"Wie (be-)finden wir uns gemeinsam auf dem Weg zur Mitte?"

Unter diesem Titel fand am "Nationalen Ökumenischen Gedenk- und Feiertag 500 Jahre Reformation – 600 Jahre Niklaus von Flüe" am 1. April 2017 eine Podiumsdiskussion statt.1

Zu unterstreichen ist in diesem Titel zuerst das kleine Wörtchen "Wie". Die Frage ist nicht "ob"; wir befinden und finden uns gemeinsam auf dem Weg zur Mitte. Zum ersten Mal nach 500 Jahren ist das Reformationsjahr eine gemeinsame Sache. Selbst wenn viele in ihren eigenen Lebensgeschichten die Ökumene vielleicht selbstverständlich erfahren haben: Über die geschehene Wende zur Ökumene lässt sich gerade in diesem Jahr staunen. Das ist ein Ereignis der Gnade! Das kleine Wörtchen "Wie" erinnert uns aber auch an unsere Verantwortung. Die Zusammengehörigkeit von Gnade und daraus erwachsender menschlicher Verantwortung ist ja eines der zwischen den Konfessionen ehemals umstrittenen und heute bereits ökumenisch gemeinsamen Themen. Johannes Calvin würde sagen: Die Gnade lockt uns; sie ist geschenkt und bringt ihre eigene Dynamik mit, doch müssen wir auf das Locken horchen und uns auf diese Bewegung einlassen. Wozu lockt sie uns? Wie geht der gemeinsame Weg zur Mitte? Dazu drei Anstösse.

(1)   Schritte zur Einheit

Die Gnade lockt uns zur Einheit. Typisch katholisch, dies so dezidiert zu sagen? Na immerhin hat sie nicht von der sichtbaren Einheit gesprochen, denken manche vielleicht. Zur sichtbaren Einheit haben wir uns gemeinsam in der Charta Oecumenica bekannt. Allerdings ist die Formel manchmal zu einer Parole geworden, die sich wie eine Keule schwingen lässt, und das ist wenig hilfreich. Darum sollten wir uns um einen neuen Angang zu diesem Thema bemühen.

– Einheit: Das ist mehr als ein freundliches Nebeneinander, in dem wir uns dann doch immer wieder auf Kosten voneinander profilieren, ein Nebeneinander, bei dem wir nicht hinreichend in die Verantwortung füreinander genommen sind und uns nicht genug gegenseitig bereichern. Hier wünsche ich mir von reformierter Seite eine stärkere Bemühung um das, was verbindliche Verbundenheit bedeuten könnte.

– In welcher Form von Einheit das gelingen kann, sehen wir noch nicht vor uns, und deswegen sollten wir auf katholischer Seite aufhören, fordernd von Einheit zu sprechen, als hätten wir dafür schon ein glaubwürdiges Konzept. Wir (gerade auf katholischer Seite) müssen lernen, konkrete Schritte zu tun, noch bevor wir das Ziel genau kennen.

Niklaus von Flüe ist sein Leben lang getrieben von der Suche nach dem "einig Wesen". Als er 1467 aufbricht, geht er auf den Weg, ohne zu wissen, wohin es ihn führen wird.

(2) Weg von immer noch wirksamen Abgrenzungen

Die Gnade lockt uns weg von immer noch wirksamen Abgrenzungen. Wir müssen endlich lernen, dass unsere jeweiligen Stärken gleichzeitig unsere Schwächen sind, wenn wir bei Einseitigkeiten stehen bleiben.

– Dann ist die katholische Stärke der Einheit ein erdrückender Zentralismus, und dann tendiert die reformierte Stärke der Vielfalt zu blosser Unverbundenheit.

– Dann geht über dem katholischen Akzent bei der Kirche allzu leicht die individuelle Würde jedes einzelnen Christen und jeder einzelnen Christin vergessen. Dann geht bei der reformierten Würdigung des Individuums allzu leicht die Zusammengehörigkeit in der Gemeinschaft vergessen.

– Dann versäumt die katholische Seite das längst fällige Nachdenken über kreative und auch revidierende Umgangsweisen mit der Tradition. Dann versäumt die reformierte Seite das Nachdenken über die Möglichkeit und Notwendigkeit verbindlichen Sprechens und Handelns in der Kirche.

 

Niklaus von Flüe ist angesehen als der grosse Mittler. Wir sollten von ihm lernen, wie sehr eine gesunde Mitte uns aus unseren konfessionellen Einseitigkeiten und aus unserem konfessionellen Eigennutz herausholen muss.

(3) Aggiornamento

Die Gnade lockt uns dazu, uns nicht mit Abgrenzungen aufzuhalten, sondern uns gemeinsam den heutigen Herausforderungen zu stellen. Ich nenne es mit katholisch vertrauter Begrifflichkeit Aggiornamento.

