«…Damit sich erfüllt…»

Das Matthäusevangelium im Lesejahr A

Das Matthäusevangelium ist das Leitevangelium im beginnenden Lesejahr. Dieser Beitrag will Zugänge zum Evangelium eröffnen und tut dies anhand von Motiven, die den Text einrahmen bzw. rote Fäden durch ihn hindurch bilden. Ausgehend vom roten Faden «Erfüllung der Schrift» stellen sich Fragen nach unserem Umgang mit dem Alten Testament. Daraus ergeben sich Herausforderungen für das beginnende Lesejahr.

Rahmen und roter Faden: Ein Name

Das Matthäusevangelium ist eingefasst und getragen von der Verheissung, dass Gott sich als «Ich bin da» erweist. Der Rahmen des Matthäusevangeliums ist ein Name: «Immanuel» oder «Gott (ist) mit uns». Mit diesem Namen beginnt es in der Erzählung von der Geburt Jesu (Mt 1,23) und endet in der Erzählung von der Begegnung mit dem Auferstandenen: «Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt» (Mt 28,20). Das Matthäusevangelium ist eine erzählende Auslegung, ein Midrasch, über den Namen Gottes. Die Bibel erzählt vom Namen Gottes im Buch Exodus in der Geschichte von Mose am brennenden Dornbusch (Ex 3). Gott zeigt sich und nennt seinen Namen «Ich bin da». Über 500 Mal kommt dieser Gottesname (in der Umschreibung JHWH) in der Hebräischen Bibel vor – quer durch alle biblischen Schriften. Die ganze Bibel ist so gesehen eine Auslegung des Namens Gottes. Im altorientalischen Verständnis kommt im Namen das Wesen, das Wesentliche, zum Vorschein. So geht es in der Bibel und im Matthäusevangelium um die wesentliche Frage, wie Gott ist, wer Gott ist, wer Gott für uns ist. Der NAME ist denn auch im Judentum zu einem eigentlichen Gottesnamen geworden.

Roter Faden: «... damit sich erfüllt …»

Ein wesentlicher Zug des Matthäusevangeliums, ein roter Faden durch das Evangelium, ist die Rede von «Erfüllung». Zehnmal begegnet uns ein formelhafter Satz – … damit das durch den Propheten Gesagte erfüllt wurde – zum Teil mit kleinen, durch den Zusammenhang bedingten Variationen (Mt 1,22; 2,15.17.23; 4,14; 8,17; 12,17; 13,35; 21,4; 27,9). Wenn einige Zitate aus dem Alten Testament auch durch diese Formel herausgehoben werden, so sind sie doch nicht eigentlich etwas Besonderes. Sie reihen sich vielmehr ein in eine Fülle verwandter Erscheinungen, andere Zitate und mehr oder weniger deutliche Verweise und Anspielungen auf biblische Texte, Motive und Figuren – die Einheitsübersetzung führt für dieses Evangelium insgesamt 282 Verweisstellen auf das Alte Testament an (bei Lukas 180).

Auch wenn sich die Erfüllungszitate durch das ganze Evangelium ziehen, lässt sich feststellen, dass sie gehäuft im Prolog vorkommen (Mt 1–2). Sie sollen den Leserinnen und Lesern das Programm des Evangeliums beleuchten: «Im Prolog setzt Mt seine/n Leser/innen durch die dichte Folge seiner Erfüllungszitate ein ‹Licht› auf. Die im übrigen Evangelium verstreuten Erfüllungszitate sind dann Erinnerungen daran.»1 Denn, ob es sich um Erfüllungszitate, andere Zitate, Verweise oder Anspielungen handelt – theologisch dienen die Rückgriffe auf das Alte Testament alle dem Ziel des Matthäusevangeliums, Jesus als den Messias, den Christus, zu bezeugen, in dessen Leben, Worten und Taten sich Gott als «Ich bin da» erweist. Als den Menschen, in dem der NAME lebendig gegenwärtig ist und in dem die in der Heiligen Schrift bewahrten Hoffnungen des Volkes Israel auf eine heilvolle Zukunft erfüllt werden. Dies ist der Anspruch des Matthäusevangeliums.

