Das Konzilsblog-Ende und der Beginn einer neuen Rezeptionsphase
«Wenn wir heute durch die Heilige Pforte gehen – hier in Rom und in allen Diözesen der Welt –, wollen wir auch an eine andere Pforte denken: an die Tür, welche die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils vor fünfzig Jahren zur Welt hin aufgestossen haben. Dieses Jahresgedenken darf aber nicht nur wegen des Reichtums der erstellten Dokumente erwähnt werden, die bis in unsere Tage erlauben, den grossen Fortschritt festzustellen, der im Glauben gemacht wurde. An erster Stelle war das Konzil eine Begegnung. Eine wirkliche Begegnung zwischen der Kirche und den Menschen unserer Zeit. Eine von der Kraft des Geistes gekennzeichnete Begegnung, der seine Kirche drängte, aus der Dürre, die sie viele Jahre lang in sich selbst verschlossen gehalten hatte, herauszukommen, um mit Begeisterung den missionarischen Weg wieder aufzunehmen. Es war ein neuer Aufbruch, um auf jeden Menschen dort zuzugehen, wo er lebt: in seiner Stadt, in seinem Haus, am Arbeitsplatz … wo auch immer er sich befindet, da muss die Kirche ihn erreichen, um ihm die Freude des Evangeliums zu bringen und ihm das Erbarmen und die Vergebung Gottes zu bringen. Ein missionarischer Impuls, also, den wir nach diesen Jahrzehnten mit derselben Kraft und derselben Begeisterung wieder aufnehmen. Das Jubiläum fordert uns zu dieser Öffnung heraus und verpflichtet uns – entsprechend der Mahnung des seligen Pauls VI. beim Konzilsabschluss –, die aus dem Vaticanum II hervorgegangene Mentalität des barmherzigen Samariters nicht zu vernachlässigen. Möge also das Durchschreiten der Heiligen Pforte heute für uns mit dem Anspruch verbunden sein, uns die Haltung des barmherzigen Samariters zu Eigen zu machen.»1
Deutlicher als es Papst Franziskus mit diesen Worten anlässlich der Eröffnung des Heiligen Jahres am 8. Dezember 2015 tat, kann man die bleibende Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht zum Ausdruck bringen. Mit der Ausrufung des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit, das christliches Leben und Denken gleichermassen anspricht und beide auf eine höchst anregende Weise in Beziehung bringt, kommt der Papst einer gewissen Erschöpfung in Sachen Konzilserinnerung vor. Denn die zahllosen Initiativen und Veröffentlichungen, die zwischen 2012 und 2015 dem fünfzigjährigen Bestehen des Zweiten Vatikanischen Konzils galten und eine insgesamt erfreuliche Wiederbesinnung auf das Konzil mit sich brachten, werden naturgemäss nach Abschluss des Jubiläums geringer.
Zum 31. Dezember 2015 endete auch der «Konzilsblog» (www.konzilsblog.ch), der weit über die Schweiz hinaus auf Aufmerksamkeit stiess. So stellt sich hier exemplarisch die Frage, die mit Blick auf das Zweite Vatikanische Konzil für Theologie und Kirche insgesamt gilt: Und jetzt? Denn Konzils-erinnerung war und ist ja nie Selbstzweck. Mit dem Heiligen Jahr bündelt Papst Franziskus im Motiv der Barmherzigkeit nun in zugleich geistlicher wie theologischer, gesamtkirchlicher wie je persönlicher Weise die notwendige Inspiration durch das Konzil einerseits, mit der je konkreten Aufmerksamkeit für die Fragen der Gegenwart und Zukunft andererseits. Ein Rückblick auf Idee und Durchführung des Konzilsblogs sowie eine Reflexion der dabei leitenden Überlegungen und gewonnenen Einsichten mögen dabei helfen, exemplarisch einige praktische wie grundsätzliche Aspekte einer kirchlichen Erinnerungskultur zu identifizieren und theologisch zu analysieren.
