Gemeinsam für ethisch gute Innovationen

Die Digitalisierung aller Lebensbereiche nimmt rasant zu. Was ist ethisch vertretbar? Für nachhaltige Lösungen sollten Ethik und technische Wissenschaften frühzeitig miteinander ins Gespräch kommen. 

Digitale Transformation und der Einsatz von künstlicher Intelligenz durchdringen die menschliche Existenz. Die Geschwindigkeit des technologiebasierten Wandels nimmt zu. Die Zeit scheint zu verrinnen, die für eine normative Reflexion und ethische, rechtliche und politische Gestaltung des technischen Fortschritts bleibt. Die Wahrnehmung dieser Gestaltungsverantwortung erweist sich jedoch als notwendig. Denn digitale Transformation ist zu formen, sie geschieht nicht einfach. Ethische Chancen sind zu nützen, ethische Risiken zu identifizieren und zu vermeiden. Nicht jede Innovation muss qua Innovation gut sein. Fluorchlorkohlenwasserstoff FCKW beispielsweise wurde wegen seiner Auswirkungen auf die Ozonschicht weltweit verboten. Schliesslich ist nicht alles, was technisch machbar ist, zu tun – denken wir nur an die Atombombe.

Technologischer Fortschritt und Ethik

Es ist Aufgabe der Theologischen Ethik, für die Gestaltung des technologischen Fortschritts und dessen Rahmenbedingungen ethische Orientierung argumentativ anzubieten. Dabei interagiert sie mit Technologien, sie reagiert nicht etwa nur. Technologien und Ethik bereichern sich gegenseitig. So meistern z. B. bahnbrechende technologische Lösungen ethisch relevante Herausforderungen. Gleichzeitig informiert und stimuliert Ethik technologiebasierte Innovation, indem beispielsweise das Prinzip der Nachhaltigkeit eine ethische Ausrichtung mitgibt oder ein zu erreichendes Ziel mitprägt. Technologien und Ethik fordern sich auch gegenseitig heraus. Angesichts von technologiebasierten Innovationen stellen sich neue ethische Fragen. Ethik kann technologischem Fortschritt Grenzen setzen, indem z. B. im Zuge der Suche nach technologischen Lösungen für den Umgang mit der Covid-19-Pandemie (z. B. Tracing App) auf der Achtung des Menschenrechts auf Privatsphäre und des Datenschutzes ethisch begründet bestanden wird. Für Technologien und Ethik ist es zielführender, wenn die ethische Perspektive bereits frühzeitig in der Konzeption, im Design, in der Entwicklung, in der Produktion und bei der Nutzung einer technologiebasierten Innovation einfliesst.

«Homo dignitatis» anstatt «homo digitalis»

So kann Theologische Ethik beispielsweise hinsichtlich der für die digitale Transformation grundlegenden Rohstoffe unter Bezugnahme auf die Menschenwürde und die Menschenrechte einfordern, dass bei der Rohstoffgewinnung für und bei der Produktion von Technologieprodukten Kinderarbeit, Vergiftung von Menschen und sklavereiähnliche Arbeitsbedingungen bzw. moderne Sklaverei umgehend zu beenden und in Zukunft zu verhindern sind. (In der Schweiz bietet sich mit der bevorstehenden Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative die einmalige Chance, mit einem Ja zur Konzernverantwortungsinitiative hier einen entscheidenden Beitrag zur Achtung der Menschenwürde und Menschenrechte aller Menschen zu leisten.)
Menschen werden aus theologisch-ethischer Perspektive weder digitalisierbar noch perfektionierbar gedacht, sondern als «homo dignitatis»1. Beispielsweise verhindert die Absage an einen «homo digitalis», dass «gläserne Menschen» als ununterbrochene Datenlieferantinnen und -lieferanten missbraucht und – auf der Basis dieser Daten – in ihrer politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung sowie in ihrem Konsumverhalten gezielt manipuliert werden dürfen. Warum müssen z. B. technische Lösungen für Videokonferenzen unsere Daten stehlen und unsere Selbstbestimmung verletzen? Es muss doch möglich sein, die Software für Videokonferenzen unternehmerisch anzubieten, ohne Menschenrechte zu verletzen.

Beispielsweise bewirkt die Kernkonsequenz der digitalen Transformation «Immer weniger Menschen werden an einer effizienteren und effektiveren Wertschöpfungskette direkt teilnehmen und teilhaben»2 eine andere Resonanz, wenn Menschen als «homo dignitatis» verstanden werden. Der Hauptfokus liegt dann auf der Schaffung eines gerechten Gesellschafts- und Wirtschaftssystems, das allen Menschen ein physisches Überleben und ein menschenwürdiges Leben garantiert. Das Society-, Entrepreneurship-, Research-Time-Model (SERT)3 setzt hier an. Das SERT basiert auf der einen Seite auf der Entrichtung eines Grundeinkommens, das nicht nur die finanzielle Absicherung der physischen Existenz abdeckt, sondern ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Auf der anderen Seite besteht es aus einem Engagement von jedem Menschen für die Gesellschaft (Society-Time), das von jedem Menschen verlangt wird. In Analogie beispielsweise zum Modell des schweizerischen Zivildienstes könnte jeder Mensch in einem aus einer breiten Auswahl von Optionen selbst gewählten Bereich zum gesamtgesellschaftlichen Wohl beitragen. Der zeitliche Umfang dieses gesamtgesellschaftlichen Engagements wäre für alle gleich. Um Anreize für Bildung, Wissenschaft und Forschung, für Innovation sowie für Unternehmertum zu schaffen, stellt ein Engagement in Bildung, Forschung und Wissenschaft, in Innovation und in Unternehmertum einen Grund für eine Reduktion oder sogar für eine Befreiung von der «Society-Time» dar.

