Wider die Neutralisierung des Religiösen

Mit der Einwanderung und der dauerhaften Präsenz von Muslimen ist «ein Umbau und eine Erweiterung des europäischen Hauses verbunden», betont Hansjörg Schmid in seiner perspektivenreichen Studie «Islam im europäischen Haus».1 Zu Recht erinnert er daran, dass Muslime seit Jahrhunderten in europäischen Ländern wie Russland, Litauen, Polen und auf dem Balkan leben und diese mitgeprägt haben. Gerade Bosnien- Herzegowina hat eine europäische Islamtradition mit einem spezifischen Gepräge hervorgebracht, die einen wichtigen Bezugspunkt für die im Entstehen begriffene islamische Theologie im europäischen Kontext darstellt.2

Durch die Auseinandersetzung mit dem Islam wird Religion insgesamt verstärkt als Faktor von Politik und Gesellschaft wahrgenommen. Folgt man Hansjörg Schmid, so sind weniger dogmatische als vielmehr sozialethische Fragen entscheidend für die Verortung des Islam in Europa. Tendenzen zur weichgespülten Privatisierung und gesellschaftlichen Vergleichgültigung des Religiösen werden sowohl Christen als auch Muslime in Frage stellen. Von daher entfaltet Schmid die inspirierende These: Nur eine interreligiöse Sozialethik biete eine Alternative zur Neutralisierung religiös-theologischer Kernanliegen der Religionsgemeinschaften in der Öffentlichkeit.3 Als Koordinator des Theologischen Forums Christentum–Islam4 und Studienleiter an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart fusst sein Plädoyer auf mehrjähriger praktischer Dialogarbeit: Muslime und Christen können und sollen Europa als Akteure der Zivilgesellschaft mitgestalten. Eine antisäkulare Allianz der Religionen würde den europäischen Erscheinungsformen von Säkularisierung widersprechen und Kooperationen mit Akteuren ausserhalb des religiösen Felds verunmöglichen.

Brücke zwischen Religion und Gesellschaft

Interreligiöse Sozialethik bildet eine Brücke zwischen gesellschaftspolitischen und theologischen Themen. Für das gedeihliche Zusammenleben ist der Beitrag des Islam als neuem Akteur in der pluralistischen Wertedebatte bedeutsam, ja, unerlässlich. Ebenso wichtig ist, dass Muslime die demokratisch-säkularen Grundlagen der modernen Zivilgesellschaft akzeptieren. Eine positive Zuordnung wird erfahrungsgemäss dort erleichtert, wo Muslimen ein in Bezug auf alle Religionen offener Staat gegenübertritt. Sowohl als zahlenmässig zweitgrösster Religion in Europa wie auch aufgrund seiner besonderen theologischen Nähe zum Christentum kommt dem Islam für eine interreligiöse Sozialethik in Europa ein herausragender Stellenwert zu. Dies entspricht dem in der «Charta Oecumenica» (2001) vollzogenen Schritt von der Ökumene zum interreligiösen Dialog, steht doch der dritte Teil des Dokuments unter der programmatischen Überschrift «Unsere gemeinsame Verantwortung in Europa».

Zur Versachlichung landläufiger Islamdiskurse trägt Schmids materialreiche Studie bei, indem sie gängige Antithesen von Islam und Säkularisierung sowie von Islam und Menschenrechten aufbricht. Mit fünf ausgewählten zeitgenössischen islamischen Autoren aus verschiedenen europäischen Kontexten wird ein breites Spektrum muslimischer Positionen präsentiert. Es reicht von Nasr Hamid Abu Zaid, der historisch-kritische Koranhermeneutik eng mit gesellschaftspolitischen Fragen verflochten sieht, über Dilwar Hussain, der im Multikulturalismus Grossbritanniens wirkt, und Fikret Karčić als Exponent des bosnischen Islam bis hin zu Tarik Ramadan, einem populären Brückenbauer zwischen Traditionalismus und Reform, sowie Azzam Tamimi als gemässigtem Exponenten des islamistischen Spektrums. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen, bejahen sie alle Säkularisierung (ohne den öffentlichen Anspruch von Religion aufzugeben) und Menschenrechte (mit der Möglichkeit von Kritik und Weiterentwicklung) als Grundlagen einer interreligiösen Sozialethik. Sie plädieren für eine Beteiligung der Muslime an gesamtgesellschaftlichen Aufgaben im Rahmen der Zivilgesellschaft.

Parallelen und Ungleichzeitigkeiten

Es ist in der Tat ermutigend zu sehen, dass eine ganze Reihe muslimischer Theologen einen Islam mit europäischem Gesicht erarbeiten, der westliche und muslimische Traditionen verbindet. Auch wenn der Ausgang dieses Prozesses unentschieden ist, ergibt sich dadurch eine neue Gesprächssituation. Wird hier doch der Islam in einen offenen Dialog mit anderen Religionen sowie den Möglichkeiten und Herausforderungen der zivilgesellschaftlich geprägten politischen Kultur Europas hineingeführt. So werden Weiterentwicklungen denkbar, bei denen die Scharia auf der Grundlage des Koran und der Prophetentraditionen (Sunna und Hadith) eher eine ethische als eine rechtliche Angelegenheit darstellen.