1. Die Projektidee
Zunächst sei an die Projektidee erinnert. Diese ging von einer spezifisch konzilshermeneutischen Fragestellung aus: «Die neuere Forschung zum II. Vatikanischen Konzil betont, dass das Konzil als Ereignis zu lesen ist, wenn man seiner Dynamik auf die Spur kommen möchte. Dem Ereignis Konzil und den Entwicklungen und Umbrüchen, die damit verbunden sind, würde man nicht gerecht, würde das Konzil nur an den Konzilsdokumenten entlang erinnert werden. Ohne Kenntnis der Entwicklungen könnte man die Texte nicht verstehen. Das, was auf Konzilien immer wieder als pfingstliches Ereignis erfahren wurde, liesse sich nicht nachvollziehen. Eine Annäherung an das Konzil verlangt also, sich die beteiligten Personen, Konzilsväter, Berater usw. vor Augen zu führen, geradezu symbolische Ereignisse in den Blick zu nehmen, die einflussreichen Schauplätze am Rande des Konzils aufzusuchen, Begegnungen nachzuvollziehen usw.»2 Während dies durchaus als Mainstream gegenwärtiger Konzilsforschung gelten kann, hat es den Konzilsblog ausgezeichnet, Forschungsergebnisse bewusst über den wissenschaftlichen und kirchlichen Binnendiskurs hinaus kommunizieren zu wollen, um so «während des Konzilsjubiläums 2012–2015 eine niederschwellige detailreiche Erinnerung an die Ereignisse des Konzils [zu] ermöglichen».3 Ein methodisches Vorgehen lag durch diese Kombination von Konzilshermeneutik mit ihrem langen Atem einerseits und dem Publikationsort Internet mit seiner Ausrichtung an der Tagesaktualität andererseits geradezu auf der Hand: «Viele der Einträge werden in einer ‹Tagebuchoptik› zurückschauen: ‹Was geschah heute vor 50 Jahren?›. In den Blick kommt dann möglicherweise die Rede eines Bischofs in der Konzilsaula. Gelegentlich wird der Blog die Leser und Leserinnen an Kommissionssitzungen teilhaben lassen, an Treffen der Bischöfe verschiedener Sprachgruppen während oder zwischen den Konzilssessionen. Oder das Auge fällt auf einen Eintrag in einem der zahlreichen Konzilstagebücher oder auf Briefe von Beteiligten.»4 Da das Konzil aber eben vieldimensional war, konnte es nicht allein bei dieser Perspektive bleiben: «Weitere Blogs nehmen eine ‹Themenoptik› ein. Vor dem Oktober 2012 werden zusammenfassend vorbereitende Entwicklungen beschrieben. Manche Blogs machen mit Frauen bekannt, die als Beobachterinnen oder im Umfeld des Konzils eine Rolle spielten. Nicht zuletzt wird es in einer ‹Rezeptionsoptik› Ausblicke auf die Konzilsrezeption in der Schweiz und in anderen Ländern geben.»5 Zwar galt der Schweizer Perspektive ein besonderes Augenmerk: «Jedoch werden darüber hinaus auch andere Länder und Sprachgruppen Interesse auf sich ziehen.»6 Hier kamen dann insbesondere die «jungen» Kirchen Lateinamerikas und Asiens zu Ehren. Selbstredend konnte ein solches Projekt nicht beanspruchen, «neue Forschungsergebnisse vorzulegen». Vielmehr wurden «aus der Archivarbeit und Forschung der vergangenen Jahrzehnte einige Mosaiksteine» aufgenommen «und einem breiteren Publikum einfach zugänglich» gemacht.7
2. Die Durchführung
Der Konzilsblog wurde von einer vierköpfigen Redaktion in Zusammenarbeit mit dem Katholischen Mediendienst Zürich getragen. Die Redaktion bestand zunächst aus Arnd Bünker, Leiter des Pastoralsoziologischen Instituts St. Gallen, Eva-Maria Faber, Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie der Theologischen Hochschule Chur, sowie Urban Fink-Wagner, Redaktionsleiter der «Schweizerischen Kirchenzeitung», später stiess noch Michael Quisinsky, Privatdozent für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü. hinzu. Als Mitarbeitende konnten zahlreiche Theologen und Theologinnen aus der Schweiz und dem Ausland gewonnen werden, darunter etwa die Professoren Giancarlo Collet (früher Münster), Hans-Joachim Sander (Salzburg), Christian Bauer (Innsbruck) und Hanjo Sauer (Linz).
Zwischen Juli 2012 und Ende Dezember 2015 hat der Konzilsblog 1278 Beiträge zur Geschichte, zur Theologie und zur Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils publiziert. Wegen einer technischen Umstellung lässt sich die Statistik nur bis Mitte Februar 2013 zurückverfolgen. In der Gesamtzählung ab Februar 2013 ist aber immerhin die stolze Zahl von 1 220 000 Besuchen registriert, eine Zahl, die schon als solche sehr erfreulich ist. Obwohl keine neuen Beiträge mehr aufgeschaltet werden, wird der Konzilsblog immer noch aufgesucht: Der letzte Beitrag, der seit 31. Dezember 2015 sozusagen die Startseite bildet, hat bis zum 22. Februar 2016 fast 10 000 Besucher gezählt.
Es bleibt freilich schwer zu eruieren, welches Mass an Nachhaltigkeit in der Volatilität des Internets erreicht werden kann. Auch wäre es eine eigene Frage, inwiefern die jeweilige «Kommentarkultur» aussagekräftig ist, die verschiedene Blogs auf je unterschiedliche Weise hervorbringen. In jedem Fall scheinen niedrigschwellige, dabei aber theologisch fundierte Angebote durchaus auf eine auch spirituell nachklingende Resonanz zu stossen, die ein bloss oberflächliches Surfen übersteigt. So bedankte sich am 1. Januar 2016 der frühere Einsiedler Abt Martin Werlen OSB über die Kommentarfunktion: «Danke für die grosse Arbeit! Ihr habt damit den Geist des II. Vatikanischen Konzils in vielen Menschen geweckt und lebendig erhalten. Es ist der Geist, der die Kirche auch heute lebendig macht.»
3. Der Konzilsblog und die Herausforderungen (christlicher) Erinnerungskultur(en) im Internet
Mit dem Konzilsblog wurde sowohl konzilshermeneutisch als auch publizistisch Neuland betreten. Dies betrifft zunächst die Form. Ein Blog ist naturgemäss eine eher niederschwellige Publikationsform. Er entspricht den Gesetzmässigkeiten der neuen Medien im Guten wie im Schlechten. Darüber könnte man lange diskutieren, Fakt aber ist, dass theologische Bildung und Weiterbildung heute auch unverkrampft und verantwortungsvoll im Zusammenspiel mit diesen Gesetzmässigkeiten erfolgen muss.8 Natürlich ist es im Stimmengewirr der Blogs und Tweets mit einer einschlägig bekannten Tendenz zur Einseitigkeit, Oberflächlichkeit und gegebenenfalls Radikalisierung gerade für Stimmen der Vernunft nicht einfach, Aufmerksamkeit zu erlangen. Die Erfahrung des Konzilsblogs zeigt aber doch, dass ein Thema, das einerseits «dran ist» und andererseits durch entsprechende Vernetzung (konkret: durch die Verlinkung auf www.kath.ch) platziert wird, Gehör findet. Dies gilt umso mehr, wenn ein gewisser langer Atem auch über im volatilen Netz unvermeidliche Durststrecken hinweg für Verlässlichkeit sorgt.9
Gerade ein tägliches und mitunter tagesaktuelles Erinnern zeigt, wie die Erinnerung an das II. Vaticanum von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst wird. Jenseits allgemeiner Fragen (und Klagen), ob und inwiefern ein entsprechend geschultes historisches Bewusstsein zu einer sinnvollen Auseinandersetzung mit Fragen der Gegenwart und Zukunft beitragen kann, ist hier eine an Jahrestagen sich ausrichtende Erinnerungskultur zu beobachten. Das ist einerseits durchaus positiv zu sehen, zeigt sich so doch im Dickicht der Informationsflut ein Gespür dafür, dass die Gegenwart nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Andererseits bringt dies die Gefahr mit sich, dass historische Ereignisse und Entwicklungen für eine schlechtestenfalls kommerzialisierte und gesellschaftlich, politisch und analog auch kirchlich folgenlose Erinnerungsunkultur verzweckt werden. Hier zeigt die Erfahrung des Konzilsblogs, dass es in der Tat nicht genügt, Jahrestage zu erinnern, und dass nicht selten auch umgekehrt aktuelle Ereignisse (etwa die von Papst Franziskus einberufene Synode) dazu herausfordern, Vergangenes auf Aspekte hin zu befragen. Diese sind gerade auch dann lehrreich, wenn man weiss, dass sich Geschichte bei allen durchaus möglichen Parallelen nicht einfach wiederholt, sondern immer in der Verantwortung derer ist, die sie gestalten.
Spezifisch theologisch ist die Frage nach der Bedeutung, die der Erinnerung an das Konzil insgesamt und der je konkreten Kurzdarstellung einzelner Aspekte des Konzils zukommt. Der Umgang mit Erin-nerung ist ebenso wie die Darstellung komplexer Sachverhalte nie anders als konkret möglich. Beides ist abhängig von Kenntnissen und Fragen derer, die sich erinnern oder an etwas erinnern bzw. die aus der Fülle von Informationen diesen oder jenen Aspekt darstellen und bewerten. Insofern für die Erstellung eines Blogbeitrags im Rahmen des Konzilsblogs in der Regel auf vorhandene Literatur zurückgegriffen wird, kommt es zu einer Verschränkung zwischen je persönlicher Perspektive und jener Perspektive, die in Gestalt des Forschungsstandes vorliegt. Konkret fällt auf, dass der Konzilsblog, wie übrigens auch andere Projekte zum II. Vatikanum bis hin zu dem von Peter Hünermann und Bernd Jochen Hilberath herausgegebenen Herderschen theologischen Kommentar zum Konzil,10 sich in hohem Masse auf die unter der Leitung von Giuseppe Alberigo erarbeitete Geschichte des II. Vatikanums11 und Quellen wie das Konzilstagebuch von Yves Congar12 beruft. Hinsichtlich der Chronologie der Ereignisse stellt dies kein Problem dar. Wo hingegen – aus welchen Gründen auch immer – Kritik an den Ergebnissen dieser Art von Grundlagenforschung geäussert wird, meldet sich hier die hermeneutische Frage. Was wissen wir eigentlich jenseits der Endtexte vom Konzil? Und vor allem: Warum ist dieser oder jene Sachverhalt bekannt, andere, möglicherweise ebenso interessante und aufschlussreiche Details hingegen nicht? In der Tat schlummern zu viele Erkenntnisse noch in mittlerweile durchaus zugänglichen Archiven oder Veröffentlichungen, die im deutschsprachigen Raum noch nicht rezipiert sind.13 Von der historischen Forschung her, die im Rahmen eines täglichen Blogs, der auf ihren Ergebnissen aufbaut, nicht selbst betrieben werden kann, wird damit einerseits deutlich, dass eine jede Konzilsinterpretation ihrer Perspektivität und Unabgeschlossenheit eingedenk sein muss.
