Das Ende der liberalen Demokratie

Wie stehen die Kirchenleitungen und das Kirchenvolk zu Viktor Orbáns politischen Bestrebungen, aus Ungarn eine christliche Demokratie zu machen? Wie christlich ist seine Politik wirklich?

Ungarn macht seit ein paar Jahren negative Schlagzeilen. János Wildmann ist in Ungarn geboren und lebt nach einem fast 20-jährigen Aufenthalt in der Schweiz seit 1998 wieder in seinem Heimatland. Er gibt uns einen tieferen Einblick in die Verhältnisse vor Ort.

SKZ: Im April 2018 wurde Viktor Orbán das vierte Mal zum Ministerpräsidenten gewählt. Welche politischen Ziele setzte er für die kommende Amtszeit?
János Wildmann: Orbán plant nicht nur für die nächsten vier Jahre, sondern bis 2030. Und wenn nicht etwas Aussergewöhnliches passiert, kann sein Plan aufgehen, denn die politischen Rahmenbedingungen hat er dementsprechend festgelegt. Die meisten Ziele, die er in seiner Antrittsrede im Mai nannte, sind keine Neuigkeiten. So versprach er, den Bevölkerungsrückgang zu stoppen, Schnellstrassen und Autobahnen zu bauen, den Export ungarischer Firmen um 50 Prozent zu erhöhen. Beobachter hoben eher Aussagen aus der Antrittsrede hervor, die etwas vom Demokratieverständnis des ungarischen Regierungschefs und vom voraussichtlichen Verhältnis Ungarns zur Europäischen Union verraten. Was das Erstere betrifft, so fiel auf, dass Orbán nicht mehr von illiberaler, sondern von einer christlichen Demokratie sprach.

Was versteht er darunter?
Nachdem Orbán 2014 seine illiberale Demokratie proklamiert und dabei Regime als Vorbilder erwähnte, «die weder westlich, noch liberal, noch liberal-demokratisch» orientiert sind, musste er viel Kritik einstecken. Er zog aus dieser Kritik die Konsequenzen und wechselte das Vokabular, aber der Inhalt ist derselbe geblieben. In der orbánschen Demokratie kommen christlich-demokratische Werte nur in Spuren vor.

Was verbindet er denn mit «christlich»?
«Christlich» ist für Orbán v. a. eine kulturelle Kategorie, die mit liberalen Werten nichts zu tun hat. In seiner Antrittsrede im Frühjahr bekräftigte er, dass «die Ära der liberalen Demokratie zu Ende ist. Sie ist untauglich geworden, die Würde des Menschen zu verteidigen, untauglich, die Freiheit zu gewähren, sie kann die physische Sicherheit nicht mehr garantieren und kann nicht einmal die christliche Kultur aufrechterhalten.» Eine christliche Demokratie aber könne all dies tun und ausserdem auch noch «die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das traditionelle Familienmodell verteidigen, den Antisemitismus mässigen […] und eine Chance zum Überleben und Wachstum unserer Nationen geben.»

Wie verhalten sich die Kirchen gegenüber der Politik Orbáns?
Als während der zweiten Regierungszeit von Orbán zwischen 2010 und 2014 die Kritik aus dem Ausland wegen des Abbaus der Rechtsstaatlichkeit zunahm, verteidigten ihn wiederholt Kirchenmänner. Der reformierte Bischof István Bogárdi Szabó warf westlichen Politikern vor, in der schwierigen wirtschaftlichen Lage im ungarischen Premier einen Prügelknaben zu finden. Der katholische Erzbischof Balázs Bábel bezeichnete in einem Artikel die gegenüber der ungarischen Regierung kritischen EU-Politiker als «Sklavenhalter», die «mit der Macht des Geldes erzwingen wollen, dass wir gehorchen». Nach dem katholischen Erzbischof Gyula Márfi sei die herrschende Kraft in Europa «antichristlich» und «ultraliberal».

Gibt es auch kritische Stimmen?
Ja, zum Beispiel zu Orbáns Flüchtlingspolitik. So widersetzten sich führende kirchliche Persönlichkeiten der Regierungslinie. Der Benediktinerabt Asztrik Várszegi wies das Klosterpersonal an, die Pforten zu öffnen, wenn daran geklopft wird. «Wir können niemanden draussen lassen, das würde dem Evangelium widersprechen.» Die Bischöfe Miklós Beer von Vác (Waitzen) und János Székely von Szombathely (Steinamanger) nahmen Flüchtlinge in ihren Bischofspalast auf und baten die Gläubigen ihres Bistums, den Emigranten zu helfen. Ähnlich handelten auch einzelne Pfarrer. Sie alle aber mussten vom Kirchenvolk viel Kritik einstecken.

Interview: Maria Hässig


Interviewpartner János Wildmann

János Wildmann (Jg. 1954) wurde in Ungarn geboren und bereits im ersten Gymnasialjahr von der Stasi bespitzelt. Er studierte in Pécs (Fünfkirchen) Ökonomie und später an der Theologischen Akademie in Budapest und an der Theologischen Hochschule in Luzern Theologie. Er arbeitete als Gymnasiallehrer und Katechet in der Schweiz. Er promovierte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, habilitierte an der Evangelischen Universität in Budapest und ist seitdem Dozent an protestantischen theologischen Hochschulen.
(Bild: Márton Kállai)

 

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