Roter Faden: Innerjüdische Auseinandersetzung

Zu verstehen ist er vor dem Hintergrund der Situation der Gemeinden, in denen das Evangelium entsteht, vermutlich im Zeitraum der Jahre 80–90 n. u. Z. in Syrien. Zehn Jahre sind vergangen seit dem jüdisch-römischen Krieg mit seinen katastrophalen Folgen. Es stellen sich Fragen nach den Ursachen dieses Krieges, der ja zugleich auch ein blutiger innerjüdischer Bürgerkrieg war. Es stellen sich Fragen nach der Bewältigung der Katastrophe und nach der Zukunft des Volkes Gottes und seiner Beziehung zu Gott. Das Matthäusevangelium ist ein Zeugnis des innerjüdischen Ringens um den gegenwärtigen und zukünftigen Glaubensweg, um die Beziehung zum NAMEN. Es ist eine Schrift aus der Zeit der beginnenden Trennung derer, die an Jesus als den Messias/ Christus glauben, von denen, die diesen Glauben nicht teilen. Im Zentrum der Auseinandersetzungen stehen die jesus-messianischen Gemeinden auf der einen sowie das pharisäische bzw. rabbinische Judentum und die Schriftgelehrten auf der anderen Seite. Noch sind es zwei jüdische Richtungen, die in Konflikt zueinander geraten, die spätere Spaltung beginnt sich aber abzuzeichnen. Die im Evangelium erzählten heftigen und polemischen Auseinandersetzungen Jesu mit den Pharisäern und Schriftgelehrten sind ein Echo davon. Der Konflikt zwischen Jesus und den politischen und religiösen Autoritäten seines Volkes ist eines der wichtigsten Themen des Matthäusevangeliums. Die Abschnitte, in denen Sadduzäer, Herodianer, Pharisäer, Schriftgelehrte, Hohepriester und Älteste auftreten, machen etwa einen Drittel des Gesamttextes aus. Die Leseordnung lässt etliche dieser Texte weg, z. B. die Weherufe gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten in Kapitel 23. Dies geschieht vielleicht aus Angst davor, antijüdisch verstanden zu werden. Damit wird aber auch eine Chance vertan, das Matthäusevangelium als innerjüdische Streitschrift kenntlich zu machen. Das Matthäusevangelium ist eine Auseinandersetzung zwischen Verwandten, ein innerfamiliärer Konflikt, der aufgrund der Nähe mitunter besonders heftig verläuft. Es geht um die Vergewisserung der eigenen Überzeugung und um den Anspruch auf das gemeinsame Erbe.

Roter Faden: Tora-Auslegung

Warum sind es besonders die Pharisäer und Schriftgelehrten, mit denen sich das Matthäusevangelium auseinandersetzt? Das liegt daran, dass die anderen jüdischen Gruppen nach dem Krieg gegen die Römer nicht mehr existierten. Diese beiden Gruppen sind es aber, mit denen sich die matthäischen Gemeinden vor Ort auseinanderzusetzen haben. Die pharisäische Orientierung des Alltagslebens an der Tora und die schriftgelehrte Bibelauslegung – damit ringen und daran messen sich die Gemeinden.

Sie sind herausgefordert, sich der Schriftgelehrsamkeit und Tora-Treue der Konfliktpartei zu stellen und sich ebenfalls darin zu bewähren. Das spiegelt sich im Evangelium deutlich wider und ist der Hintergrund für die Vielzahl von Zitaten aus der gemeinsamen Heiligen Schrift und die immer wiederkehrenden Auseinandersetzungen um die Auslegung der Tora. Einige Beispiele:

– Mt 5,21–48: In dem missverständlicherweise als «Antithesen» bezeichneten Teil der Bergpredigt legt Jesus die Tora aus.