Es liegt in der Natur der Sache eines Blogs, dass Wahl und Art der Behandlung von Themen der Beiträge von grundsätzlichen Konstellationen, konkreten Anlässen und persönlichen Akzentsetzungen geprägt sind. Es wäre reizvoll, die Blogeinträge nach direkten und indirekten Anspielungen auf die jeweils gegenwärtige Grosswetterlage oder auf konkrete Anlässe durchzuforsten. Zwar besteht bei derlei Unterfangen immer auch (in beide Richtungen) die Gefahr eines Hineinlesens, bei dem der Wunsch Vater des Gedankens ist. Man kann diese Mehrfachperspektivität als Nachteil betrachten, den der Konzilsblog dann freilich mit den allermeisten Formen menschlicher Kommunikation teilt. Allerdings zeigt sich hier eher umgekehrt der Vorteil einer – in diesem Fall vom Internet ermöglichten – besonders hilfreichen Dimension einer kirchlichen Erinnerungskultur, die man weder zu überhohen noch geringzuachten braucht: in einem transversal-unabgeschlossenen, im Sinne des jüngst verstorbenen Umberto Eco «semiotisch»-offenen Zugang, vermögen perspektivische Erinnerungskulturen stets neue Erkenntnisse offenzulegen und anzuregen. Einen solchen Erkenntnisgewinn, der aus einer «offenen» und «transversalen» Lektüre von Geschichte und Gegenwart mit ihren Parallelen und Unterschieden, Assoziationsketten und blinden Flecken erfolgt, gilt es eigens zu erwähnen: Es ist dies die ökumenische Perspektivenverschränkung. So kam im Konzilsblog etwa immer wieder Lukas Vischer zu Wort, der 2008 verstorbene, ursprünglich aus Basel stammende und (auch dank des Konzils) zunehmend weltweit vernetzte «nichtkatholische Beobachter» des in Genf ansässigen ÖRK.
4. Der Konzilsblog und die Konzilshermeneutik
Während die Resonanz auf den Konzilsblog in den Monaten nach seinem Start beständig zunahm, setzte sich dieser Aufschwung mit dem Wechsel des Pontifikats nicht fort. Vielmehr war eine sich konsolidierende Kerngruppe von Leserinnen und Lesern des Blogs festzustellen. Diese Entwicklung hängt möglicherweise mit einem biografischen Bezug der Päpste Benedikt XVI. und Franziskus zum Konzil zusammen. Während Joseph Ratzinger zu den einflussreichen Konzilsakteuren gehörte, steht Jorge Mario Bergoglio für die grosse Zahl der Angehörigen einer jüngeren Generation, für die das Konzil zwar ein in höchstem Masse prägendes geistliches Geschehen war, an dessen Verlauf sie aber selbst keinen Anteil hatten. In jedem Fall zeigte sich schnell, dass sich Fragen der Konzilshermeneutik im neuen Pontifikat verlagerten. Papst Benedikt XVI. hatte diesbezüglich nicht zuletzt mit seiner Weihnachtsansprache an die Kurie im Jahre 2005 die Diskussion bestimmt, in der er eine Konzilshermeneutik des Bruchs ausmachte und demgegenüber einer Konzilshermeneutik der Reform den Vorzug gab.14 Papst Franziskus seinerseits hat in der für ihn zentralen Dogma und Pastoral verbindenden Weise das Konzil mit dem Thema der Barmherzigkeit verknüpft, worauf noch einmal zurückzukommen sein wird.15 Insgesamt scheint sich die kirchliche Grosswetterlage mit dem Amtsantritt von Papst Franziskus dahingehend verändert zu haben, dass nunmehr weniger dem II. Vatikanum selbst in seiner historischen Dimension Aufmerksamkeit gezollt wird als vielmehr seiner möglichen Bedeutung für künftige Wege der Kirche. Allerdings wäre es fatal, würde die immer neu inspirierende Lektüre der Konzilstexte unter Ausblendung der Rezeptionsgeschichte erfolgen. Deshalb ist für den Blick nach vorn eine