«Wenn du Frieden willst, bereite den Frieden» (I)

In den gegenwärtigen geopolitischen Verhältnissen haben Konflikte zwischen den Staaten einen Charakter angenommen, welcher neue Bewältigungs- und Lösungsstrategien erfordert. Sie verändern die Sicht auf die Friedensethik und deren Praxis.1 Adrian Holderegger äussert sich zu den neuen Herausforderungen an die Friedensethik in dieser und der nächsten SKZ-Ausgabe.

Ich war in den letzten Jahren als «Ambassador for Peace» der UN verschiedentlich an Missionen und Foren beteiligt – sei es am Sitz in Genf oder dann in den jeweiligen Konfliktgebieten (Syrien, Jerusalem, Seoul, Addis Abeba, Kongo-Kinshasa). Diese Erfahrungen schärfen den Blick für die Entstehungsbedingungen von politischen, kulturellen und religiösen Spannungen, die jederzeit in Ausgrenzung, Unterdrückung und Gewalt münden können. Anderseits schärfen sie den Blick für das «Rettende», für versöhnende und friedenstiftende Potentiale, die nicht bloss in universalistischen, sondern vor allem auch in lokalen Traditionen schlummern. Dies ist hier näher zu betrachten und wird später in einige Thesen zu den Herausforderungen münden.

Ambivalente «Condition humaine»

Die neueren anthropologischen und neurobiologischen Erkenntnisse2 ermöglichen einen realistischeren Blick auf die Friedenskonzepte als noch vor Jahren. Sie machen skeptisch gegenüber einem idealistischen Friedenspathos, das paradiesische, konfliktfreie und harmonische Zustände heraufbeschwört. Sie vermitteln auch eine Art «anthropologische Gelassenheit» in der Herstellung von Friedenszuständen. Damit ist gemeint, dass sich alle Friedensethik und alles Friedenshandeln zu vergegenwärtigen hat, dass die aggressive Selbstbehauptung ebenso zur anthropologischen Ausstattung gehört wie die Bereitschaft zu Kooperation, Rücksichtnahme und fürsorglicher Empathie. Diese in concreto nur schwer auszuhaltende Ambivalenz der «Condition humaine» muss allerdings eine «reduktionistische Sicht» ausschliessen, die lediglich den Hobbesschen Zustand des «Jeder gegen Jeden» als realistisch anerkennt und daher die Arbeit an der «Condition humaine» im Hinblick auf Anerkennung der Menschenwürde und des menschenrechtlich abgesicherten friedlichen Zusammenlebens für obsolet hält. Zu berücksichtigen ist die ganze ambivalente Tiefenstruktur des menschlichen Wesens. Sie steckt den Rahmen einer Friedensethik ab, gibt aber auch die Struktur einer Friedensarbeit vor, die geduldig in abgesicherten Schritten voranzugehen hat – und immer mit dem Risiko eines Rückfalls in den «ungeselligen Zustand» (Kant) rechnet. In einem sehr realen Sinne haben wir theoretisch wie praktisch die Spannung auszuhalten, dass das Hochhalten der Menschenwürde und das Hinarbeiten auf einen menschenrechtlich abgesicherten Friedenszustand im krassen Gegensatz steht zur Missachtung jener Werte, die den Friedenszustand sichern wollen. Das ist Provokation und Stachel zugleich, diese faktischen Differenzen zu verringern.

Heterogene Lösungsansätze

Noch gibt es wenige Ansätze, welche die Ergebnisse der jüngsten neurobiologischen Forschung aufnehmen und deren Erkenntnisse zur anthropologischen Konstitution im Hinblick auf Gefährdung und Stabilisierung, auf Auseinanderbrechen und Ausgleich im konfliktuösen Miteinander nutzbar machen. Diese machen besonders deutlich: Wir haben im Friedensprozess mit unvollkommenen Realisierungsstufen, vorläufigen Kompromissen und heterogenen Lösungsansätzen zu rechnen. In diesem Rahmen ist beispielsweise das Konzept der «Transitional Justice»3 entstanden, das – weil in Vielem noch unausgereift – sich nur schwer in die klassische Friedensethik einordnen lässt. Denn es rechnet mit einer defizitär-moralischen Dimension des Friedensethos und der Friedensarbeit. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass Friedensprozesse und die Bewältigung von Konflikten über Jahre dauern können und daher stufenangepasste Konzepte einfordern. Friedensethische Überlegungen haben hier nicht zu kapitulieren, sondern den Blick darauf zu werfen, inwiefern partielle Befriedungen nachhaltig zur sozialen und politischen Stabilität beitragen können.

