Reformation und Migration

Die Probleme der Kirchen in der Schweiz erinnern aktuell in vielem an den Kollaps des spätmittelalterlichen katholischen Christentums, das kaum noch passende Antworten auf die Fragen der Zeit bot.

Am Übergang zur Neuzeit war das Christentum innerlich faul und hohl geworden. Es brauchte oft nur das Auftreten einzelner reformierter Prediger, um vor allem städtische Gesellschaften in kurzer Zeit und ohne grössere Widerstände der "neuen Lehre" zuzuführen.1 Die neue Frömmigkeit und das neue Kirchenverständnis boten offenbar brauchbare Antworten auf die Probleme der Menschen. Die reformierte Lehre passte in eine "modern" gewordene Welt mit Buchdruck, wissenschaftlichen und künstlerischen Aufbrüchen, starkem Bürgertum und neuen Verunsicherungen durch all diese Veränderungen.

Ein halbes Jahrtausend später finden wir uns in einer ähnlichen Situation, diesmal auf globaler Ebene. Technologischer Fortschritt, weltumfassender Kapitalismus, Urbanisierung in Megastädten und der Zusammenbruch bisheriger Werte- und Kulturmodelle, fundamentale Bedrohungen durch Armut, Seuchen, Klimawandel sind einige der Rahmenbedingungen der Reformation 2.0. Diese zeigt sich weltweit im Wachstum neuer Kirchen evangelikaler, pfingstlicher, charismatischer, neopentekostaler Art.2

Diesen Kirchen der Reformation des 20. und 21. Jahrhunderts gelingt es vor allem in den Umbruchgesellschaften des globalen Südens am besten, die Menschen mit einer christlichen Botschaft zu erreichen. Das geschieht z. B. durch das Versprechen des "prosperity gospel", des Wohlstands- und Erfolgsversprechens für die, die sich zu Gott bekehren. Es geschieht durch spirituelles Empowerment, das selbst schwierige Lebensgeschichten als Heilsgeschichten zu deuten vermag. Bis hin zur leiblichen Erfahrung spricht der Frömmigkeitsstil der Reformation 2.0 die Menschen an: Gott lässt sich in Trance, Zungenrede oder Heilung am eigenen Körper erleben. Wo sich die Welt im Schleudergang der Moderne verändert und alles und jedes in Frage gestellt wird, bietet die Reformation 2.0 Gottesgewissheit und alltagsnahen Nutzen.3

Die Reformation 2.0 kommt in die Schweiz

Das Kraftzentrum der Reformation 2.0 hat sich globalisiert. Globale Migration führt zu globaler Mission. 4 So hat die neue Reformationsbewegung längst die Schweiz erreicht. Dies zeigt die Forschung des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI).5 Dieses hat in seiner jüngsten Studie 635 christliche Migrationsgemeinden in der Schweiz befragt und von 370 Gemeinden Antworten erhalten. Über 118 katholische und unierte, 34 orthodoxe und 218 evangelische Migrationsgemeinden gaben Auskunft. Bei den evangelischen Migrationsgemeinden lassen sich knapp 150 Gemeinden neueren evangelischen Kirchen zuschreiben. Von diesen wurden 80 allein zwischen den Jahren 2000 und 2012 gegründet. Die neue Reformation führt also zu einem Kirchengründungsboom in der Schweiz. Im gleichen Zeitraum kamen orthodoxe, katholische und unierte sowie historische evangelische Kirchen zusammen auf nur 31 von der Studie erfasste Gemeindegründungen.6

Postkonfessionell unübersichtlich

Allerdings werden konfessionelle Zuschreibungen immer brüchiger. Ein Kennzeichen der Reformation 2.0 ist nämlich die Auflösung bisheriger Konfessionsgrenzen. Die Vielzahl von Kirchen mit unterschiedlichsten Theologien, Frömmigkeits- und Organisationsformen führt zu postkonfessioneller Unübersichtlichkeit. Auch katholische Migrationsgemeinden können theologisch oder spirituell durch die Reformation 2.0 geprägt sein und z. B. charismatische Züge tragen.7 Typisch für die unterschiedlichen Migrationsgemeinden ist, dass sie sich stark von den schweizerischen Kirchen abgrenzen. Sie sehen ihre Zukunft nicht in den Strukturen der hiesigen Kirchen und erkennen in ihnen meist auch keinerlei Vorbild.8 Dies kann hiesige Kirchenverantwortliche vor den Kopf stossen. Aber wo haben sich echte Reformatoren davon je abhalten lassen?