Vergewisserung über Phasen der Konzilsrezeption – und damit verbunden der Konzilshermeneutik – notwendig.16 Soll also eine Konzilserinnerung jedweder Art nicht im luftleeren Raum erfolgen, gilt es aufgrund der Zielsetzung des Konzils selbst, nicht nur die Fachtheologie im engeren Sinne zu berücksichtigen, sondern auch kirchliche und gesellschaftliche Wegmarken, die den Rahmen der lokal und regional oft recht verschieden verlaufenen Rezeptionsereignisse und -prozesse bilden. Im deutschsprachigen Raum sind hier zuvorderst die Synode 72 in der Schweiz17 sowie die Würzburger Synode18 zu nennen, aber auch die zahlreichen Diözesanforen usw. der 1990er-Jahre.19 Universalkirchlich stellen neben den Amtszeiten der Päpste – Paul VI., Johannes Paul I., Johannes Paul II., Benedikt XVI., Franziskus – einzelne Ereignisse und Entwicklungen wie die Ausserordentliche Bischofssynode von 1985 unter Johannes Paul II.20 zentrale Wegmarken dar, ebenso wie die zahlreichen Diskussionen im Anschluss an den Versuch Benedikts XVI., mit der Bewegung um Erzbischof Marcel Lefebvre zu einer für alle Seiten tragfähigen Verständigung zu kommen.21
Gerade vor diesem umfassenden Horizont von Entwicklungslinien und Potenzialen stellen die Akzente der beiden Päpste, während deren Pontifikat der Konzilsblog aktiv war, keinen Gegensatz dar. In diesem Sinn lohnt sich übrigens der Hinweis auf die «Hermeneutik der Evangelisierung»,22 die der Freiburger Kirchenhistoriker Mariano Delgado und der Frankfurter Jesuit Michael Sievernich gleichsam an der Schnittstelle der beiden Pontifikate ins Spiel gebracht haben.
War der Konzilsblog naturgemäss kein Ort fundamentaler konzilshermeneutischer Reflexion, so spiegelte er diese doch wider, allerdings, wenn man so will, kaleidoskopartig. Die zugrundeliegenden hermeneutischen Annahmen konkretisierten sich durch das tagesaktuell akzentuierte blitzlichtartige Aufweisen von weiterführenden Einzelstimmen, inspirierenden konkreten Ereignissen und aufschlussreichen Querverbindungen im Vorder- wie im Hintergrund, die für das gemeinsame Nachdenken aller Christinnen und Christen mit Blick auf die Zukunft hilfreich sein können. Deutlich wurde dies besonders auch in den Blogbeiträgen, die Bezug auf die Synoden von 2014 und 2015 nahmen. So stellte sich der Konzilsblog nicht in den Dienst einer bestimmten Konzilshermeneutik, sondern erinnerte die Konzilshermeneutiken verschiedener Couleur an eine wegweisende Einsicht, die Papst Franziskus im Zusammenhang mit dem während der Synode 2015 gefeierten 50. Jahrestag der Errichtung der Bischofssynoden formulierte: «Vom Zweiten Vatikanischen Konzil bis zur gegenwärtigen Versammlung haben wir allmählich immer deutlicher die Notwendigkeit und die Schönheit des ‹gemeinsamen Vorangehens› erfahren.»23 Der Papst weiss freilich auch: «Gemeinsam voranzugehen – Laien, Hirten und der Bischof von Rom –, ist ein Konzept, das sich leicht in Worte fassen lässt, aber nicht so leicht umzusetzen ist.»24
Wer die Konzilsblogeinträge Revue passieren lässt, sieht dies vollauf bestätigt und weiss doch umso mehr die Einheit in Vielfalt zu schätzen, die das Konzil ausgezeichnet hat. Betrachtet man mit Johannes XXIII. das II. Vatikanum als «neues Pfingsten», so zeigte der Konzilsblog täglich neu: Es handelte sich – wie könnte es in der Geschichte anders sein – um ein «Pfingsten im Fragment». Gerade so aber kann das Menschliche prophetisch auf Gott hin verweisen.
