Wer hat Angst vor dem Christentum?

Freidenker Valentin Abgottspon entfernte in seinem Schulzimmer das Kreuz. Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder ordnete das Aufhängen von Kreuzen in den Ämtern an. Das Kreuz mit dem Kreuz.

In der Schweiz sollten auch weiterhin christliche Symbole wie etwa das Kreuz im öffentlichen Raum nicht nur erlaubt, sondern als Teil der eigenen Identität gewürdigt werden. Und doch ist gerade das Kreuz als öffentlich sichtbares Symbol in den letzten Jahren immer mehr infrage gestellt worden. Man möchte es aus der Wahrnehmung der Menschen entfernen, wie die Glocken, die religiösen Argumente im öffent- lichen Diskurs, die konfessionell gebundene Seelsorge im Spital und den konfessionellen Unterricht im Schulzimmer. Ein für alle wahrnehmbares Christentum als Spiegelbild der eigenen Kultur: nein danke. Denn es stelle im Zeitalter des Multikulturalismus und der religiösen Neutralität des Staates eine Diskriminierung der Nichtchristen dar. Und es sei Rechtspopulismus, wenn das Christentum angesichts der Migrantenströme zur Leitkultur hochstilisiert werde. Leuten wie dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, Markus Söder und Gerhard Pfister (Präsident CVP Schweiz), die Jesus auf die Fahne ihrer Programme malen, gehe es doch nur darum, Stimmung gegen Zugewanderte zu machen und ihnen unsere Lebensweise aufzuzwingen.

Öffentlicher Raum gehört den Menschen

Gegen eine solche Sichtweise sprechen vor allem zwei Gründe. Erstens wird hier der Staat mit dem öffentlichen Raum gleichgesetzt. Zweifellos ist der Rechtsstaat religiös neutral und darf keine Religion obrigkeitlich durchsetzen. Aber es ist nicht Aufgabe dieses Staates, den öffentlichen Raum zu gestalten. Dieser gehört den Men-schen, die in ihm leben. Solange in unserer Gesellschaft überzeugte Christen leben – sowie übrigens auch Nichtchristen, die im Christentum ein zu würdigendes Fundament unserer Freiheitskultur erkennen –, ist es angemessen, wenn sich diese Überzeugung im öffentlichen Raum spiegelt. Das Argument, die Neutralität des Staates verbiete die öffentliche Präsenz des Christentums, hat zur stillschweigenden Voraussetzung, der Staat sei deckungsgleich mit dem öffentlichen Raum. Das ist jedoch nur in totalitären Staaten der Fall. Ein freiheitsbewusstes Europa sollte sich nicht in diese Richtung entwickeln.

Zweitens verkennt der aggressive Laizismus die geschichtlichen Zusammenhänge. Alexis de Tocqueville1 hat einmal gesagt: «Die Freiheit ist eine Tochter des Christentums. Der Despotismus kann auf die Religion verzichten, die Freiheit nicht.» Was der französische Denker formuliert hat, lebt weiter im Böckenförde-Diktum2: «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.» Diese Voraussetzungen bestehen nicht zuletzt in Grundsätzen, die sich dem jüdisch-christlichen Erbe verdanken. Ohne Christentum hätte es keine Kultur der Freiheit, keine Aufklärung und auch keine Religionsfreiheit gegeben. Das säkulare Prinzip, die Trennung von Religion und Politik, gehört zum Fundament des Westens und ist erst mit Jesus Christus in der Geschichte der Kulturen wirkmächtig geworden.

Notwendige Aufklärung über die Aufklärung

Angesichts dessen ist plakatives Eintreten für religiöse Symbole und kirchliche Präsenz im öffentlichen Raum nicht ausreichend. Aufgabe der kirchlichen Verkündigung, der am Christentum orientierten Geisteswissenschaft und Politik wäre es vielmehr, den ursächlichen Zusammenhang zwischen Christentum, Aufklärung und Moderne zu thematisieren sowie eine Aufklärung über die Aufklärung zu betreiben. Auch bedarf es einer Aufklärung über die unersetz- bare Bedeutung des christlichen Glaubens für die Unverhandelbarkeit der Würde jedes Menschen und für die Menschenrechte. Nur wenn wir in Zukunft besser vertreten, dass das Christentum trotz seiner in Vergangenheit und Gegenwart begangenen Sünden kein Gegner des freiheitlichen Westens, sondern dessen Voraussetzung ist, werden die Menschen in einem öffentlich sichtbaren Kreuz oder im Klang einer Glocke nicht den Machtanspruch einer Religion sehen, die sich über andere erheben will. Vielmehr werden sie im Kreuz ein Zeichen für das Fundament erkennen, auf dem die Freiheit des Westens ruht. Das Christentum ist auch das Fundament der Freiheit der Andersgläubigen. Und vor diesem Fundament der Freiheit aller braucht niemand Angst zu haben.

Martin Grichting

 

1 Alexis Charles-Henri-Maurice Clérel de Tocqueville (1805–1859) war ein französischer Politiker, Historiker und Publizist.

2 Ein vieldiskutierter Satz des deutschen Staats- und Verwaltungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde.

 


Martin Grichting

Dr. habil. Martin Grichting (Jg. 1967) ist seit 2009 Generalvikar des Bistums Chur. Er gehört der Herausgeberkommission der Schweizerischen Kirchenzeitung an.