Gemeinsam ist allen Kirchen der Reformation 2.0 ein hohes missionarisches Sendungsbewusstsein. Ihr Konsens ist, dass die Schweiz von neuem evangelisiert werden muss. Für diese Aufgabe sehen sich die meisten von ihnen als missionarische Akteurinnen berufen. Die Selbstaussage einer spanischsprachigen Migrationsgemeinde aus der Westschweiz spricht Bände: "Wir versuchen die Calvins dieser Zeit zu sein. Dank der Reformation ist die Schweiz das, was sie heute ist. Man muss diesem Land seine Identität zurückgeben. Gott hat uns als Visionäre in dieses Land geschickt"9, so ein Originalton der Reformation 2.0 in der Schweiz.

Ökumene 2.0

Die Reformation 2.0 prägt als globale, dezentrale und theologisch, kirchlich und kulturell vielfältige Bewegung das Christentum weltweit und fordert es heraus. Für die Schweiz heisst dies, die ökumenischen Kontakte und Arbeitsprozesse neu zu justieren. Themen und Begegnungsformen sind im Blick auf die Anforderungen der Reformation 2.0 anzupassen. Es gilt, sich in der Schweiz auf Dauer mit einer spannenden und keineswegs spannungsfreien Vielfalt des Christlichen auseinanderzusetzen. Ein zentraler Fokus gilt den christlichen Migrationsgemeinden. Eines scheint bislang sicher: Die Reformation 2.0 verlangt andere Antworten als diejenigen, die nach der Reformation 1.0 entwickelt wurden. Die Formen der Ökumene 1.0 dürften in Zeiten postkonfessioneller Unübersichtlichkeit und neuer missionarischer Dynamik heute an ihre Grenzen kommen oder schon überholt worden sein. Die Reformation 2.0 bringt alle Kirchen in Bewegung.

 

 

1 Vgl. die Darstellung am Beispiel der Stadt Münster: Hubertus Lutterbach: Der Weg in das Täuferreich von Münster, Münster 2006.

2 Vgl. John L. Allen: Das neue Gesicht der Kirche, Gütersloh 2010, 411–450 und Christoph Wagenseil am 4.10.2015 auf www.remid.de/blog/2015/10

3 Vgl. Werner Kahl: Jesus als Lebensretter, Frankfurt a. M. 2007.

4 Vgl. Michael Bergunder: Pfingstbewegung, Globalisierung und Migration, in: Zeitschrift für Mission 1-2 (2005), 79–91 und Jehu J. Hanciles: Globalisierung, Migration und religiöse Ausbreitung: Migrationsströme und die neuen missionarischen Zentren in der nichtwestlichen Welt, in: Interkulturelle Theologie 2-3 (2011), 223–239.

5 Judith Albisser, Arnd Bünker (Hg.): Kirchen in Bewegung. Christliche Migrationsgemeinden in der Schweiz, St. Gallen, 2016.

6 Vgl. Judith Albisser: Ergebnisse der Studie "Christliche Migrationsgemeinden in der Schweiz", in: Albisser/Bünker 2016, 15–110, 27 und 31.

7 Vgl. John L. Allen: Das neue Gesicht der Kirche, 67 ff., 420 ff.

8 Vgl. Judith Albisser, 86–96.

9 Zitiert in: Arnd Bünker: Typen christlicher Migrationsgemeinden und postmigrantische Perspektiven, in: Albisser/Bünker 2016, 111–130, 124 f.

Arnd Bünker

Arnd Bünker

Tit. Prof. Dr. Arnd Bünker ist Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI) in St. Gallen