Welche Rolle hat die Religion in der Lehrerbildung des 19. Jahrhunderts gespielt?

Guido Estermann: Einfluss von Religion auf die staatliche Lehrerbildung der beiden Kantone Bern und Luzern am Beispiel der beiden Seminarien Bern-Hofwyl und Hitzkirch zwischen 1832 und 1946. Luzern 2014, 302 Seiten (Online-Veröffentlichung unter www.zhbluzern.ch).

Die bildungsgeschichtliche Dissertation von Guido Estermann, Dozent an der Pädagogischen Hochschule Schwyz und Leiter Fachstelle Bildung-Katechese- Medien BKM Baar, befasst sich mit dem Stellenwert der Religion in der staatlichen Lehrerbildung der Kantone Bern und Luzern im Zeitraum der Aufklärung bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Beispielhaft kommen die Lehrerseminare Hitzkirch und Bern-Hofwyl zur Darstellung, also zwei konfessionell pointiert verschiedene Lehrerbildungsanstalten, sowie deren entsprechenden katholischen und evangelischen Kontexte. Eigentlich ist es eine vergleichende religionspädagogische Arbeit auf den historischen Quellen seminaristischer Bildung.

«Katholische Pädagogik»

Die Kapitel 1 bis 4 (Teil A: S. 26– 170) befassen sich mit der «katholischen Pädagogik», wie sie auf der Basis eines offenbarungstheologischen dogmatischen Ansatzes von den katholischen Lehrerbildnern vertreten wurde. Im Anschluss an Abt Johann Ignaz von Felbiger (1747–1810) waren in Hitzkirch bekannte Exponenten wie Franz Xaver Kunz (1847–1910; Seminardirektor 1880–1907) oder Seminardirektor Lorenz Rogger (1878–1954) federführend. Kennzeichen dieser «katholischen Pädagogik» waren der Katechismus-Hintergrund mit dem christlich-augustinisch geprägten Menschenbild und gewissen katholischen Grundsätzen mit bestimmten ethisch-religiösen Positionen. Ein weitgehend wörtliches Bibelverständnis und eine Gehorsamserziehung gehörten ebenso dazu wie die katholischen Vereine und die «erziehenden Faktoren» Gebet, Sakramente und religiöse Praxis. Das ergab einen katechetisch geprägten Schulunterricht und Lehrerbildung insgesamt, wie sie im katholischen Milieu bis in die 1960er-Jahre üblich waren. Damit hatte eine kirchlich ausgerichtete Religion eine ansehnliche Bedeutung für die katholische Lehrerschaft, und sie wirkte sich deutlich aus in der Bildung der katholischen Subgesellschaft. Nach dem Verfasser erbrachte diese religiöse Dimension der Bildung gesellschaftlich einen «Mehrwert» und spielte persönlich für das Zusammenleben eine «durchaus integrierende Rolle» (S. 171).

