Junge Menschen sind an Christus interessiert

Die wachsende Säkularisierung führt in Katechese und Religionsunterricht zu einem Rückzug auf eine Jesu-logie. Wie können Religionslehrpersonen Jesus als den Christus thematisieren?

Auf Jesus Christus können Religionsunterricht und Katechese nicht verzichten. Zugleich scheint angesichts wachsender Säkularisierung sowie weltanschaulicher und religiöser Pluralisierung der Rückzug auf eine Jesulogie, die sich auf die geschichtliche Person Jesu und sein Wirken beschränkt, unverfänglicher und leichter als die Bearbeitung komplexer christologischer Fragen. Diese scheinbare Lösung reicht jedoch nicht aus, und zwar nicht nur aus theologischen Gründen. Denn empirische Studien weisen darauf hin, dass die Kinder und Jugendlichen selbst ein gewisses Interesse für solche Fragen artikulieren und selbst christologische Konzepte konstruieren. Konsens besteht innerhalb der Religionspädagogik, dass die Rede von Jesus als Christus von der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler ausgehen und zugleich theologisch orientiert sein muss, dass sie deren Deutungsweisen aufgreifen und mit denen der Tradition in Verbindung bringen muss. Dafür bieten sich unterschiedliche Erfahrungen und Lebenskontexte an: (religiöse) Identitätssuche und Subjektwerdung, die Frage nach Glück und einem guten Leben, die Erfahrung von Schuld und die Sehnsucht nach ihrer Bewältigung, das Bedürfnis nach Anerkennung und Bejaht-Werden.

Anwege «von unten» und «von oben»

Theologische Zugänge nehmen mehrheitlich einen Anlauf «von unten», vom geschichtlich erinnerten Jesus, um von ihm her den Weg zum Christus des Glaubens zu bahnen. Alternativ entfalten sie den Weg zum Menschen Jesus «von oben», nämlich von Gott, dem Vater her, der seinen Sohn in die Welt sendet. Beide Zugänge sind nicht im Sinne eines Entweder-Oder zu verstehen, sondern bedürfen der wechselseitigen Ergänzung. Es bietet sich an, «von unten», vom geschichtlichen Menschen Jesus von Nazareth auszugehen und sein Leben und Wirken narrativ zu erschliessen: den Wanderprediger, der die Botschaft vom Reich Gottes verkündet, Jünger beruft, Kranke heilt, Aussätzige und Ausgestossene in die Gemeinschaft zurückholt, mit Zöllnern und Prostituierten Gemeinschaft pflegt und mit seinem Verhalten politisch und religiös solchen Anstoss erregt, dass er dafür gekreuzigt wird.

Studien haben jedoch gezeigt, dass Jugendliche und bereits Kinder auch christologische Konzepte «von oben» konstruieren, vor allem dann, wenn sie religiös sozialisiert sind und Gott für sie eine mehr oder weniger unhinterfragbare Wirklichkeit darstellt. Wo dem Gottesgedanken und Gottesbegriff Plausibilität zukommt und er nicht erst Schritt für Schritt angebahnt werden muss, ist die Vorstellung, dass dieser Gott seinen «Boten» oder «Sohn» in die Welt schickt, nicht völlig fremd. Entfalten lässt sich solche Christologie «von oben» vor allem im Kontext der Weihnachtstheologie: Gott schickt seinen Sohn und wird in ihm selbst Mensch. Auch die johanneische Tradition von der Inkarnation, der Fleischwerdung bzw. Menschwerdung des Wortes ist ein möglicher Anknüpfungspunkt. Entsprechende Texte des Johannesevangeliums, das im Religionsunterricht selten berücksichtigt wird, ergänzen die synoptischen Erzählungen. Sie bieten mit ihren Metaphern, wie der vom Licht, das in die Welt kommt und die Dunkelheit erleuchtet, ebenso wie mit ihrer philosophischen Begrifflichkeit Anlass zum Theologisieren. Wichtig ist es, dass Kinder und Jugendliche im Lauf der Zeit nicht nur unterschiedliche christologische Perspektiven angeboten bekommen, sondern zugleich befähigt werden, diese miteinander in Beziehung zu setzen und zu vernetzen.