5. Der Konzilsblog im Spiegel des Konzilsjubiläums
Einem vielzitierten Wort von Karl Rahner wurde die katholische Kirche mit dem II. Vatikanum tatsächlich zur «Weltkirche».25 Weltweit wurde denn auch in zahllosen Veranstaltungen und Veröffentlichungen des Konzils gedacht, wodurch dessen Texte, Themen und Intentionen bedacht und oft neu entdeckt wurden. In diesem Sinn kann denn auch – neben den zahlreichen oft den deutschen Sprachraum akzentuierenden Gedenkveranstaltungen an deutschsprachigen Fakultäten und Akademien, gleichsam gipfelnd in der Münchener Tagung «Das Konzil ‹eröffnen›»26 – als ein herausragendes Ereignis des Konzilsjubiläums ein in Zusammenarbeit mit der «Fédération Internationale des Universités Catholiques» (FIUC) erfolgter weltweiter Reflexionsprozess genannt werden, der in eine in dieser Gestalt bislang einzigartige theologische Diskussion und deren Dokumentation führte. Der zunächst in den drei Sprachen (Französisch, Englisch, Spanisch) der FIUC erschienene, auf einer grossen Tagung in Paris im April 2015 verabschiedete Endtext dürfte für die kommende im Wortsinn «katholische» Auseinandersetzung mit Fragen der Konzilsrezeption von grösster Bedeutung sein.27 Dass übrigens sowohl die Münchner als auch die Pariser Tagung in hohem Masse dialogisch angelegt waren,
spricht mit Blick auf das Erbe des II. Vatikanums für Theologie und Kirche für sich.
Einer der letzten Blogbeiträge des Konzilsblogs stellte eine Bilanz der schweizerischen Aktivitäten zum Konzilsjubiläum dar: «Die Schweizer Bischofskonferenz setzte für das 50-Jahr-Jubiläum des Zweiten Vatikanischen Konzils eine Kommission ein, welche im Wesentlichen Flyer erarbeitete und die Jubiläumsveranstaltung der Schweizer Bischofskonferenz vom 11. Oktober 2012 in Bern vorbereitete und durchführte. In der Eucharistiefeier fand an diesem Jubiläumstag das Wort ‹Konzil› keinen Eingang in die Predigt. Am Nachmittag wurde im Rahmen einer Podiumsdiskussion unter der Moderation von Mariano Delgado durch Mgr. Dr. Peter Henrici SJ, Mgr. Amédée Grab, Mgr. DDr. Charles Morerod OP, Xenia Schmidlin, Don Italo Molinaro und Sr. Marie-Brigitte Seeholzer diese Lücke behoben, die Vorträge und das Gespräch waren höchst interessant. Die Anstösse der Schweizer Bischofskonferenz schliefen jedoch gegen Ende 2013 ein, denn die Homepage www.vaticanum2.ch wurde seither nicht mehr aktualisiert.»28 Allerdings – so im gleichen Konzilsblogeintrag – riefen die Schweizer Bischöfe in ihrem gemeinsamen Fastenhirtenbrief des Jahres 2014 das Konzil in Erinnerung. Nach dem Verweis auf einige (wenige) Arbeitshilfen und Fortbildungsveranstaltungen kommt Urban Fink-Wagner zum Schluss: «Das grösste Konzilsprojekt in der Schweiz war und ist der vorliegende Konzilsblog (…). Mit dem 31. Dezember 2015 findet dieses Grossprojekt seinen erfolgreichen Abschluss, die Texte werden über diesen Zeitpunkt hinaus unter www.konzilsblog.ch zugänglich sein.»29
