Wie der Körper auf Berührung reagiert

Die Tastsensibilität bildet sich schon in der siebten Schwangerschaftswoche aus und ist entscheidend für die Entwicklung des Kindes. Auch als Erwachsene sind wir auf Körperkontakt angewiesen.*

Als Zeichen Ihrer Anteilnahme umarmte die neuseeländische Ministerpräsidentin Hinterbliebene der Terroropfer in aller Öffentlichkeit. Dieser Körperkontakt folgte keinem Protokoll der sonst üblichen Körperkontaktkultur im politischen Geschäft, sondern er war Ausdruck einer persönlichen Erschütterung über das Massaker. Diese menschliche Reaktion von Jacinda Ardern ist auf der politischen Bühne eher selten zu beobachten. Trotz dieser spezifischen Besonderheit der Situation wird darin ein allgemeines Reaktionsmuster deutlich, das auch in anderen Kontexten bei den Menschen zu beobachten ist. So ist es in allen Kulturen bei Traueranlässen durchaus üblich, dass Menschen, die sich kaum oder gar nicht kennen, Ihre Anteilnahme durch Umarmung der Hinterbliebenen dokumentieren. Das unausgesprochene und allgemein gültige Körperkontaktverbot der verschiedenen Kulturen wird im Rahmen von Trauer, Angst und Entsetzen durchbrochen. Ähnlich verhält es sich bei besonders freudigen Anlässen. Fernsehmillionäre umarmen ungeniert vor laufender Kamera den Moderator. Fussballspieler aller Ligen und Nationen nehmen intensiven körperlichen Kontakt zum Torschützen auf. Ist das Torereignis von besonderer Wichtigkeit, dann sind auch Haufenbildungen von Mitspielern über dem Körper des Torschützen beobachtbar. Gipfelstürmer umarmen sich nach Erreichen ihrer Höhenziele ebenso wie die Crewmitglieder des Kontrollzentrums nach einer gelungenen Raumfahrtmission.

Distanz vs. spontaner Körperkontakt

Über keine dieser skizzierten Verhaltensepisoden wundern wir uns im Alltag. In besonderen Momenten der Freude, Trauer oder Angst ist unsere Spezies beinahe reflexhaft bereit, die sonst übliche körperliche Zurückhaltung durch eine extreme Erweiterung der Körperkontaktzone zu überwinden. Dies gilt sowohl für die aktive als auch für die passive Position einer Körperinteraktion. Als Akteure wissen wir, dass es dem Anderen wenig nützt, wenn wir einen mehr oder weniger sachlichen Vortrag zum emotional geladenen Sachverhalt beisteuern. Dann wählen wir das schnellere Kommunikationsmittel: die Umarmung. Im umgekehrten Fall, wenn wir uns selbst in einem ausserordentlichen Zustand befinden, erwarten wir vom anderen keine gewählten Worte. Sondern dessen Mitgefühl, seine Unterstützung oder sein Beistand kann uns am besten versichert werden, wenn diese Signale körperlich transportiert werden. In Paarbeziehungen sind diese Mechanismen in der Regel Teil der Beziehungskultur. Aber hinsichtlich des fremden Anderen erklärt es sich nicht von selbst, warum entgegen der reichhaltigen Tabuisierungen der spontane Körperkontakt dennoch Teil unseres Alltagshandelns ist. Denn wird dieses Verhalten aus kognitiv-rationaler Sicht betrachtet, wäre zu erwarten, dass unsere Spezies aufgrund der allgemeinen Sprachfähigkeit diese Mittel genügen müssten, um die kommunikativen Aspekte des Erlebens, allein durch Verbalisierungen hinreichend zu transportieren. Sachlich betrachtet sollte es für die Beteiligten der o. g. Verhaltensskizzen durchaus genügen, wenn die Ministerpräsidentin oder die Fussballspieler ihre Botschaften jeweils verbal zum Ausdruck brächten. Auch zeichensprachliche, schriftliche Signale wären denkbar. Es erschliesst sich somit nicht auf den ersten Blick, warum die sprachlichen Mittel für den kommunikativen Austausch unserer Spezies offenbar nicht immer ausreichend sind und das menschliche Verhalten zum Teil handgreifliche Züge entwickelt.