Menschenrechte – Referenz der Friedenssicherung

Wenn man blinde Aggression und Gewalt – und erst recht den Krieg – als eine Verweigerung der Rechtfertigung kommunikativer Praxis versteht, die letztlich darauf abzielt, den geschuldeten gegenseitigen Respekt aufzuheben, dann ist das Gegenteil, der Frieden, nichts anderes als die Realisierung des moralischen Imperativs der wechselseitigen Respektierung. Der Friede ist daher nicht bloss ein politisches, sondern zuerst und zuletzt ein moralisches Projekt, das nicht bloss die dunklen Seiten menschlicher Existenz zu domestizieren hat, sondern das darauf abzielt, die unbedingte wechselseitige Anerkennung des Einzelnen zu sichern. Dies ist der Kern der Würde des Menschen: Die Fremdperspektive, die dem Anderen gleiche Achtung zuerkennt, wie sie die Ich-Perspektive für sich beansprucht, orientiert und begrenzt das interessengeleitete Handeln des Einzelnen wie des Kollektivs.

Die Menschenrechte müssen unter dieser Hinsicht gelesen werden. Wenn und insofern der Friedensimperativ letztlich der Wahrung und dem Schutz der Würde der Person dient, werden die Menschenrechte zum letzten Referenzpunkt der Friedensethik und der Friedenspraxis. Damit setzt sich aber dieser Diskurs insbesondere auf internationaler Ebene immer wieder dem Vorwurf aus, die Akteure des Westens würden nur ein bestimmtes westliches Ethos durchsetzen wollen. Die Vorwürfe des imperialen, materialen Universalismus – des Aufklärungsimperialismus – sind genügend bekannt («Die Menschenrechte sind westlich»). Auch wenn man den Vorwurf in dieser Form nicht teilen, aber auch so nicht stehen lassen kann, so empfiehlt sich in Anlehnung an Hans Joas eine Diskursstrategie, welche zwei Narrative scharf unterscheidet.4 Das eine verweist auf die in den verschiedenen Kulturen schon früh angelegten Universalismen, das andere verweist auf die Kodifikation der Menschenrechte in der Französischen und der Amerikanischen Revolution und dann in der Allgemeinen Erklärung von 1948, in denen der Wertgeneralisierungsprozess seinen vorläufigen Abschluss gefunden hat. Es ist umstritten, aber sehr hilfreich, wenn man die ersten Versuche universalistischer Formulierungen in der Achsenzeit (800 bis 200 v. Chr.) festmacht und feststellt, dass der Prozess der Wertgeneralisierung von Ethos-Elementen, die in verschiedenen Denk- und Kulturtraditionen angelegt sind, seinen vorläufigen Abschluss in der Deklaration von 1948 gefunden hat. Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Geschichte des archaischen Staates und der Entstehung eines Begriffes von Menschheit. Die Expansion der ersten grossen Staatswesen, z. B. Ägyptens, Mesopotamiens, des Perserreiches, führte zu Formulierungen des moralischen Universalismus, indem es in der Rechtsbildung die Vorstellung gab, dass gesellschaftliche Gebilde nicht nur auf religiöser Grundlage beruhen müssen (Kodex Hammurabi).

Achsenzeitforschung

Die Achsenzeitforschung5 zeigt darüber hinaus, dass es gleichzeitig und unabhängig voneinander Durchbrüche in Richtung eines moralischen Universalismus gibt, nicht bloss im Mittelmeerraum, sondern auch in China und Indien. Karl Jaspers sprach vom «Zeitalter der Transzendenz», in dem es in jenen Religionen und Weltanschauungen zu einer quasi-räumlichen Trennung von Diesseitig-Weltlichem und Jenseitig-Göttlichem kommt, was grundsätzlich den Raum für andere, säkulare Rechtfertigungsformen menschlichen Zusammenlebens ermöglicht. Hier werden Vorstellungen entwickelt, die zu zwischenmenschlichen, vertraglich abgesicherten Regeln führen, die revidierbar sind und nicht mehr der unmittelbaren göttlichen Legitimität bedürfen.