Pietistisches Verständnis

Ein anderes Profil hatte die Lehrerbildung im Lehrerseminar Bern- Hofwyl, dargestellt in den Kapiteln 5 bis 10, Teil B (S. 172–271). Es war bestimmt vom sendungsbewussten Philipp Emanuel Fellenberg (1771–1841), vom weit über die Schweiz hinaus bekannten Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius, 1797–1854), von Heinrich Morf (1818–1899), Hans Rudolf Rüegg (1824–1893) und Friedrich Eymann (1887–1954). Sie alle kennzeichnete ein positivistisches Menschenbild und die aufklärerische Überzeugung (Kant) von der Bildbarkeit des Menschen. Oft dominierte ein pietistisches Selbstverständnis einer gottgewollten Entwicklung. Bis heute sind die «Armenschulen» aus Gotthelfs Zeiten bekannt und geradezu ein feststehender Begriff. Die Volksschule hatte die mit Armut verbundenen Missstände zu beheben, die christliche Ethik sollte in den Dienst des Gemeinwohls gestellt werden und so am Reiche Gottes mitwirken. Das heute auf Pestalozzi zurückgeführte didaktische Prinzip eines Lernens mit Kopf, Herz und Hand spielte wohl eine untergeordnete Bedeutung im Vergleich zu den dominierenden staatspolitischen Diskursen. Bedeutend waren für Gotthelf und die Lehrer der Aufklärungszeit die «Jenseitsperspektive mit der unsterblichen Seele» (205) und eine Wissensvermittlung durch die «Bildung des menschlichen Herzens» (ebd.). Die Lehrerbildung war in den Anfängen mit ihren sogenannten «Musterschulen» – heute in etwa «Praktikumsschulen». Dies waren Übungsfelder für die Studierenden. Die damalige Lehrerschaft war nicht nur moralisches Vorbild der Schülerinnen und Schüler, sondern auch Träger neuer Staatsideen, die von den Regierungen streng kontrolliert wurden. Zahlreich waren unüberbrückbare Konflikte, Absetzungen von Lehrern und Schuldirektoren, «Krisen» in Schulen wegen (aus heutiger Sicht) Lappalien wie fehlender Turnhallen. Im Reli-gionsunterricht wurden früher als im katholischen Bereich Erkenntnisse der historisch-kritischen Methoden aufgenommen. Bereits 1876 plädierte der spätere Direktor des bernischen Lehrerseminars (1880–1905), Pfarrer Emanuel Martig (1839–1906), für den «konfessionslosen Religionsunterricht» (253). Der zuletzt dargestellte Seminarlehrer Friedrich Eymann vertrat gar ein anthroposophisch inspiriertes Weltbild im Geiste Rudolf Steiners (1861–1925).

Vergleich

Teil C (S. 272–278) vergleicht nun in Kapitel 11 die beiden Lehrerbildungen in den Kantonen Bern und Luzern und kommt zu folgenden Ergebnissen: In beiden Kantonen stand die Lehrerbildung im Zeichen der zunehmenden Professionalisierung und des vermehrten Einbezugs der sich erst entwickelnden Wissenschaften Psychologie und Pädagogik. «Der Unterschied lag im erkenntnistheo-retischen Zugang zur Wirklichkeit und zur Gotteserkenntnis» (273). Die «informierte» Berner Lehrerbildung stand mehr im Zeichen der philosophischen Aufklärung, im Zeichen einer christlichen Staatserziehung und beförderte eine liberale unabhängige Lehrerbildung (274), während katholischerseits das augustinische Menschenbild und die natürliche Gotteserkenntnis, definiert auf dem Ersten Vatikanischen Konzil, der kirchlich orientierte Religionsunterricht und die religiöse Praxis entscheidend waren. Konflikte gab es mehr innerhalb der konfessionellen Paradigmen als zwischen den kantonalen Lehrerbildungen Bern und Luzern. So gab es reformierterseits Differenzen zwischen orthodoxem und liberalem Bibelverständnis, während katholischerseits erst die Bibelenzyklika von 1943 den Zugang zur historisch-kritischen Bibelhermeneutik eröffnete. Estermanns Abschlussgedanke: «Heute spielt die Frage nach Religion in der Lehrerbildung kaum mehr eine Rolle» (278) würde ich gerne ergänzen, insofern die viel sichtbarere Religiosität der Muslime ein neues Bewusstsein schafft und viele neue (und alte) Fragen aufwirft. Reli-gion hat eine zentrale Rolle gespielt und spielt weiterhin eine nicht zu unterschätzende Rolle. – Insgesamt bringt die auf vielen Quellen erarbeitete historische und religionspädagogische Arbeit einen lebendigen Einblick in die religiöse Dimension der Lehrerbildung des 19. und 20. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Schweiz. Vielen Dank!

 

Stephan Leimgruber

Stephan Leimgruber

Dr. Stephan Leimgruber ist seit Februar 2014 Spiritual am Seminar St. Beat in Luzern und zuständig für die Theologinnen und Theologen in der Berufseinführung. Bis zu seiner Tätigkeit in Luzern war er Professor für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät in München.