"Wenn er wiederkommt im Glanz seiner Herrlichkeit…"

3. Adventssonntag: Jesaja 61; Joh 1

Jesajas gefährliche Botschaften

Der Geist GOTTES, des Herrn, ruht auf mir (Jes 61,1a). So ein Satz hört sich nach Segen an, und wer braucht diesen nicht? Viele Christinnen und Christen haben sich daran gewöhnt, dass der Geist Gottes auf ihnen ruht und die Gelassenheit ausstrahlt, die ein Ausruhen im Alltag ermöglicht. Das "Gnadenjahr des HERRN" (V2a) möge einfach friedlicher werden als das letzte. Wie es umschrieben wird: "Und ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt eine Freilassung ausrufen im Lande für alle, die darin wohnen; es soll ein Erlassjahr für euch sein. Da soll ein jeder bei euch wieder zu seiner Habe und zu seiner Sippe kommen." (Lev 25,10).

Und wer sich für die Festtage dieses Jahreswechsels parat macht, frohlockt vielleicht so: "Von Herzen freue ich mich am HERRN. Meine Seele jubelt über meinen Gott. Denn er kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit, wie ein Bräutigam sich festlich schmückt und wie eine Braut ihr Geschmeide anlegt" (Jes 61,10). Soweit die Worte der ersten Lesung.

Zitat oder Verweis

Die Lesung zitiert aus dem Buch Jesaja einzelne Sätze. Es ist eben eine Perikope1, eine kleine Passage, die das, was folgt, in Bezug zu einer Verheissung setzen soll. Verwirklichte sich das "Gnadenjahr des Herrn", als Johannes auftaucht, so wie es das Evangelium erzählt? Nein, noch nicht. Hier wird ein Spannungsbogen gezogen. Johannes (Joh 1,6–8), von Gott gesandt, dient zur weiteren Ankündigung, die sich später erfüllen soll. Weihnachten eben: Gottes Licht kommt in die Welt. Das Zitat ist jedoch nicht nur eine schöne Passage antiker Literatur. Es kann gefährlich sein, den so genannten Tritojesaja2 zu zitieren und dann das Eintreten des "Gnadenjahres Gottes" in der Gegenwart zu verkünden.

Im Lukasevangelium wird erzählt, dass in einer Lesung in der Synagoge auch Jes 61,1f zitiert wird. Der Lektor ist Jesus (Lk 4,16–21). Dieser rollt das "Jesaja-Buch" zusammen und spricht: "Heute ist diese Schrift vor euren Ohren erfüllt." Daraufhin entsteht ein gefährlicher Tumult, dem sich Jesus vorerst entziehen kann. Die wohlwollende Stimmung kippt. Das Prophetenwort ist mehr als unangenehm, da es an den gegebenen Umständen rüttelt, die Gott so verhasst sind.

Mantel der Gerechtigkeit

Wenn tatsächlich das "Gnadenjahr Gottes " anbricht, ist Schluss mit den Ruhekissen derer, die miese Umstände zwar beklagen, sich aber in diesen zum eigenen Vorteil eingerichtet haben. Dass heute Jes 61 keinen Tumult mehr auslöst, liegt vielleicht daran, dass der Auslegung der heiligen Schrift keine derartige Relevanz mehr zukommt, möglicherweise aber auch daran, dass wichtige Aussagen in der Leseordnung fehlen (Jes 61,2b–9).

Das Gnadenjahr wird ausgerufen, wenn der Zeitpunkt der Vergeltung da ist. Wie aber stünde es heute um die Rache Gottes, die alle Trauernden zu trösten vermag? (V2b). Wer legt heute einen Deckmantel auf kriminelle Machenschaften und macht sich selbst einen Mantel der Gerechtigkeit? Der Schutzmantel aus der Lesung wäre heute eher für Hungerlöhner, Betrogene, Verdrängte und jene, deren Leid unsichtbar gemacht wird, reserviert. Es werden im "Gnadenjahr" nicht jene geschmückt, die Schmuck besitzen, sondern jene, an denen die Asche klebt (V3a), die trauern in den Ruinen ihrer Vorfahren. Städte der Verwüstung werden durch sie wieder aufgebaut (V4) – in diesem Fall durch die Trauernden Zions. In diesem Gnadenjahr werden sie die mühsame Arbeit anderen geben können (V5). Die "Reichtümer der Nationen" werden nun von denen genossen, die vorher nichts davon hatten (V6) und die, die vorher Schmach in Kauf nehmen mussten, werden jetzt entschädigt (V7).

Von Anfang an zu Ende denken

Um Raub und Unrecht zu erkennen, braucht es den Blick auf "vorher" und "jetzt". Bezogen auf die heutige Lesung dürfen diese Fragen nicht ausgeklammert werden: Wo kommt die Idee eines Gnadenjahres her? Welche Erfahrungen an menschlichem Leid sind damit verbunden? Der Geist Gottes ruht auf dem Menschen, der die Veränderung ausruft und den Gefangenen und Geknechteten nicht nur Heil, sondern auch Vergeltung für ihre erlittene Schmach verkündet. Es soll nicht gut für die Bösen enden. Die Ankunft der Gerechtigkeit Gottes ist – sofern man daran glaubt – etwas äusserst Unangenehmes. Man kann nicht zu dem biblischen Gott beten und singen, ohne auf diesen Satz aus der Lesung zu verzichten: "Denn ich, der HERR, liebe das Recht, ich hasse Raub und Unrecht." (V8a)

Angesichts eines inzwischen etablierten "christlichen" Populismus, der auf dem rhetorischen Boden der Bibel aufbaut, müssen die Erzählzusammenhänge der Bibel wieder neu entdeckt und vermittelt werden. Die Identifikation mit dem "Volk Gottes" ist ohne die Identifikation mit der Geschichte Israels und den prophetischen Mahnungen nicht möglich. Das Erwarten und Hoffen auf Landnahme wird ohne die Erfahrung von Vertreibung und Exil zur Eroberungsgeschichte. In den wohlklingenden Sätzen steckt die ganze Geschichte drin: die Klage, Gottes Heilszusage und Erfüllung, der Jubel:

"Freudenöl statt Trauerkleid, Lobgesang statt ein verzagter Geist, damit sie [die Trauernden] Bäume der Gerechtigkeit genannt werden, Prachtpflanzung Gottes." (Jes 61,3b).

 

1 Περικόπτειν – rundherum abtrennen, umschneiden, verstümmeln.

2 Die Kapitel Jes 56–66 werden einer dritten Phase der Entstehung von Jes in nachexilischer Zeit zugeordnet, in deren Zentrum (Jes 60–62) es um Zions Zukunft geht.

Katja Wissmiller

Katja Wissmiller

Die Theologin, Fotografin und Journalistin Katja Wissmiller ist Mitarbeiterin der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich.