Ökumene im Advent

Noch etwas erwarten? Sind erreichte Verständigungen in Fragen der Lehre hinreichend, um gemeinsam Eucharistie und Abendmahl zu feiern? Dorothea Sattler legt Gedanken zur Ökumene im Advent dar.

Wer wartet schon gerne? Wohl niemand, könnte eine erste Antwort lauten. Eine Wartezeit durchleben, scheint mit Leerlauf und vergeblichen Bemühungen verbunden zu sein. Enttäuschungen werden im Empfinden gross und stark. Sind Wartezeiten immer negativ zu betrachten? Wohl kaum – es gibt auch die als kostbar empfundene Zeit des Wartens auf einen geliebten Menschen, in der Fantasien sich bilden, die Wünsche aneinander gross werden, die Erwarteten in reiner Form ohne jede Beeinträchtigung vor Augen stehen.

Welches Empfinden ist vorrangig in der Ökumene der Gegenwart? Worauf eigentlich (noch) warten, fragen die Ungeduldigen in der Ökumene. Sie betrachten die erreichten Verständigungen in Fragen der Lehre als hinreichend, um gemeinsam Eucharistie und Abendmahl zu feiern. Ihnen widersprechen Menschen, die im Blick auf die institutionelle Gestalt der Kirchen sowie in ethischen Themenbereichen eine konfessionell begründete Differenz erkennen, die kirchentrennend wirksam ist. Es gibt zudem viele Menschen, die von den Kirchen nichts mehr erwarten, weil sie keinen Zusammenhang zwischen der christlichen Botschaft und den existentiellen Fragen ihres Lebens erkennen können.

Ökumene ist vielgestaltig

Keine Einzelpersönlichkeit kann in der weltweiten Ökumene heute im Gesamt wahrnehmen, welche Annäherungen zwischen den Konfessionen inzwischen erreicht worden sind. Die vielfältigen ökumenischen Bemühungen bedürfen einer neuen Anstrengung zur Koordination. Neue Gemeinschaften – unter ihnen vor allem die lokalen pentekostalen Bewegungen, die Pfingstkirchen in ihrer Unterschiedlichkeit weltweit – stellen die etablierten Kirchen vor grosse Herausforderungen: Haben die etablierten Kirchen im Blick, dass Menschen auf Heilung an Leib und Seele durch Gottes Geist hier und heute schon hoffen? Andere Sorgen stehen im Vordergrund: An manchen Orten führen finanzielle Beschränkungen zu einem Erlahmen des ökumenischen Eifers. Die zunehmende Knappheit der Ressourcen kann zu neuen Formen der Zusammenarbeit führen. Kirchenräume werden füreinander geöffnet. Was gemeinsam verantwortet werden kann, darf nicht in konfessioneller Selbstbegrenzung geschehen. Begründungsbedürftig ist, was vor Ort nicht aus der einen christlichen Verantwortung heraus geschieht.

Kontroversen nicht nur zwischen den Konfessionen

In vielen Themenbereichen sind die Differenzen nicht zwischen, sondern innerhalb der Konfessionen verortet. Zerreissproben sind miteinander zu bestehen. Die Pluralität der Standpunkte innerhalb jeder Konfession ist sehr gross. Bündnisse werden über die Konfessionen hinweg je nach dem theologischen Standort getroffen. Oft sind es Kontroversen in der Frage einer angemessenen Hermeneutik in der Schriftauslegung, die in allen Konfessionen unterschiedliche Positionierungen zur Folge haben: Gilt allein der Wortlaut der Bibel, oder ist immer auch die geschichtliche Distanz zur Entstehungszeit der Texte bei der Interpretation zu beachten?

Die dabei vorrangig zu Kontroversen Anlass gebenden Themen sind vor allem einzelnen Fragen im Bereich der Sexualethik und der Geschlechteranthropologie zuzurechnen: Frauen und Männer im kirchlichen Amt, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Zölibat. Auch bei der ethischen Beurteilung von Lebensformen zu Beginn und am Ende des menschlichen Daseins lassen sich nicht immer konfessionelle Grenzlinien ausmachen. Neben diesen ethischen Themenbereichen finden sich im binnenkonfessionellen Raum nicht selten kontroverse Ansichten über das Verständnis der Kirchenverfassungen und der amtlichen Strukturen. Innerkonfessionelle Debatten binden viele Kräfte.