6. Und jetzt – vor einer neuen Phase der Konzilshermeneutik?
Am 25. September 2012 zitierte der Konzilsblog den einstigen Erzbischof von Mechelen-Brüssel, Léon- Joseph Kardinal Suenens, demzufolge in der Vorbereitungszeit «der erneuernde Wind von Pfingsten nicht gerade in Böen wehte». Der Kardinal tröstete sich mit einer Ermutigung durch Johannes XXIII, der gesagt habe: «In Sachen Konzil sind wir alle Novizen.»30 Der letzte Blogeintrag greift diesen Gedanken auf, wenn wiederum Suenens zitiert wird, der beim Konzilsende 1965 sagte: «Unser Noviziat geht zu Ende. Wir sind bereit für das III. Vatikanum.»31 Damit stellt auch der Konzilsblog die Frage, wie es nach Abschluss des Konzilsjubiläums weitergeht. Die Frage, ob es eines III. Vatikanums bedarf, wurde auch bei der Münchener Tagung «Das Konzil ‹eröffnen›» diskutiert. Der Mainzer Bischof, Karl Kardinal Lehmann, zeigte sich dabei «abermals skeptisch, ob ein solches Vorhaben sinnvoll sei, gebe es doch noch genügend bei der Umsetzung des Zweiten Vatikanums zu tun».32 Papst Franziskus seinerseits hält in diesem Zusammenhang fest, dass das Konzil, «das eine Aktualisierung, eine Relecture des Evangeliums aus der Perspektive der gegenwärtigen Kultur war», eine «irreversible, vom Evangelium ausgehende Erneuerungsbewegung hervorgebracht» habe. Er fährt fort: «Und jetzt muss man vorangehen.»33 Dies geschieht dem Papst zufolge immer dann, wenn das Evangelium und die Nöte der Menschen zusammentreffen. Folgerichtig verknüpft Papst Franziskus denn auch die Konzilshermeneutik mit dem Thema der Barmherzigkeit, sodass man mit Blick auf das II. Vatikanum eine «Konzilshermeneutik der Barmherzigkeit» als einen dringenden Appell seines Pontifikats ausmachen kann. In diesem Sinne hiess es im Blogeintrag vom 19. Dezember 2015:
«1. Der Papst rückt die Verschränkung von Evangelium und Leben ins Zentrum der Konzilshermeneutik. Das Konzil und seine Hermeneutik stehen im Dienst dieser Evangelisierung, die letztlich ein Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch ist.
2. Der Papst schreibt das Konzil in die Geschichte der Kirche und diese in die Geschichte der Welt ein. Das Konzil und seine Hermeneutik stehen näherhin im Dienst der Mitverantwortung, die Christinnen und Christen für die immer auch zu gestaltende Geschichte der Menschheit haben.
3. Der Papst bindet mit Verweis auf das Konzilsverständnis des heiligen Johannes XXIII. und des seligen Paul VI. das Konzil und seine Hermeneutik an die zentrale Botschaft von der Barmherzigkeit. Das Konzil und seine Hermeneutik stehen in besonderer Weise im Dienst dieser frohen Botschaft.»34
Eine dergestalt verstandene «Konzilshermeneutik der Barmherzigkeit» kann durchaus als «Synthese der in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten erfolgten aufrichtigen Bemühungen um ein angemessenes Verständnis des Konzils und seiner Rezeption» verstanden werden.
«Ihre eigentliche Tiefendimension erhält eine solche ‹Konzilshermeneutik der Barmherzigkeit› aber dadurch, dass sie nicht etwa auf die wissenschaftliche Konzilshermeneutik beschränkt bleibt, sondern die gesamte Kirche in der Gestalt eines Heiligen Jahres in Anspruch nimmt. In der Tat ermöglicht es ein solches Heiliges Jahr, christliches Leben und Denken, Pastoral und Dogma, Volksfrömmigkeit und theologische Erkenntnis (vgl. Evangelii gaudium 122–126!) zusammenzubringen. Dies erfolgt näherhin dergestalt, dass durch deren wechselseitige Verschränkung jeweils beide Seiten – und in der Folge die gesamte Kirche für die Welt – in höchstem Masse bereichert werden können. Eine wechselseitige Verschränkung erfolgt ebenso, wenn Geist und Buchstabe des Konzils auf die je konkrete Barmherzigkeit hin ausgerichtet werden, die grundsätzliche Barmherzigkeit ihrerseits aber immer wieder auch konkret von Geist und Buchstabe des Konzils genährt wird.»35