Wichtig sein. Nicht wichtig nehmen.

3. Sonntag im Jahreskreis: 1 Kor 12,12–31a oder 12,12–14.27 (Lk 1,1–4; 4,14–21)

Die liturgische Leseordnung führt weiterhin durch den Ersten Brief des Apostels Paulus an die Christinnen und Christen in Korinth. Das Thema bleibt die Einheit in Verschiedenheit. Allerdings verändert sich die Perspektive. Jetzt geht es um den Zusammenhalt und das Zusammenspiel. Man könnte sagen: Es geht um das «fair play» der Glaubenden. In Korinth jedenfalls liess das zu wünschen übrig. Der Brief gibt zu erkennen, dass einige Christen ziemlich hochnäsig auf ihre Mitchristinnen und -christen herabschauten. Und diese wiederum waren verunsichert: Dürfen sie noch dazugehören? Paulus ärgert das. Die Verabsolutierung bestimmter Charismen und der Dünkel von Höherwertigkeit, dessen Kehrseite die Abwertung vermeintlich Schwächerer war, haben für ihn keinen kirchlichen Modellcharakter. Wenn das Programmwort lauten sollte «Mission durch Faszination», dann musste sich in Korinth Entscheidendes ändern. Sonst würde das Christuszeugnis der Glaubenden verzerrt, die Gemeinde veröden und untergehen.

Es besteht also Korrekturbedarf. Der Apostel muss die Dinge in seiner Gründungsgemeinde wieder geraderücken. Das geht am besten in bildlicher Sprache. Paulus greift auf das in der Antike weit verbreitete Bild vom Organismus des Leibes und seinen Gliedern zurück, um daran den Gedanken von Einheit in Vielfalt und gegenseitiger Wertschätzung zu veranschaulichen. Das bekannteste Vorbild findet sich bei Livius, wo Agrippa eine Revolte zu verhindern sucht, indem er das Bild vom menschlichen Körper einsetzt, das die Revoltierenden zur Aufgabe bewegen soll: In früherer Zeit hätten sich die Glieder des Leibes darüber entrüstet, dass sie nur für den Magen sorgten, der ja nichts anderes tue, als sich an den ihm gegebenen Genüssen zu erfreuen. Doch als die Hände keine Nahrung mehr zum Munde führten, der Mund die Nahrungsaufnahme verweigert und die Zähne nicht mehr kauen, wurde der ganze Leib von äusserster Auszehrung getroffen. Da wurde den meuternden Gliedern klar, dass die Funktion des Magens sich nicht in Trägheit erschöpft (2,32).