Mt 15,1–9: Jesus kritisiert die Anwendung der Reinheitsgebote mit einer Fülle von Verweisen: Ex 20,12; 21,17; Lev 20,9; Dtn 5,16; Jes 29,13; Ps 78,36.

– Mt 18,15–16: Jesus regelt den Umgang mit Konflikten im Kreis der Jüngerinnen und Jünger mit Bezug auf die Tora.

Mt 19,1–9: Jesus äussert sich zur Ehescheidung.

Mt 19,16–26: Jesus diskutiert mit einem Mann über Möglichkeiten und Grenzen der Gebote.

Mt 22,23–33: Jesus beantwortet den Sadduzäern die Frage nach der Auferstehung der Toten.

– Mt 22,34–40: Jesus erläutert den Pharisäern das wichtigste Gebot.

Von diesen sieben Stellen fehlen leider vier (die kursiv gedruckten) in der Leseordnung. An diesen Stellen zeigt sich das Matthäusevangelium besonders deutlich als (innerjüdische) Auseinandersetzung um die Bedeutung der Tora und ihre richtige Auslegung für die Gegenwart.

Rahmen und roter Faden: Tun der Gerechtigkeit

Das Matthäusevangelium entsteht im Kontext des komplexen und heftigen innerjüdischen «Ringens um den jüdischen Weg (Halacha) angesichts der römischen Übermacht»,2 die sich im katastrophalen Ausgang des Krieges im Jahr 70 gezeigt hat. Matthäus ist dabei wichtig, was auch die Tora umtreibt: die Frage nach dem Umgang mit Machtverhältnissen. Und Matthäus antwortet darauf in der Linie der Tora: Jede Macht wird daran gemessen, ob sie der Gerechtigkeit dient. Deswegen ist ein Leitmotiv des Matthäusevangeliums «das Tun der Gerechtigkeit». Hierin weist das Evangelium – neben der Einfassung durch den «Gott mit uns» – einen weiteren Rahmen auf, gleichsam einen zweiten inneren Rahmen.

Am Anfang steht die Figur des Josef, der als «gerecht» bezeichnet wird (Mt 1,19). Und am Ende zeichnet das Gerichtsgleichnis (Mt 25,31–46) ein beeindruckendes Bild davon, was es konkret heisst, die Gerechtigkeit zu tun. In der Bergpredigt, die sich auch als Rede von der wahren Gerechtigkeit verstehen lässt, ist besonders häufig davon die Rede (5,1.6.10.20.45; 6,1). Josef verkörpert die Gerechtigkeit als Solidarität mit den Schwächeren im Volk. Er sorgt für das Leben von Frau und Kind. Gleichzeitig spielt er mit seinem Namen die Geschichte und Person des Josefs von Genesis 37–50 ein, der in der jüdischen Tradition ebenfalls als Gerechter gilt.3 Der alttestamentliche Josef verkörpert das Tun der Gerechtigkeit und die Übernahme von Verantwortung in der Fremde unter der Herrschaft der Pharaonen dieser Welt.

Der Erfahrungshintergrund des Gerichtsgleichnisses von Mt 25 dürfte auch von der Bewältigung der Kriegsfolgen mit einer Vielzahl von hungrigen und obdachlosen Flüchtlingen und zahllosen gefangenen und versklavten Menschen geprägt sein, die die jüdischen Gemeinden überall im römischen Reich herausforderten. Die Tora-Auslegungen Jesu in der Bergpredigt, vor allem die Auslegung von «Auge um Auge, Zahn um Zahn» (Mt 5,38 ff.) und der Nächsten- bzw. Feindesliebe (5,43 ff.) stehen im Kontext von Erfahrungen mit gewaltsamer Fremdherrschaft, Ausbeutung und Unterdrückung im römischen Imperium.