Höchst aufschlussreich sind die Lernprozesse, die sich dabei abspielen: In einer ersten Phase der Einwanderung kommt es zur Islamisierung von Demokratie, Menschenrechten und Zivilgesell schaft bei bleibender Distanz gegenüber Europa, dem Westen und der Säkularisierung. In einem zweiten Schritt erfolgt die Identitätsbildung als europäische Muslime, die sich einbringen, ohne sich zu assimilieren, es herrscht eine Binnenorientierung auf das eigene Milieu vor, Nicht-Muslime werden mit Hilfe überkommener staatsrechtlicher Kategorien des Islams als Dhimmi (Schutzbefohlene) eingeordnet. In einer dritten Phase kommt es zur vorbehaltlosen Anerkennung der Säkularisierung und des Vorrangs des säkularen Staats, begleitet von der Aufgabe des rechtlichen Anspruchs der Scharia, die eine ethische Re-Interpretation erfährt entsprechend der Befürwortung muslimischer Existenz in säkularen, multireligiösen Staaten. In einer vierten Phase wird gruppenübergreifende Zusammenarbeit angestrebt und die monoreligiöse bzw. -ethnische Vereinsbildung überwunden, im Widerstand gegenüber der Globalisierung wird das sozialkritische Potenzial des Islam eingebracht und eine angewandte islamische Ethik unter Einbeziehung der nicht-religiösen Wirklichkeitsbereiche erarbeitet. In einem fünften Schritt ist die selbstverständliche Beheimatung der Muslime in den Einwanderungsländern erreicht, es kommt zu interdisziplinären und zustimmenden Diskursen über Säkularisierung, Partizipation und Solidarität.

Als Pointe fördert der Vergleich erstaunliche Parallelen mit der konfliktreichen Integration der Katholiken in den modernen säkularen Staat zu Tage, den bekanntlich erst das Zweite Vatikanische Konzil theologisch anerkannte (einschl. Religionsfreiheit und Pluralismus). Im Verhältnis von Muslimen und Christen in den europäischen Einwanderungskontexten bestehen zahlreiche Ungleichzeitigkeiten und Asymmetrien, vor allem was das Zahlenverhältnis, die Organisations- und Sozialstruktur betrifft. Die nicht vorhandenen Kirchenstrukturen im Islam verstärken diese Asymmetrien vor allem in Bezug zu Staat und Gesellschaft. Während christlicherseits Demokratie auch eine Herausforderung im Blick auf kirchliche Strukturen darstellt, ist dies islamischerseits nicht der Fall – allenfalls in einem weiteren Sinne im Blick auf innerislamische Entscheidungsprozesse.

Partner im europäischen Haus

Da auch die christlichen Kirchen einen langen Weg brauchten, um Religionsfreiheit, Menschenrechte und Geschlechtergerechtigkeit anzuerkennen, ist es sinnvoll, wenn Christen und Muslime ihre Erfahrungen austauschen, wobei auch islamisch-feministische Strömungen berücksichtigt werden müssen. Dies eröffnet neue Perspektiven auf das Eigene, zugleich ermöglicht es ein tieferes Verständnis für die Unterschiede und jeweiligen Eigenheiten des anderen. Beide Religionsgemeinschaften stehen vor der Herausforderung, Offenheit für gesellschaftlichen Wandel und Prinzipientreue in einer angemessenen Balance zwischen Rezeption und Kritik der Moderne zu verbinden. Den Kirchen kommt dabei sowohl Anwaltschaft und Vermittlung als auch Partnerschaft im Miteinander auf Augenhöhe zu, und zwar auf drei Ebenen: in der sozialen Praxis besonders auf gemeindlicher Ebene, im wissenschaftlichen Raum Reflexion, nicht zuletzt in der Sozialverkündigung, die wie bereits in der innerchristlichen Ökumene gemeinsam angegangen werden kann und soll.

Zivilgesellschaft setzt eine Pluralität von Akteuren voraus, wobei bei den Religionen sowohl eine Binnenpluralität als auch eine Aussenpluralität zu berücksichtigen ist. Die Religionen können ihre Positionen angesichts dieser Pluralität nicht autoritativ verkünden, sondern müssen sie argumentativ und diskursiv als Vorschläge in einen offenen Dialog einbringen. Gerade bei Anliegen wie Gerechtigkeit und Frieden, die über die Religionen hinaus breite Zustimmung finden, reicht eine Begrenzung des Dialogs auf die Religionen nicht aus. Beispiele kirchlicher und muslimischer Menschenrechtsarbeit zeigen, dass ein gemeinsamer Einsatz für die Menschenrechte möglich ist, und zwar nicht nur auf die eigene Gruppe beschränkt, sondern gleichermassen um die Rechte der anderen bemüht. Hier sind Muslime und Christen als Bürger wie als Gläubige gefragt.

 

1 Hansjörg Schmid: Islam im europäischen Haus. Wege zu einer interreligiösen Sozialethik. (Verlag Herder) Freiburg i. B r. 2012, 16.

2 Zur neuen Sichtbarkeit des Islam in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, insbesondere zur eben erst entstehenden deutschmuslimischen Literatur vgl.: Christoph Gellner / G eorg Langenhorst: Blickwinkel öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten. Ostfildern 2013.

3 Als Pionier einer interreligiösen Sozialethik kann Hans Küng gelten. Der Begriff wurde erstmals eingeführt vom zeitweiligen wissenschaftlichen Mitarbeiter am «Projekt Weltethos», Johannes Frühbauer: Solidarität in Islam, Buddhismus und Konfuzianismus. Bausteine für eine interreligiöse Sozialethik, in: JCSW 48 (2007), 105–120.

4 Vgl. Hansjörg Schmid / Andreas Renz / Abdullah Takim / Bülent Ucar (Hrsg.): Verantwortung für das Leben. Ethik in Christentum und Islam. Regensburg 2008.

Christoph Gellner

Christoph Gellner

Dr. theol. Christoph Gellner ist Leiter des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts der deutschschweizerischen Bistümer (TBI) in Zürich und freier Mitarbeiter des Ökumenischen Instituts der Universität Luzern.