihm und durch ihn eröffnet Gott selbst dem Menschen die Möglichkeit der Gemeinschaft mit ihm. Durch diesen Jesus von Nazareth kommt man mit Gott selbst in Kontakt. «Was hat Jesus gebracht?» – so stellt Benedikt XVI. im ersten Band seiner «Jesus-Triologie» die entscheidende Frage, um sie mit dem schlichten Satz zu beantworten: Er hat Gott gebracht.3 Und gerade das hat anthropologische Relevanz: «Vielleicht ist ein Gott, der selbst Mensch wird, das Grösste, das dem Menschen widerfahren kann: ein Gott, der in die Grösse, aber eben auch in die Niederungen seiner Schöpfung eingeht, indem er nun selbst Mensch wird – ja, der deshalb Mensch wird, weil er nur so seine von Anfang an ihm bestimmende Menschenfreundlichkeit offenbar werden lassen wollte.»4

Eine so verortete Christologie wechselt die Grundperspektive. Eine Theologie der Menschwerdung beruht auf der Wahrheit, dass sich das Göttliche im Menschlichen zeigt, dass dieses Leben hier und jetzt eine göttliche Würde hat. Vielleicht noch stärker als von der schöpfungstheologischen Begründung her steht hier die Würde des Menschen im Mittelpunkt. Das geschieht, ohne dabei die vorhandenen Runzeln und Makel einfach wegzuwischen. Aber diese haben eben nicht das letzte Wort, sondern bergen die Möglichkeit eines geschenkten Neuanfangs. Gott selbst wird zum Vorbild wie zur Hebamme wahren menschlichen Lebens. «Dass man in der Welt Vertrauen haben kann und dass man für die Welt hoffen darf», so formuliert die jüdische Philosophin Hannah Arendt, «ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ‹die frohe Botschaft› verkünden: ‹Uns ist ein Kind geboren›.»5

Wo bleiben Kreuz und Passion?

Sicher hat sich ein solches Weihnachts-Christentum der Frage zu stellen, ob es mehr ist als eine reine Ästhetisierung des Christentums, ein zivilreligiös-bürgerliches kulturelles Versatzstück, das seine Plausibilität letztlich durch eine Infantilisierung der Welt gewinnt. Es muss beweisen, dass es mehr ist als eine erstweltliche Wellness-Variante von Religion, die die Fragen nach Sünde, Schuld, Ungerechtigkeit, Leid und Tod dadurch «löst», dass es sie verharmlost. Das ist nur dort zu leisten, wo die im Inkarnationsbekenntnis gründende Sehnsucht nach Vollendung in einer noch unvollendeten Welt offengelegt wird. Wo die Hoffnung auf Frieden in einer friedlosen Zeit und der Glaube an Gerechtigkeit auch angesichts erfahrener Ungerechtigkeit als die Orte benannt werden, an denen der Mensch heute noch die Sehnsucht nach Heil spürt, weil er die eigene Heillosigkeit wie die Geschundenheit der Welt als eine Herausforderung erfährt, auf die er alleine keine Antwort weiss bzw. sie sich nicht (mehr) zutraut.

Ist das wirklich eine ernstzunehmende Art von Theologie, fehlt dieser christologischen Perspektive nicht das Wesentliche? – so mag sich jetzt mancher fragen. Wo bleibt die Herausforderung von Kreuz und Passion? Wo die Erfahrung der Abgründigkeit, der Gottesferne, ja Gottesnacht? Das Wort vom Kreuz ist eben nicht schön, es ist Provokation, es ist Störung des Gewohnten; das Kreuz ist Skandalon – Anstoss – ,doch wozu? Letztlich doch dazu, dass keiner mehr daran zweifeln kann, dass Gott Ernst mit dem macht, was er im Stall zu Bethlehem versprochen hat. Die Krippe eines sich so entäussernden Gottes, der dort «elend, nackt und bloss» liegt, steht so nicht gegen, sondern in der dunklen Nacht des Kreuzes. Alfred Delp hat diese innere Ernsthaftigkeit von Weihnachten in der existenziellen Bedrohtheit des Lebens in der KZ-Haft einmal so umschrieben: «Wir sind dem Leben mehr gewachsen, lebenstüchtiger und lebenskundiger, wenn wir den Weisungen dieser […] Nacht uns öffnen. […] Lasst uns dem Leben trauen, weil diese Nacht das Licht bringen musste. Lasst uns dem Leben trauen, weil wir es nicht mehr allein zu leben haben, sondern Gott es mit uns lebt.»6