Das Matthäusevangelium fragt an all diesen Stellen: Wie lässt sich unter diesen Umständen die Tora umsetzen? Wie lässt sich Gerechtigkeit tun? Mt 6,33 liest sich wie eine alles zusammenfassende Weisung: Euch muss es zuerst um sein [Gottes] Reich und seine Gerechtigkeit gehen.

Erfüllung: Schlussakzent und bleibende Verheissung

Wir haben gesehen, dass die Erfüllung der Schrift sich wie ein roter Faden durch das Matthäusevangelium zieht. Wir haben ausserdem gesehen, wie intensiv das Evangelium im Gespräch mit der Schrift, mit unserem alten Testament in Verbindung steht, sei es in Form von direkten Zitaten oder von Einspielungen biblischer Personen und Motive. Das Matthäusevangelium ist Schriftauslegung. Auch die Rede von der Erfüllung der Schrift hat Vorbilder im Alten Testament, wenn auch eine eigentliche Erfüllungsformel wie bei Matthäus dort nicht bekannt ist. Am nächsten kommt ihr 2 Chr 36,21: Da ging das Wort in Erfüllung, das der Herr durch den Mund Jeremias verkündet hatte. Und einen Vers weiter gleich noch einmal: Im ersten Jahr des Königs Kyrus von Persien sollte sich erfüllen, was der Herr durch Jeremia gesprochen hatte. Diese Sätze stehen in der Anordnung der Bücher in der Hebräischen Bibel allerdings an einer besonders bedeutsamen Stelle: 2 Chr 36 ist das Schlusskapitel des Bibelkanons. Sie setzen so einen besonders wichtigen Schlussakzent: In der Ankündigung der Rückkehr aus dem Exil wird Gott als «Ich bin da» erfahren, erfüllt sich das Wort Gottes, gesprochen durch einen Propheten. Die historische Erfahrung der Erfüllung, die 2 Chr beschreibt, ist dabei zugleich bleibende Verheissung für alle Zukunft: Gott ist der «Ich bin da», in allen geschichtlichen Situationen. Der Bibelkanon endet mit dem Aufruf, den darin niedergelegten Glauben auch in Zukunft zu bewahren, seine Auslegung und Umsetzung auch unter veränderten Bedingungen weiterzuführen und weiterzuentwickeln.

Erfüllung: Neu wahr sein lassen

Auch wenn die Erfüllungsformel fehlt, spielt «Erfüllung » im Alten Testament doch eine wichtige Rolle. Etwa 250 Mal wird ein Ausdruck aus dieser Wortfamilie verwendet. Erfüllung bedeutet in der Schrift, dass eine Entwicklung zu einem guten Ende gekommen ist; dass das, was nach dem Willen Gottes oder auch nach dem Versprechen eines Menschen sein soll, nicht mehr aussteht, sondern eingetreten und Wirklichkeit geworden ist. Nach der Erfüllung eines Gelübdes bringen Menschen ein sogenanntes Erfüllungsopfer (Lev 22,21; Num 15,8). Erfüllung ist die Erfahrung, dass sich etwas Erwartetes und Ersehntes verwirklicht – und zwar in Fülle. So gehört der Gedanke von Verheissung und Erfüllung wesentlich zum Geschichtsdenken des Alten Testamentes. Darüber hinaus begegnet im Alten Testament – besonders ausgeprägt in den Büchern Josua bis 2 Könige – ein Geschichtsdenken, das mit den Begriffen «Verheissung und Erfüllung» umschrieben werden kann. Vielleicht ist es präziser, dabei von «Ankündigung und Erfüllung» zu sprechen, da es sich bei den «Verheissungen» auch um Gerichtsankündigungen handelt. Die christliche Tradition hat dieses biblische Denken aufgenommen und zu der Formel verdichtet: In Christus hat sich endlich und endgültig erfüllt, was im Alten Testament angekündigt oder verheissen war. Diese Formel steht in der Gefahr, in undifferenzierter Weise das Alte Testament allein als «Ankündigungsbuch » zu instrumentalisieren, es entsprechend als «erledigt» zu entwerten und sich damit auch gegen das Judentum und seinen Glauben zu richten. Der ureigene Wert, den das Alte Testament gerade auch für Christinnen und Christen als Glaubensbuch – auch als Erfüllungsbuch – geht so verloren. Verabsolutiert nimmt dieses Denken ausserdem nicht ernst, dass auch die im Neuen Testament verkündete Erfüllung eingebunden bleibt in eine noch grössere Verheissung: Das Reich Gottes ist da, aber noch nicht vollendet; der Messias ist gekommen, seine Wiederkunft steht aber noch aus.