Diese Lesart der Geschichte der Menschenrechte, die im Detail umstritten sein mag, scheint mir in einer Hinsicht sehr hilfreich zu sein: Sie fordert nämlich dazu auf, Anknüpfungspunkte von Universalismen in der je eigenen Kultur zu suchen, denn die Wahrnehmung dieser Gegenseitigkeitsperspektiven sind eine erste, notwendige Bedingung für ein friedliches Zusammenleben. Beispielsweise eignet sich die afrikanische Ubuntu-Moral der Subsahara-Zone als ein den Menschenrechten affiner Universalismus, die Gegenseitigkeitsperspektive und damit die Freiheits- und Gerechtigkeitsperspektive einzunehmen. Ubuntu meint: «Meine Menschlichkeit ist verfangen in und unzertrennbar verbunden mit deiner Menschlichkeit» (Übersetzung von D. Tutu). Gewiss ist dies nur der Kern der Moralität und nicht schon die Moral selbst, doch dieser universalistische Standpunkt beinhaltet gleichzeitig den Imperativ zur kontextuellen Konkretisierung.

Aneignung der Menschenrechte im Kontext

Wir müssen die Menschenrechte gleichsam in einer Gratwanderung universalistisch und zugleich kontextuell verstehen, denn dadurch erscheinen die Menschenrechte nicht als ein Oktroi supranationaler Mächte wie der UN, sondern als Verpflichtung, die in eigener, souveräner diskursiver Auseinandersetzung angeeignet wird. Damit mögen das Recht auf die Festlegung der Rechte von Betroffenen bzw. dazu Legitimierten in Widerstreit zur universalistischen Perspektive geraten, die aufgrund ihrer inneren Logik im Extremfall ein bestimmtes individuelles wie kollektives Handeln kategorisch ausschliesst, wie z. B. die Verächtlichmachung und Herabwürdigung der Person, die grundlose Verletzung der personalen Integrität. Damit wird selbstverständlich das Tor in ein grosses und brisantes Diskussionsfeld aufgestossen, dessen Diskurse kontrovers geführt werden. Wir kommen aber nicht umhin, diesen Weg zu gehen, vor allem wenn man die globale Situation mit dem selbstbewussten Erstarken regionaler Kulturen betrachtet. Dabei genügt es nicht, nur auf dem Prinzip zu insistieren, dass Menschenrechte kontextuell ausgelegt werden müssen und dass auf die soziokulturelle und mentale Lage Rücksicht genommen werden müsse. Diesem Prozess voraus geht die Freilegung der lokal eingebetteten und der oftmals aus einer langen Tradition hervorgehenden Universalismen. Die Diapraxis der Friedensarbeit beispielsweise hat dies schon lange erkannt, indem lokale Strategien zur Konfliktbewältigung aufgenommen und revitalisiert werden, da sie in conreto meist eine hohe Plausibilität beanspruchen können.

 

1 Dieter Senghaas, eine der ersten prägenden Figuren der Friedensforschung, hat das berühmte Dictum von Marcus Tullius Cicero «Si vis pacem, para bellum» (Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg) in diese im Beitragstitel zitierte Devise umgewandelt. Vgl. ders. (Hg.): Den Frieden denken – Si vis pacem, para pacem, Berlin 1995.

2 Vgl. Adrian Holderegger: Sind Gesellschaften friedensfähig? in: Mariano Delgado, Adrian Holderegger, Guido Vergauwen (Hg.): Friedensfähigkeit und Friedensvisionen in Religionen und Kulturen, Stuttgart 2012, 107–118.

3 Vgl. Daniel Philpott: Just and Unjust Peace. An Ethic of Political Reconciliation, Oxford 2012.

4 Vgl. Hans Joas: Sind die Menschenrechte westlich? München 2015.

5 Karen Armstrong: Die Achsenzeit. Vom Ursprung der Religionen, München 2006.