Menschen in der Verantwortung

Aufgabe der Theologischen Ethik ist es auch, programmatische Wortschöpfungen im Zuge der digitalen Transformation kritisch zu hinterfragen. Die Rede von «moral technologies» – von «moralischen Technologien» – beispielsweise portiert die Idee, dass Maschinen den Menschen ethische Verantwortung abnehmen könnten. Während Technologien in der Lage sind, ethische Regeln zu befolgen, ist ihnen aus folgenden Gründen die Moralfähigkeit, die Menschen ethisch begründbar zukommt, abzusprechen – und damit verbunden auch die Möglichkeit der Übernahme von Verantwortung.4 Ein Gewissen kann von Technologien nicht ausgesagt werden, da ihnen die verschiedenen Ebenen der Sittlichkeit bzw. der Pflicht sowie der Existenz fehlen, die im Gewissen geprägt von individueller Entwicklung bzw. sozialer Beeinflussung zusammenfliessen.5 Ebenso müssen Technologien ohne Freiheit gedacht werden. Denn Technologien werden von Menschen entwickelt, d. h. sie werden heteronom produziert. So erweist sich auch die Aneignung ethischer Prinzipien und Normen als von Menschen gesteuert. In letzter Konsequenz bleiben demnach Maschinen immer in dieser Fremdbestimmung gefangen. Auch selbstlernende Maschinen gehen bildlich gesprochen auf eine erste Zeile des Codes zurück, die immer von Menschen stammt.

Ohne Freiheit kann Technologien auch keine Autonomie zugesprochen werden. Während es Menschen entspricht, für sich selbst allgemeine moralische Regeln und Prinzipien zu erkennen, diese für sich selbst zu setzen und diese ihren bzw. seinen Handlungen zugrunde zu legen,6 ist dies Technologien nicht möglich. Technologien sind primär auf Zweckmässigkeit ausgerichtet und können sich zwar als selbstlernende Systeme Regeln setzen, z. B. um eine Effizienzsteigerung zu erreichen. Diese Regeln weisen aber keine ethische Qualität auf. Denn Maschinen scheitern am Prinzip der Verallgemeinbarkeit.

Technologien können ethische Regeln einprogrammiert bzw. antrainiert werden, um ein ethisch legitimes Handeln von Maschinen zu erreichen. Die exklusive Verantwortung für Technologien mit Ethik liegt jedoch bei den Menschen. Ethische Prinzipien und Normen sind festzulegen, rechtliche Regeln zu setzen sowie Rahmenbedingungen, Ziele und Grenzen von Technologien zu definieren. 

Ethische Prinzipien und Normen und darauf basierende rechtliche Regulierung eröffnen die Möglichkeit gezielter Förderung der Nutzung ethischer Chancen und von Innovation zum ethisch Guten. Sie befähigen zudem zur Vermeidung von ethischen Gefahren. Anlass zur Zuversicht, dass dies möglich ist, gibt, dass die Menschheit in ihrer Geschichte bereits gezeigt hat, dass sie fähig ist, nicht immer das technisch Machbare «blind» zu verfolgen. Beispielsweise haben Menschen die Forschung im Bereich der Nukleartechnologie global reguliert, um noch Schlimmeres zu verhindern – in Form eines internationalen Regimes, konkreter Durchsetzungsmechanismen und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) bei der UN. Auch hat man sich auf ein weltweites FCKW-Verbot geeinigt – trotz massiven Widerstands der Industrie.

Peter G. Kirchschläger

 

 

1 Vgl. Kirchschläger, Peter G., Homo dignitatis – Ethische Orientierung im Zuge digitaler Transformation, in: Psychologie in Österreich 39/4 (2019), 274–284.

2 Vgl. ders., Roboter und Ethik, in: Aktuelle Juristische Praxis 26/2 (2017), 240–248.

3 Vgl. ders., Bedingungsloses Grundeinkommen – eine menschenrechtsethische Betrachtung, in: Hladschik, Patricia / Steinert, Fiona (Hg.), Menschenrechten Gestalt und Wirksamkeit verleihen, Wien 2019, 551–563.

4 Vgl. ders., Verantwortung aus christlich-sozialethischer Perspektive, in: ETHICA 22/1 (2014), 29–54.

5 Vgl. ders., Gewissen aus moraltheologischer Sicht, in: Zeitschrift für katholische Theologie 139 (2017), 152–177.

6 Vgl. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werkausgabe Weischedel. Vol. 7. Frankfurt a. M. 1797/1974, 74.

Buchempfehlung: «Digital Transformation and Ethics. Ethical Considerations on the Robotization and Automatization of Society and Economy and the Use of Artificial Intelligence». Von Peter G. Kirchschläger. Baden-Baden 2021. ISBN 978-3-8487-4287-5, CHF 68.90. www.nomos.de

 


Peter G. Kirchschläger

Prof. Dr. theol. lic. phil. Peter G. Kirchschläger ist seit 2017 Ordinarius für Theologische Ethik und Leiter des Instituts für Sozialethik ISE an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.