Körperkontakt – biologisch notwendig

Um diesen Verhaltensaspekt besser zu verstehen, ist ein Blick auf die herausragende Reaktibilität des Säugetiers Mensch hinsichtlich verschiedener Qualitäten von Tastsinnesreizen erforderlich. Hierbei ist als Erstes hervorzuheben, dass die Reaktion auf leichte Verformungen der physischen Körpergrenzen (Haut) schon vorgeburtlich, in der siebten Schwangerschaftswoche, nachgewiesen werden kann. Lange bevor sich eine Reaktibilität für andere Sinnesqualitäten entwickelt, ist der Fötus in der Lage, physische Einwirkungen auf seinen Körper zu registrieren. Diese hohe und extrem frühzeitige Tastsensibilität des fötalen Säugetiers ist keine zufällige Laune der Natur, sondern eine biologische Notwendigkeit. Einerseits verwertet der Säugetierorganismus die Körperkontaktreize in Form von Wachstumsprozessen, andererseits stabilisieren sie die neuronale Kartierung der eigenen Körpergrenzen. Durch die mütterlichen Bewegungen und durch seine Eigenbewegungen erfährt der Fötus ein reichhaltiges Repertoire an passiven (taktilen) und aktiven (haptischen) Tastsinnesreizen. Sie sind es, die entscheidend das neuronale und körperliche Wachstum des Fötus fördern. Fehlt die Stimulation des Organismus durch Tastsinnesreize, wie etwa bei Frühgeborenen im Inkubator, dann sind Reifungsverzögerungen oder Reifungsstörungen die Folgen. Die funktionale Bedeutung der tastsinnesspezifischen Körperstimulation setzt sich auch nachgeburtlich fort. Sowohl am Tiermodell als auch in humanen Studien ist sicher belegt, dass sozial vermittelte Körperberührungen nicht nur das zelluläre Wachstum junger Säugetiere auf verschiedenen Ebenen fördern, sondern auch auf die Regulation der Stress- und Schmerzbiologie wirken sich adäquate Berührungsreize positiv aus. Erregungs- oder Schmerzzustände kann ein Säugling oder Kleinkind umso besser bewältigen, je mehr die körpereigene Biochemie der Stress- und Schmerzregulation durch adäquate mechanische Hautverformung unterstützt wird. Es sind Berührungsreize, die der kindliche Organismus in einen komplexen neurochemischen Cocktail verwandelt, der sich auf neurobiologischer und psychischer Ebene als Entspannungsreaktion nachweisen lässt.

Berührungen im Gottesdienst?

Der in früher Kindheit erlernte Mechanismus einer erfolgreichen biochemischen Verwertung leichter bis mittelstarker Hautverformungen ist der Schlüssel zum Verständnis, warum wir auch im Erwachsenenalter – trotz Abitur und ausreichender kultureller Formung – unser soziales Umfeld mit mässig starken Hautverformungen konfrontieren. Wenige Sekunden Körperkontakt sind nicht nur sozial-kommunikative Akte der nichtsprachlichen Verständigung unserer Spezies, sondern sie dienen vor allem den Akteuren, einen Zustand der psychischen Homöostase1 zu erreichen. Pendelt das neurobiologische Erregungsniveau bei übermässiger Freude, Trauer oder Angst über ein ertragbares Niveau hinaus, dann aktiviert die kurze mechanische Verformung der Körperhaut einen Grossteil der komplexen Entspannungsbiologie, die wir für die Regulation unserer Emotionen benötigen. Berührungen zwischen Menschen stehen demnach mitnichten ständig im Dienst reproduktiver oder sexueller Interessen. Sie helfen dem Säugetier Mensch, bei psychischer Imbalance wieder einen Zustand der Handlungs- und Sprachfähigkeit zu erreichen.

Diese biologischen Gesetze kommen auch in religiösen Feiern zum Tragen. Je nach liturgischer Regel finden während des Gottesdienstes kurze Berührungen unter den Teilnehmenden statt. Die physiologische Intensität dieser Berührungen gleicht dabei keineswegs denen einer handfesten Umarmung. Dennoch sind diese leichten Verformungen der Körperhaut intensive Momente für die Beteiligten. Der sonst dominant genutzte sensorische Fernraum zwischen allen Beteiligten aus Sprache, Musik, Geruch und Seheindrücken wird für einen kurzen Moment um die körperliche Ebene erweitert. Nicht nur eine sensorische Grenze innerhalb der religiösen Zeremonie wird hierbei durchbrochen, sondern auch eine ganz natürliche, kulturelle, die immer zwischen uns Menschen besteht. Der religiös motivierte und liturgisch begleitete Kontakt zwischen uns Menschen – sei er auch noch so kurz – ist ein zentraler Bestandteil der körperlichen Vergewisserung der spirituellen Szene. Ohne diese Sinnesreize würden wir spirituelle Handlungen weniger intensiv und auch weniger als persönliches Geschehen wahrnehmen. Die liturgische Berührung dient der körperlichen Gewissheit aller Beteiligten, dass sich im religiösen Kontaktritual zwei körperliche und nicht imaginäre Wesen begegnen. Diese Botschaft spendet nicht nur Gewissheit, sondern auch Trost. Alle Beteiligten erfahren auf diese Weise, dass der Mensch, unabhängig von der konkreten gesellschaftlichen Sphäre, in der er sich befindet, auf den körperlichen Kontakt zu seinen Mitmenschen nicht verzichten kann. Dieser Bedarf ist kein Mangel unserer Natur, sondern Ausdruck unseres Menschseins als Homo hapticus.

Martin Grunwald

 

* Der vorliegende Text wurde in Teilen bereits in Forschung & Lehre, 26/8 (2019), 746–447 veröffentlicht.

1 Der Begriff Homöostase wird u. a. in der Medizin und in der Psychologie benutzt und bezeichnet die Aufrechterhaltung des sogenannten inneren Milieus des Körpers – z. B. den Kreislauf, die Körpertemperatur, den Hormonhaushalt – mit Hilfe von Regelsystemen.

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«Homo hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können». Von Martin Grunwald. München 2017. ISBN 978-3-426-27706-5, CHF 31.90. www.droemer-knaur.de


Martin Grunwald

Prof. Dr. habil. Martin Grunwald (Jg. 1966) leitet das HaptikForschungslabor am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung an der Universität Leipzig und lehrt an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein (Halle) das Fach Wahrnehmungspsychologie und Gestaltung.