So muss – in den Worten von Jürgen Ebach – Erfüllung eben nicht bedeuten, «dass sich etwas, das bisher nur ein leeres Versprechen war, nun erst erfüllt. Es meint allerdings, dass das, was jetzt geschieht (…), eine weitere, eine erneute Füllung, ein erneutes Wahr-sein-Lassen dessen ist, was (…) geschrieben steht und zu lesen ist. Das neue Geschehen bringt sich ein in das alte Wort; das alte Wort ist nun auch – in diesem Sinn kann man von ‹Erfüllung› sprechen – vom neuen Geschehen erfüllt.»4 Durch die ganze Bibel, durch das Alte und das Neue Testament, ziehen sich Erfahrungen von wirklich gewordener Erfüllung und bleibender Verheissung.

Das Gesetz und die Propheten erfüllen

In einem solchen Verständnis spricht auch Jesus im Matthäusevangelium davon, das Gesetz und die Propheten zu erfüllen, und mit «Gesetz und Propheten » ist – als feststehender Ausdruck – die ganze Schrift gemeint. Jesus legt die überlieferten Weisungen der Schrift und ihre früheren Aktualisierungen durch die Prophetinnen und Propheten neu aus und führt sie weiter, damit sie weiterhin, auch unter veränderten Bedingungen, ihre Leben ermöglichende Kraft entfalten und den Menschen die Richtung zu ihrem Ziel, dem «Leben in Fülle» (vgl. Joh 10,10), weisen können. Damit ist die Geschichte nicht abgeschlossen. Den Menschen zu allen Zeiten bleibt es aufgetragen, Erfüllung weiterzudenken, ihr Glauben, Hoffen und Lieben immer wieder neu zu verlebendigen, nicht immer ganz von vorne, nicht aus dem Nichts, sondern auf dem unhintergehbaren Grund, der schon gelegt ist.

