Wider den ökologischen Analphabetismus

Das Überleben der Arten im Anthropozäen ist aktuell die grösste Herausforderung. Wie ist dieser zu begegnen? Die Theologie kann wegweisend mitwirken, insofern sie sich für eine planetarische Solidarität einsetzt.

Wir haben es geschafft – ein ganzes Zeitalter trägt unseren Namen: Anthropozän. Doch, wer kann schon wirklich stolz darauf sein, dass wir unseren Planeten in rasanter Zeit so verändert haben, dass zwar die meisten Menschen hierauf noch lebensfähig sind, viele andere, nichtmenschliche Lebewesen jedoch längst nicht mehr? Hätte Gott uns noch ins Dasein gelockt, wenn die Risiken und Nebenwirkungen für die gesamte Schöpfung früher bekannt gewesen wären? Welche Aufgabe kommt der aktuellen Theologie in diesem Szenario zu? Verfügt sie über einen Krisenstab und in welcher Schublade liegen die Notfallpläne?

Schöpfung für uns? 

Spätestens seit Covid-19 und den Diskussionen um den Impact von Zoonosen1 nimmt sich auch der Mensch des globalen Nordens in seiner Existenz als bedroht wahr. Dieses eine Virus sowie vermehrt auftretende Überschwemmungen und weitere kaum kontrollierbare «Umweltereignisse» führen uns unsere eigene Verwundbarkeit und die Zartheit des Lebens vor Augen. Sie lassen uns spüren, dass wir, als hochkomplexes und vergleichsweise wenig flexibles Wesen, auf eine intakte Umwelt angewiesen sind. Wagt man jedoch einen Blick in aktuelle Schöpfungslehren, so spielt das Nicht-Menschliche hier selten eine Rolle. Es geht um den Menschen. Wenn nicht-menschliche Tiere oder Pflanzen ins Spiel kommen, dann, um ihren Daseinszweck als auf uns ausgerichteten und für uns seienden zu thematisieren. Es scheint, als hätte die nicht-menschliche Schöpfung theologisch nur einen Wert: Sie ist Schöpfung für uns. 

Doch was ist mit dem Eigenwert der Geschöpfe? Erzählt uns Genesis nicht sogar, dass sie vor uns erschaffen wurden und sich vermehren sollten? Was ist, wenn wir, die wir zuletzt erschaffen wurden, durch unser Verständnis von uns selbst und unsere Lebensweisen die nicht-menschliche Schöpfung daran hindern, ihrem Schöpfungsauftrag nachzukommen, indem wir nicht nur ein Vermehren der Lebewesen verhindern, sondern ein Artensterben in Kauf nehmen? Würden wir Menschen einander in der gleichen Geschwindigkeit töten wie wir andere Tiere töten, wären wir innerhalb von 17 Tagen ausgestorben.

Für eine planetarische Solidarität

Die kanadische Theologin Heather Eaton fordert die Theologie deshalb dazu auf (oder eher: dazu heraus), eine ökologische Bildung an den Anfang jedweden Theologisierens zu stellen. Die Grundlage einer religiösen Ausbildung solle eine «ökologische Alphabetisierung» sein, so Eaton. Wir Menschen, die wir selbst späte Ausformungen im ko-evolutiven Prozess sind, müssen über diesen Bescheid wissen und uns über unsere tiefe Verwobenheit im Ko-Habitat des Lebens bewusst sein. Eaton fordert die Theologie heraus, eine Auseinandersetzung mit unserem Planeten weder als nachgeordnetes theologisches Interesse zu begreifen noch dieses ausschliesslich in die ökologische Ethik zu verlagern. Ansonsten beginnt man erst bei Tag sechs des Schöpfungswerkes und vernachlässigt damit nicht nur Milliarden Jahre planetarischer Existenz, sondern auch die aktuell grösste Herausforderung des Lebens – das Überleben der Arten im Anthropozän. Mehr noch, jenes Überleben zu schützen, sich also als verantwortliche Bürgerinnen und Bürger der Herausforderung der planetarischen Katastrophe zu stellen, setzt eine profunde Kenntnis und Solidarität mit diesem Planeten voraus. Diese kann allerdings nicht durch die Common-Sense-Politik hergestellt werden, da planetarische Solidarität gerade die durch politische Agenden und kulturelle Programme konstruierten Unterschiede und Ungleichheiten zwischen den Lebewesen und Lebenswelten konterkariert. Planetarische Solidarität setzt voraus, die Erde als Gemeinschaft zu erleben. Es ist keineswegs so, dass die Menschheit den Planeten Erde bewohnt – etwa wie ein Haus (wie der Untertitel der Enzyklika Laudato si’ suggeriert), was bedeuten würde, dass sie von diesem komplett verschieden wäre. Ein Gewahrsein über das dynamische Ko-Habitat aller Lebewesen ist Bedingung für das Erlernen einer planetarischen Solidarität. 