Ein Blick auf das Lebenswerk der Reformatoren kann uns vor Augen stellen, worum es geht. Die theologische Arbeit der Reformatoren betraf nicht nur die Neuformulierung des Glaubens im Gegenüber zur damaligen römischen Kirche. Sie leisteten auch die Transformation des mittelalterlichen Glaubensgebäudes in neuzeitliches Denken. Dies ist der Grund für ihr beeindruckendes Lebenswerk, das nicht nur quantitativ erstaunlich ist, sondern zudem in der Breite verschiedener Textgattungen, Themenbesund Argumentationen aussergewöhnlich ist. Es war eine neue Aneignung des gesamten Glaubens: ein umfassendes Aggiornamento!

Etwas Ähnliches ist heute verlangt. Auch wir müssen uns den Glauben in einem veränderten kulturellen Kontext aneignen, und wenn wir das ernst nehmen, muss uns das viel mehr umtreiben und auch zueinander treiben – wir können es uns nicht leisten, uns ohne einander in diese Transformation des Glaubens hineinzubegeben.

Niklaus von Flüe war nicht nur vor der Zeit im Ranft, sondern erst recht dort ein Leben lang ein Gottsucher. An ihm lässt sich ablesen, was es auch uns existenziell kosten muss, im Glauben Suchende zu sein.

Ausblick

Handelt es sich hier noch zu sehr um eine blosse Diagnose, der die Konkretionen für die Therapie fehlen? Ein wesentliches Moment der Therapie dürfte durchaus die jeweils selbstkritische Erkenntnis der neuralgischen Punkte sein. In diesen Hinsichten braucht es die Entscheidung, diese Punkte beachten und bearbeiten zu wollen. Dafür ist ehrliche Selbstprüfung und Umkehr angesagt, wie man in der ökumenischen Bewegung von Anfang an wusste, ohne es immer zu beherzigen …

Wenn es dann an weitere Schritte geht, so sind verschiedene Ebenen zu unterscheiden.

Gerade für die römisch-katholische Kirche kann Ökumene nicht regional isoliert geschehen, sondern ist ein (behäbiges) gesamtkirchliches Unternehmen. Auf dieser globalen Ebene der internationalen Dialoge (und nicht selten auch auf den nachfolgenden Ebenen) befremdet es je länger je mehr, wie sehr die Ökumene sich an Fragen der Kirchenstruktur und Ämter festgebissen hat. Es muss hier eine Hinwendung zur Mitte geschehen!

Auf den diversen regionalen und überregionalen Ebenen braucht es die Bereitschaft, gemeinsame Schritte zu gehen, auch bevor absehbar ist, wohin die Ökumene führen wird. Wichtig dafür wäre es, verstärkt gegenseitig an Lebensprozessen der Kirche zu partizipieren, auch dort, wo es um Leitung, Beratung und Entscheidungen geht. Wachsende Einheit verlangt, dass wir uns nicht zusätzlich und nachträglich zu den "eigenen" Vollzügen im Binnenraum begegnen, sondern uns gegenseitig im "Eigenen" Raum geben: informierend, beratend, gelegentlich mahnend, gelegentlich mitleidend. So kann ein Zusammenwachsen beginnen, in dem wir fähig werden, gemeinsam zu handeln, gemeinsam Zeugnis zu geben.

Schliesslich gibt es die Ebene der gelebten Ökumene im Kleinen: in konfessionsverbindenden Ehen, in ökumenisch zusammenwachsenden Gemeinschaften, von geistlichen Gemeinschaften über Pfarreien zu Netzwerken. Überall, wo diese gelebte Verbundenheit bereits gewachsen ist, sollte kirchenoffiziell die Möglichkeit eröffnet werden, nicht nur soziale Engagements zu teilen, sondern auch aus gemeinsamen liturgischen und sakramentalen Quellen zu leben. Die Überzeugung vom Vorrang der Gnade muss hier aus der Theorie in die Praxis übergehen. Einheit ist nicht etwas, das wir erleisten müssen. Der Auferstandene möchte uns an seinem Tisch einen, damit wir uns daraufhin als Geeinte entdecken. Sein Geist wird uns umso mehr locken, von unseren Abgrenzungen zu lassen, Schritte zur verbindlichen Verbundenheit zu tun und uns dem, was uns gemeinsam herausfordert, auch gemeinsam zu stellen.

 

1 Der hier veröffentlichte Artikel dokumentiert eine erweiterte Fassung von einem der beiden Eingangsstatements.

Eva-Maria Faber

Eva-Maria Faber

Prof. Dr. Eva-Maria Faber ist Ordentliche Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Theologischen Hochschule Chur