Matthäus lesen im kommenden Lese- und Kirchenjahr

Im gerade neu erschienenen dritten Band der Reihe «Die siebzig Gesichter der Schrift. Auslegung der alttestamentlichen Lesungen – Lesejahr A» schreibt Birgit Jeggle-Merz über die Bedeutung des Alten Testaments im christlichen Gottesdienst.5 Dabei würdigt sie, dass «heute die Verkündigung des Heilshandelns Gottes im ersten Bund einen unbestrittenen Platz im gottesdienstlichen Leben der Kirche» hat.6 Trotzdem, so zeigt sie auf, hat sich zum Beispiel «die Vorstellung, dass der Gott der Rache des Alten Testaments durch den Gott der Liebe und der Barmherzigkeit des Neuen Testaments abgelöst worden sei, (…) tief im christlichen Unterbewusstsein festgesetzt».7 Besonders deutlich wird das, wenn das angebliche Vergeltungsprinzip des Alten Testaments «Auge um Auge, Zahn um Zahn» aus Ex 21,24 verwendet wird, um religiös motivierte Gewaltexzesse zu beschreiben. Oftmals wird dann die alttestamentliche Stelle Worten Jesu aus der Bergpredigt im Matthäusevangelium von der anderen Wange und der Feindesliebe (Mt 5,38–48) entgegengesetzt, die dann als Antithesen herausgestellt werden. Das Lesejahr A bietet eine besondere Gelegenheit, dieser falschen, aber tausendfach praktizierten Auslegung etwas entgegenzusetzen. Die Leseordnung sieht Mt 5,38–48 am 7. Sonntag im Jahreskreis vor. Es bietet sich an, statt oder neben der alttestamentlichen Lesung aus Lev 19 den Text von Ex 21 zu lesen und nicht (!) nach Vers 25 aufzuhören, sondern bis Vers 27 zu lesen. Aus meiner Erfahrung in vielen Bibelarbeiten wirkt das Lesen der späteren Verse regelmässig als Augenöffner und sorgt für ein Aha-Erlebnis. Es wird sofort erkennbar, dass es der Tora um Verhältnismässig, um Schadenersatz und um den Schutz der Schwächeren geht. Ausgehend von dieser Erkenntnis, fällt auch noch einmal ein anderes Licht auf die Bergpredigt, und der Jesus im Matthäusevangelium lässt sich als Ausleger der Tora sichtbar machen. Das Arbeitsbuch zur Bibel in gerechter Sprache «Gerechtigkeit lernen» bietet dazu eine ausgearbeitete Seminareinheit für den Einsatz in Gemeinde und Schule sowie theologische Hintergründe.8 Auch die WerkstattBibel bietet hierfür Anregungen (s. u.).

Was Dieter Bauer im ersten Band der Reihe «Die siebzig Gesichter der Schrift» zu bestimmten liturgischen Traditionen formuliert hat, wirkt im Lesejahr A mit dem Matthäusevangelium und seiner Verwurzelung in der Schrift besonders stossend: «die konsequente und noch immer geübte Gewohnheit, sich bei der Verlesung der alttestamentlichen Schriften hinzusetzen und beim Evangelium aufzustehen» und die «Liturgie der Osternacht, wo mit grossem Aufwand an Rhetorik und Symbolik das alttestamentliche ‹Volk, das im Finstern sitzt› für jeden Gottesdienstbesucher so eindrücklich erfahrbar gemacht wird, dass das ‹Gloria› – kombiniert mit dem Glockengeläut und der Festbeleuchtung – das Evangelium erst recht aufleuchten lassen kann».9 Welche liturgischen Formen lassen sich entwickeln, die hier andere Akzente setzen?

Die Reihe «Die siebzig Gesichter der Schrift» kann als Modell dienen, den alttestamentlichen Lesungen die gleiche Wertigkeit zu geben wie den neutestamentlichen. Jede Auslegung beginnt mit dem Schritt «Mit Israel lesen», in dem der Text mit Blick auf die Erstadressaten, das Volk Israel, gelesen wird. Erst in einem zweiten Schritt erfolgt dann die Lektüre im Blick auf die Christinnen und Christen («Mit der Kirche lesen»). Die christologische Interpretation des Alten Testamentes wird eröffnet durch eine Umkehr zu diesem. Die erste Lektüre «mit Israel» ist kritischer Massstab für das christliche Verstehen des Alten Testaments. Im zweiten Schritt kommt die jeweilige Perikope aus dem Evangelium, d. h. im aktuellen Band mehrheitlich aus dem Matthäusevangelium, in den Blick. Auf dem Hintergrund des Textes aus Tora und Propheten wird der Evangeliumstext aus seiner eigenen Tradition heraus verständlich und bekommt eine neue, oft überraschende Weite.