Auf den Spuren impliziter Christologie

Ein anderer theologischer Zugang ist nicht räumlich an der Vertikale von oben und unten orientiert, sondern zeitlich an der Horizontale vor bzw. nach der Auferstehung als Dreh- und Angelpunkt der Christologie. Entsprechend unterscheidet er zwischen der nachösterlichen expliziten Christologie, die das christologische Bekenntnis in vielfältigen Formeln und Hoheitstiteln artikuliert, und der vorösterlichen impliziten Christologie, die sich suchend-stammelnd der besonderen Bedeutung Jesu von Nazareth nähert. Mit der Erfahrung, dass er die zur Verfügung stehenden bekannten Kategorien – Lehrer, Rabbi, Prophet – sprengt, verbindet sie die Ahnung, dass er mehr ist als ein gewöhnlicher Mensch, ohne dies zu seinen Lebzeiten adäquat artikulieren zu können. Implizite Christologie lässt sich nicht nur sinnvoll mit der Christologie «von unten» verbinden. Sie ist auch anschlussfähig an christologische Sprech- und Denkversuche von Kindern wie von Jugendlichen, die sich häufig des Komparativs bedienen, um das «mehr» zum Ausdruck zu bringen, das Jesus auszeichnet: Er kann «besser» heilen als andere, ist hilfsbereiter, «grösser», «mehr Mensch». Religionsunterricht und Katechese haben die Aufgabe, Kinder und Jugendliche auf eben diese Spur des «mehr» zu setzen, um sie auf diese Weise für das Göttliche in Jesus zu sensibilisieren: indem sie die Aufmerksamkeit auf die besondere enge Beziehung Jesu zu seinem Vater lenken, die ihn auch im Tod und durch den Tod hindurchträgt, und indem sie Jesu vollmächtiges Handeln herausstellen – seine Auslegung des Gesetzes, die ihn von anderen Gesetzeslehrern unterscheidet, seinen Umgang mit Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, seinen Zuspruch der Sündenvergebung, der ihm den Vorwurf einbringt, er lästere Gott.

Wahrer Gott und wahrer Mensch

Um das Bekenntnis zu Jesus Christus als wahrem Menschen und wahrem Gott zu erschliessen, ist der Rekurs auf die altkirchliche Lehre von den zwei Naturen nur bedingt zielführend, denn sie verleitet zur Vorstellung von «halb Gott, halb Mensch». Neueren theologischen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie ernst machen mit der Grundüberzeugung der christlichen Anthropologie, nach der Menschsein keine in sich abgeschlossene Grösse ist, sondern gekennzeichnet durch die Fähigkeit zur Selbstüberschreitung und zum Transzendieren. Sichtbar wird dies in besonderer Weise in der Frage nach einem Leben über den Tod hinaus, in allen Akten der Hoffnung, die sich nicht mit dem Bestehenden zufrieden geben, in der Liebe durch die Übereignung an einen anderen Menschen. Solches Transzendieren richtet sich nach christlicher Überzeugung auf ein Absolutes und ist Ausdruck der Ausrichtung auf Gott und der Verwiesenheit auf seine Fülle. Gott lässt das menschliche Transzendieren nicht ins Leere laufen, sondern erfüllt es, indem er sich ihm selbst mitteilt. Menschsein in theologischer Perspektive realisiert sich demnach im vollen Sinn nur, wenn der Mensch die Selbstmitteilung Gottes annimmt und in Beziehung zu Gott tritt. Karl Rahner umschreibt das Verhältnis von Menschsein und Gottsein als das von «Hörer» und «Wort», die Theologie in seinem Gefolge als Frage und Antwort, Suchen und Mitteilen, Leere und Fülle, Weg und Ziel. Entscheidend ist der Gedanke, das Gott und Mensch als zwei Wirklichkeiten gedacht werden, die aufeinander hin offen sind. So und nur so kann der Mensch ganz bei Gott und umgekehrt Gott ganz beim Menschen ankommen. Jesus Christus ist wahrer Gott gerade als wahrer Mensch und lebt wahres Menschsein so, dass er zum wahren Gott wird. Damit bietet sich ein taugliches Modell, um Jesus Christus als «ganz Mensch und ganz Gott» zu denken. Seine Stärke besteht darin, dass das Göttliche nicht im Sinne einer «Baukasten-Christologie» additiv zum Menschsein Jesu Christi hinzutritt, sondern nirgendwo anders aufzufinden ist als gerade in seinem Menschsein.

Als religionsdidaktisches Programm folgt daraus: Wer von Jesus Christus reden möchte, muss zuerst vom Menschen reden. Christologie ist nicht nur Gottes-, sondern zugleich Menschen-Lehre, weil sie Grundlegendes sowohl über Gott und seine Selbsterschliessung aussagt als auch über das Menschsein. Auf diese Weise konfrontiert sie jeden Menschen mit der Frage nach dem Sinn von Menschsein. Dass Menschsein nach christlichem Verständnis auf Gott hin angelegt ist und nur in der Beziehung zu Gott seine Erfüllung findet, ist allerdings nicht einfach lehr- und didaktisierbar, sondern das grosse Thema von Religionsunterricht und Katechese, das in vielen Variationen und immer wieder neu anzugehen ist.

Sabine Pemsel-Maier


Sabine Pemsel-Maier

Prof. Dr. theol. Sabine Pemsel-Maier (Jg. 1962) studierte katholische Theologie, Philosophie, Pädagogik und Germanistik in Freiburg und Wien, war Gymnasiallehrerin und in der Ausbildung von Lehrkräften tätig. Seit 1997 ist sie Professorin für Dogmatik und ihre Didaktik, nach verschiedenen Stationen seit 2016 an der Pädagogischen Hochschule Freiburg i. Br. und der School of Education der Universität Freiburg i. Br.

 

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