Schöpfungstheologie neu formulieren

Für Eaton steht eine Beschäftigung mit Evolutionstheorien deshalb am Anfang aller Schöpfungstheologie. Statt Evolutionstheorien in religiöse Schöpfungsvorstellungen zu integrieren, sollten Theologien der Schöpfung in Evolutionstheorien integriert werden. Nicht zuletzt deshalb, weil die Entstehung des Homo sapiens sowie die Komplexitätssteigerung hin zu kulturellen und religiösen Phänomenen selbst Ergebnisse evolutiver Prozesse sind. Würden wir Eatons Paradigma ernst nehmen, würde dies eine Revision sämtlicher Lehrpläne und Modulordnungen des Theologiestudiums nach sich ziehen. 

Eine Spiritualität, die Schöpfung im Sinne einer planetarischen Solidarität begreift, ist zuvorderst demütig. Sie macht sich bewusst, dass die Geschichte des Menschen lediglich ein kurzer Augenblick in 4,5 Milliarden Jahren Evolution ist und fragt sich angesichts der Unendlichkeit des Universums, ob es wirklich sein kann, dass das Christentum der Massstab des Universums und ein geeigneter Referenzpunkt ist für alles, was lebt. Würden wir dies ernst nehmen, würden wir eine Theologie der Schöpfung derart formulieren, dass wir uns als recht junges Ergebnis eines Prozesses verstehen, so müssten wir uns eingestehen, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier kein fundamentaler, sondern ein gradueller ist. Entsprechend graduell, tentativ und prozessoffen müssten auch schöpfungstheologische Narrative und die christliche Lehre vom bzw. des Menschen sein. Eine so verstandene Theologie begreift den Menschen im Miteinander und als Teil der Schöpfung und nicht als Gegenüber der (nicht-menschlichen) Schöpfung. Interessant ist hierbei, dass die über lange Jahre vertretene Auffassung, dass dem Menschen besondere Rechte zukommen, da dieser nun einmal auch über besondere Fähigkeiten verfügt, längst nicht mehr trägt. Die Varianz der Fähigkeiten innerhalb einzelner Arten ist oftmals grösser als jene zwischen den Arten. Wer die privilegierte Stellung des Menschen dennoch als «gesetzt» ansehen möchte, der kommt um einen Speziesismus nicht umhin. Hierunter versteht man die Abwertung von Lebewesen anderer Arten aufgrund von Fähigkeiten, die man (heisst: wir!) zuvor als «typisch» für diese Art festgelegt haben. Speziesistische Grundmuster durchweben die Theologie und müssen dringend hinterfragt werden. Zum einen, da der Eigenwert der nicht-menschlichen Schöpfung sonst nie wirklich zur Geltung kommt, zum anderen, da sich Abwertungstendenzen gegenseitig begünstigen, mitunter sogar verstärken. Denn wer Lebewesen anderer Arten abwertet, tendiert auch dazu, innerhalb der eigenen Art unterschiedliche Wertigkeiten zu konstruieren. Ich spreche vom Zusammenhang von Speziesismus und Rassismus. 

Untersuchungen haben ergeben, dass Menschen, die beispielsweise der Auffassung sind, dass wir Tiere selbstverständlich für uns «nutzen» dürfen, weil sie an sich weniger Wert seien als Menschen, eher der Auffassung sind, dass schwarze Menschen für die weissen da seien und daher von diesen ebenfalls «genutzt» werden dürften. Ähnliche Phänomene lassen sich in der Vorstellung der Minderwertigkeit bestimmter Geschlechter ausmachen. Sexismus, Rassismus und Speziesismus gehen oftmals Hand in Hand. Deshalb ist die Theologie gut beraten, sich diesen Themen nicht in «Einzel-Exkursen» anzunehmen – als Beiwerk zur «eigentlichen Theologie» –, sondern sie zunehmend in ihr Zentrum zu stellen. 

Der Respekt vor dem Leben, das Reflektieren etablierter Denkmuster und der Mut zum Neuland sind es, die meines Erachtens eine transformative Kraft entwickeln können. So können wir unsere Aufgabe als Mit-Schaffende in der Neu-Schöpfung der Welt wahrnehmen. Es ist aufregend, die Ressourcen und Potenziale der Theologie hierfür zu entdecken, zu entfalten – eine Alphabetisierungskampagne im besten Sinne.


Julia Enxing

 

 

1 Zoonosen sind Infektionskrankheiten, die zwischen Tier und Mensch übertragen werden können.

 


Julia Enxing

Prof. Dr. theol. Julia Enxing (Jg. 1983) studierte katholische Theologie und Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen, Frankfurt a. M. und promovierte 2012 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 2017 habilitierte sie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen, Frankfurt a. M. Seit 2020 ist sie Professorin für Systematische Theologie an der Technischen Universität Dresden. (Bild: Amac Garbe)