Christentumsgeschichte in Italien

Dizionario del sapere storico-religioso del Novecento. II Vol. A cura di Alberto Melloni. (il Mulino) Bologna 2010, 1810 Seiten.

Das anzuzeigende Lexikon will Wissen zusammenführen, das in Italien institutionell an verschiedenden Orten produziert wird: Seit 1873 gibt es in der Apenninenrepublik keine theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten, aber es gibt ein Fach, das «Storia delle religioni» heisst und sich mehr als unsere hiesige Religionswissenschaft mit Christentumsgeschichte beschäftigt. Dann gibt es theologisches wie auch kanonistisches Wissen an kirchlichen Hochschulen und päpstlichen Universitäten. Zu guter Letzt existieren an juristischen Fakultäten staatlicher Universitäten Abteilungen für kanonisches Recht. Das in Bologna angesiedelte «Istituto per le scienze religiose Giovanni XXIII.», das durch Giuseppe Dossetti und Giuseppe Alberigo geprägt wurde und an dem Alberto Melloni wirkt, hat sich seit jeher nicht um Disziplingrenzen gekümmert. Nun hat es Melloni geschafft, das wissenschaftliche Wissen unserer Zeit über Religion in einem zweibändigen Lexikon zusammenzufassen, und dies erst noch mit einem internationalen Verfasserkreis. Der Artikel «Teologia politica» ist zum Beispiel vom in Luzern lehrenden Edmund Arens geschrieben, englische und französische Namen sind gut vertreten. Christentum wird nicht wie oft in Italien mit Katholizismus gleichgesetzt, Artikel zu verschiedenen protestantischen Bekenntnissen sind genauso vorhanden wie zu anderen Religionen und dem Lexikonnamen entsprechend zu historischen Themen. Zwar fehlen Einträge zur Altorientalistik, aber Qumran, Nag Hammadi und die biblische Archäologie sind mit je einem Eintrag gewürdigt. Der Schwerpunkt des Lexikons liegt also bei der jüdisch-christlichen Tradition, und innerhalb dieser wird der Textkritik besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Erfreulich ist auch das Gewicht, das der oft verkannten rechtlichen Dimension von Religion eingeräumt wird. So gibt es beispielsweise neben Artikeln zum jüdischen und islamischen Religionsrecht ein eigenes Lemma zum Recht der anglikanischen wie der orthodoxen Kirche, und zwei Artikel behandeln das römisch-katholische Kirchenrecht. Im ersten stellt Melloni die Entwicklung der Kirchenrechtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert dar, im zweiten gibt Carlo Fantappiè einen weltweiten Überblick über die Orte, wo Kirchenrecht gelehrt wird usw. Beide gehen von der Grundlagenkrise aus, in welcher die Kanonistik nach Rudolf Sohm geraten ist. Die Antwort der Münchner Schule, die Arbeiten der Schule der italienischen Laienkanonisten und der Schule von Navarra finden Platz. Fantappiè schliesst mit einen hochinteressanten Aufriss der zeitgenössischen kanonistischen Diskussion. Ausführliche Bibliographien vervollständigen alle Einträge. Also ein Handbuch für Themen und Disziplingeschichte. Ja, die Artikel bieten eigentliche konzise Einführungen ins jeweilige Fachgebiet. Das Lexikon ist ein Glücksfall.

 

Francesco Papagni

Francesco Papagni

Francesco Papagni ist freier Journalist. Er lebt in Zürich.