Mit Matthäus die Bibel lesen

Nicht die gesamte Auseinandersetzung mit der Bibel kann im Rahmen der gottesdienstlichen Lesungen stattfinden. Das Lesejahr A bietet auch die Chance für Bibelarbeiten zum Matthäusevangelium. Die Reihe WerkstattBibel stellt dafür ausgearbeitete und in der Praxis erprobte Modelle zur Verfügung. Der 14. Band der Reihe lädt ein, «Mit Matthäus die Bibel [zu] lesen».10 Die erste Bibelarbeit des Bandes folgt dem Begriff «Ägypten» und seinen verschiedenen alttestamentlichen Bedeutungen durch das Matthäusevangelium. Ägypten ist nicht nur Sklavenhaus, sondern auch Zufluchtsort, nicht nur Schreckens-, sondern auch Vorbild. Ägypten ist Bezugspunkt für die Suche nach Identität und Profil des Gottesvolkes. Die weiteren Bibelarbeiten zeigen, wie Jesus in der Bergpredigt als Ausleger der Tora auftritt, sie lesen die Speisungswunder auf dem Hintergrund der Mannaerzählung, sie fragen, wer kommt, wenn Elija kommt, und sie machen die Matthäuspassion als Midrasch alttestamentlicher Texte v. a. von Ps 22 erkennbar. Die letzte Bibelarbeit geht dem «Menschensohn», dem «Immanuel», dem «Gott mit uns» durch das Matthäusevangelium und das Buch Daniel nach. Matthäus spielt mit diesen Worten, die ja wie gesehen den Rahmen seines gesamten Evangeliums bilden, nicht nur die Exodusgeschichte und den Gottesnamen ein, sondern auch den Kampf ums Überleben und das Ringen um die eigene Identität, die sich in der apokalyptischen Literatur niedergeschlagen hat. Daniel sieht: Die Imperien – dargestellt in Form von Tieren – herrschen nicht ewig, es kommt einer «wie ein Mensch». Matthäus endet mit einem Schlussakzent, der zugleich bleibende Verheissung und Hausforderung ist: eine Welt, in der niemand unter bestialischen Herrschern zu leiden hat und in der niemandem die Menschen(kind)würde abgesprochen wird.

1 Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus Band I/1. Neukirchen-Vluyn 52002, 197.

2 Martin S. Gnadt: Das Evangelium nach Matthäus. Judenchristliche Gemeinden im Widerstand gegen die Pax Romana in: Kompendium feministische Bibelauslegung. Gütersloh 21999, 483.

3 Jürgen Ebach: Josef und Josef. Literarische und hermeneutische Reflexionen zu Verbindungen zwischen Genesis 37–50 und Matthäus 1–2. Stuttgart 2009.

4 Ebd., 87 f.

5 Birgit Jeggle-Merz: «In der Messe wird der Tisch des Gotteswortes wie des Herrenleibes bereitet» – Das Alte Testament in der sonntäglichen Eucharistiefeier in: Schweizerisches Katholisches Bibelwerk (Hrsg.): Die siebzig Gesichter der Schrift. Auslegung der alttestamentlichen Lesungen – Lesejahr A. Freiburg/ Schweiz 2013, 13–26.

6 Ebd., 13.

7 Ebd., 16.

8 Klara Butting: Ich lege euch das heute so aus (Mt 5), in: Isa Breitmaier / L uzia Sutter Rehmann (Hrsg.): Gerechtigkeit lernen. Lehren und lernen mit der Bibel in gerechter Sprache Band 1. Gütersloh 2008, 111–115.

9 Dieter Bauer: Die Bibel Jesu ernst nehmen in: Schweizerisches Katholisches Bibelwerk (Hrsg.): Die siebzig Gesichter der Schrift. Auslegung der alttestamentlichen Lesungen. Lesejahr B. Stuttgart 2011, 21.

10 Michael Nuber / Peter Zürn (Hrsg.): Damit sich erfüllt … Mit Matthäus die Bibel lesen. Werkstatt Bibel 14. Stuttgart 2010.

Peter Zürn

Peter Zürn

Peter Zürn ist Präsident des Vereins Bibliodrama und Seelsorge.