Durch die Inkarnation gestärkt

Ohne die Grundintuition des Christentums – Gott in Welt – fehlt dem Menschsein, seiner Würde usw. etwas Zentrales. Darauf hatte schon Hans Blumenberg in seiner «Legitimität der Neuzeit» aufmerksam gemacht, wenn er schreibt: Gerade der «Inkarnationsgedanke» ist «eine unendliche Bestärkung der menschlichen Selbstachtung». Denn durch «ihn blieb nicht beliebig und provisorisch, welche Gestalt der Gott annimmt, denn diese Gestalt wird sein eigenes und bleibendes Schicksal».7 Die religionskritische Moderne wird sich mit der Frage konfrontieren müssen, ob sie durch die, für alle Aufklärung notwendige, Emanzipation des Denkens vom Glauben nicht auch eine tragfähige Basis der Würdigung und Wertung des Menschen aufgibt, indem sie das biblische Bekenntnis zu Gottesebenbildlichkeit und Inkarnation, also das «nervöse Zentrum» des jüdischen bzw. christlichen Erbes, einfach über Bord wirft. Es ist kaum zu leugnen, dass die säkulare Vernunft seither damit beschäftigt ist, die im Inkarnationsbekenntnis liegende unüberbietbare Würdigung des Menschen auf andere Weise wieder einzuholen, ohne mit diesen Versuchen je an ein Ziel zu gelangen.

«Christen bekennen von ihrem Gott, dass er sich nicht zu gut war, einer der Menschen, einer unter unendlich vielen zu werden, er, der einzige und einmalige schlechthin. […] Genau dieser Gottesgedanke ist es, was den christlichen Glauben einzigartig macht: Er macht feinfühlig dafür, dass etwas so Unbedeutendes, Kleines, Überflüssiges, Zerbrechliches, wie es der Mensch seiner Natur nach ist, zugleich einmalig sein kann.»8 Damit ist die christliche Gottesrede in einem zentralen Punkt anschlussfähig an die Grundsignatur der Moderne, die gerade in der Würde, ja «Sakralisierung»9 der menschlichen Person ihre Mitte findet. Chancen, mit unserer Gottesrede heute Zutreffendes, Richtiges, ja Bedeutungsvolles zu sagen, hätten wir schon.

Johanna Rahner

 

1 Morgenroth, Matthias, Weihnachts-Christentum. Moderner Religiosität auf der Spur, Gütersloh 2002, 12.

2 Rahner, Karl, Theologie und Anthropologie, in: Sämtliche Werke, Bd.22/1a, Freiburg 2013, 283–300, 292.

3 Benedikt XVI. / Ratzinger, Josef, Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg 2007, 149.

4 Striet, Magnus, Krippengeflüster. Weihnachten zwischen Skepsis und Sehnsucht, Stuttgart 2007, 15.

5 Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 111999, 317.

6 Delp, Alfred, Allen Dingen gewachsen sein, Jahres-Lesebuch, hg. v. F. B. Schulte, Frankfurt 2005, 391f.

7 Blumenberg, Hans, Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt 2007, 585.

8 Müller, Klaus / Stubenrauch, Bertram, Geglaubt – Bedacht – Verkündigt, Regensburg 1997, 162.

9 Joas, Hans, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011.

 


Johanna Rahner

Prof. Dr. Johanna Rahner (Jg. 1962) ist Professorin für Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie an der Universität Tübingen.