Paulus im jüdischen Kontext

Das Alte Testament ist reich an Metaphern, aber die im Hellenismus ausgeprägte bildhafte Vorstellung vom Zusammenspiel des menschlichen Organismus findet sich hier nicht. Parallelen auf der Bildebene zeichnen sich erst im frühjüdischen Kontext ab. Flavius Josephus greift auf die Leibmetapher gleich zweimal zurück. In seinem Epos über den Jüdischen Krieg geht es ihm um die bildhafte Beschreibung der Verfasstheit einer Gesellschaft – zum einen grundsätzlich: «Ist der edelste Teil eines Körpers entzündet, so erkranken zugleich alle übrigen Glieder mit ihm» (Bell 4,4,2); zum anderen konkret: «Da nun die Juden in den Gefechten fortgesetzt schwere Verluste erlitten (…), schnitten die Belagerten, wie man bei einem entzündeten Körper zu tun pflegt, die schon angesteckten Glieder ab, um die Ausbreitung der Krankheit zu verhüten» (Bell 6,2,9). Flavius scheint um die besondere Leistungsfähigkeit der Metapher zu wissen: Pointierter lässt sich kaum auf den Punkt bringen, was es heisst, in einer Schicksalsgemeinschaft zu stehen. Geht man von der Sinnspitze des paulinischen Bildwortes aus, finden sich im weiteren frühjüdischen Schrifttum nur noch recht vage Gemeinsamkeiten. Der griechische Organismusgedanke mag dahinterstehen, wenn frühjüdische Autoren dem Leib das Haupt als das ihn Bewegende (ApkAbr 18,6; Apk Sedrach 11,134,14) oder auch die einzelnen Glieder gegenüberstellen (4 Esr 8,8; Apk Mos 8; Apk Eliae 8,3). Die Vorstellung des menschlichen Leibes als eines Mikrokosmos begegnet in Apk Sedrach 11 (134,9 ff.). Hier wie auch sonst soll jedenfalls zum Ausdruck gebracht werden, dass eine Gemeinschaft nur so lange Bestand hat, wie die verschiedenen Glieder sich als Teil eines Ganzen verstehen und miteinander wirken. Bei Paulus geht es aber nicht um die Gesellschaft an sich, es geht um die Kirche. Anders als die Parallelstellen intendiert das paulinische Bildwort nicht die Aufrechterhaltung vielleicht überkommener staatlicher Machtstrukturen, sondern die Relativierung bis dato überbetonter Stärken in der korinthischen Gemeinde und auf die klare Absage an alle Formen von Ichsucht und Prahlerei. Kein einzelnes Glied kann sich nämlich vom anderen isolieren und hat nur in der Zugehörigkeit zum Leib als Ganzem seine unverwechselbare Funktion und Bedeutung. Paulus fokussiert im Folgenden einzelne Körperteile, um zu verdeutlichen, dass sich die Einheit des Leibes und die Vielheit der Glieder keineswegs wechselseitig ausschliessen. So bringen zwei nur vermeintlich unterbewertete Glieder ihr Unterlegenheitsgefühl zum Ausdruck (1 Kor 12,15 f.). Paulus markiert auf der Bildebene, was ihm auf der Sachebene wichtig ist: Auch Gemeindemitglieder mit unterschätzten Funktionen sollen sich gegenüber angeblich höher Qualifizierten nicht verstecken müssen oder ausgeschlossen fühlen. Das theologische Fundament des paulinischen Bildwortes erschliesst sich am ehesten von einer anderen Wendung her, die der Apostel oft gebraucht und die in grosser sachlicher Nähe zum Bildwort steht. Paulus spricht häufig vom «In-Christus- Sein» der Glaubenden. Die Wendung impliziert zwar noch nicht in direkter Weise die Vorstellung vom Leib, wohl aber die Dimension einer Zusammengehörigkeit, die Konsequenzen abverlangt. Denn das von Christus Bestimmtsein jedes einzelnen Getauften ereignet sich in dem von eben diesem Jesus Christus bestimmten Raum der Kirche. Die Kirche aber ist die Gemeinschaft derer, die an Jesus glauben. Sie kann um ihres Ursprungs und ihrer Glaubwürdigkeit willen nicht aus den Wertmassstäben herausfallen, die ihr vom Evangelium her vorgegeben sind.

Heute mit Paulus im Gespräch

Die Adressatinnen und Adressaten des Ersten Korintherbriefes waren wie sein Verfasser Kinder ihrer Zeit. Ihre Zeit war freilich die Antike. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Verbindung zur Gegenwart gäbe. Im Gegenteil: Der Nutzen von Synergieeffekten steht uns Heutigen ebenso vor Augen wie der Schaden, der durch Reibungsverluste entstehen kann. Das gilt natürlich auch im Miteinander von Menschen. Und erst recht für die Gemeinschaft derer, die an Jesus Christus glauben. Von Paulus zu lernen, heisst, das Grosse und Ganze der Kirche im Blick zu behalten. Und nicht zu fragen, wie sich Einzelinteressen und Sonderwege am schnellsten realisieren lassen, sondern zu suchen, was die Gemeinschaft fördert und voranbringt. Paulus würde das eine Aufbauleistung nennen. Allerdings müssen die Massstäbe stimmen. Es kann nicht das Recht des Stärkeren gelten, auch nicht das der angeblich Frömmsten oder der vermeintlich Progressivsten. Ein Reich, das in sich zerstritten ist, sagt Jesus einmal, kann keinen Bestand haben (Mt 12,25). Wie sehr kommt es dann darauf an, das Verbindende zu stärken und nicht das Trennende, das Gemeinsame zu betonen und nicht das Absonderliche. Auch nur das kleinste Zahnrad im Getriebe hat Gewicht. Es hat aber auch Verantwortung, weil Ausfall Stillstand bedeutet.

 

Robert Vorholt

Robert Vorholt

Prof. Dr. Robert Vorholt (Jg. 1970) wurde in Münster/Westfalen (D) geboren, studierte in Münster und Paris, ist Priester, seit 2012 ordentlicher Professor für Exegese des Neuen Testaments und seit 2017 Dekan der Theologischen Fakultät an der Universität Luzern.