Vor grossen sozialen und politischen Herausforderungen

Nach fruchtbaren Jahrzehnten der Annäherung steht die Ökumenische Bewegung vor neuen Herausforderungen: Fragen des Glaubens, in denen die Kirchen gemeinsame Optionen haben, werden in das gesellschaftliche Gespräch eingebracht. Vorrangig wichtig erscheint es, gemeinsam die weltpolitischen, sozialethischen und individualethischen Herausforderungen anzunehmen, die die Gemeinschaft der Geschöpfe bedrängen.

Die Kirchen sind gefordert, sich den Fragen der Gegenwart zu stellen: Wie finden die Menschen einen sicheren Ort für die Gestaltung ihres Lebens? Wie ist es möglich, Versöhnung und Frieden unter den Völkern zu erreichen? Wie können die Lebensgrundlagen für alle gesichert werden? Warum gelingt es nicht, die entlohnte Arbeit gerecht zu verteilen? Wer stillt Hunger und Durst der Bedürftigen in den Ländern, in denen es selten regnet? In welcher Weise lassen sich die Verstrickungen lösen, die viele Menschen im Blick auf ihr Leben in Beziehungen empfinden? Wer steht den Verzweifelten Tag und Nacht zur Seite? Wer tröstet die Sterbenden mit der Osterbotschaft des gemeinsamen christlichen Evangeliums?

Geistliche Ökumene von sehr hoher Bedeutung

Wahre geistliche Erfahrungen in ökumenischen Begegnungen lassen viel zu wünschen übrig – in einem guten Sinne: In ihnen wird die Trauer über die fortbestehende Trennung spürbar, und sie vermitteln eine frohstimmende Ahnung von dem grossen Reichtum des christlichen Glaubens.

Übrig bleibt viel: der Wunsch nach einer währenden, nicht von Trennung bedrohten, lebendigen christlichen Gemeinschaft im Hören auf Gottes Wort, im sakramentalen Gedächtnis des Todes und der Auferweckung Jesu Christi und in der Bereitschaft zum Zeugnis in Tat und Wort. Spirituelle Erfahrungen sind mit Bewusstsein erfasste Geschehnisse, in denen Menschen in der Kraft der Gegenwart des Geistes Gottes an die Tiefen ihrer Daseinsfragen herangeführt werden und eine vertrauenswürdige, gläubige Antwort erkennen und ergreifen können. Spiritualität ist der in Gottes Begleitung geschehende Weg zum Grund des je ganz eigenen Lebenslaufes, der sich in der Gemeinschaft der Mitgeschöpfe vollzieht.

Dieser geistliche Weg kann eine unterschiedliche Gestalt haben: stilles Hören, drängendes Flehen, ausdauerndes Singen, mutiges Handeln, zeichenhafte Gebärden, offene Gespräche. Wer jemals erfahren hat, dass andere Menschen jener Antwort, die sie selbst auf die gemeinsamen Lebensfragen gefunden haben, in glaubwürdiger und ansprechender Weise Ausdruck verleihen können, der wird sich dem Reiz des geistlichen Miteinanders nicht mehr entziehen wollen.

Das Leben lässt viel zu wünschen übrig. Gemeinsam fällt es leichter, sich in die Dunkelheiten des Daseins zu begeben, den unausweichlichen Tod und die belastende Sünde zu bedenken. Nur in Gemeinschaft lässt sich das Licht des Vertrauens auf den Gott des Lebens hüten.

Das Ziel der Ökumene ist offen

Mehr denn je ist sich die Ökumenische Bewegung bewusst, dass sie keine Einmütigkeit in ihrer Zielbestimmung hat. Ökumene ist immer auch Teil der weltweiten Kirchenpolitik und daher allein auf der Grundlage sachlicher Argumentationen nicht hinreichend zu verstehen. Persönlichkeiten mit ihren Eigenarten und divergierenden Standorten prägen die ökumenische Theologie mehr als andere Bereiche. Wer wüsste, welche kirchenleitenden Persönlichkeiten zukünftig die Ökumenische Bewegung gestalten? Unter dem Wort Gottes, das um der Glaubwürdigkeit des Zeugnisses für Jesus Christus zur Einheit in seiner Nachfolge mahnt (vgl. Joh 17,21), stehen alle, die sich Christinnen und Christen nennen. Gottes Geist wird daran immer wirksam erinnern. Die Kirchen sind alternativlos auf einem nicht selbst gewählten Weg zur Einheit. Das Ziel ist die Gemeinschaft mit Gott. Gott wartet tätig – uns entgegenkommend immerzu.

 

 

Dorothea Sattler

Dr. theol. Dorothea Sattler leitet das Ökumenische Institut der Katholisch- Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms- Universität in Münster