Weit über sich selbst hinaus

Die griechischen Antike kannte das Ideal der klugen Selbstsorge als Lebenskunst. Sie sollte zur Erkenntnis des Wesentlichen, zu Überblick und Orientierung verhelfen, zu planender Vorausschau und gelingender Lebensgestaltung. Auch wenn einige dieser Gedanken überlebt haben – die Geschichte der christlichen Spiritualität zeigt, dass lange die Selbstaufopferung gelobt und Seelsorge statt Selbstsorge durch dazu beauftragte Experten angeordnet wurde. In den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts rekonstruierte der französische Philosoph Michel Foucault die «Sorge um sich selbst» historisch und interpretierte sie als ein «Sich um sich Kümmern» – durchaus auch religionskritisch. Seine Gedanken wurden weiterentwickelt. Richtig verstandene Selbstsorge ist weder eine suspekte Form des Egoismus, noch Selbstkult und auch keine Selbstversessenheit: Sie ist vielmehr die Voraussetzung, um auf andere einzugehen und in der Welt zu wirken. Der Andere dient dabei als Freund, Helfer, philosophischer Begleiter – und das Ziel der Selbstsorge geht weit über sich selbst hinaus. Wie muss man sich das konkret vorstellen? Foucault empfiehlt – etwas angepasst – die Praxis der Antike als körperliche, geistige und emotionale Selbstfürsorge: leichtes Körpertraining, Meditation, Lektüre, das Niederschreiben der Gedanken dazu, die kritische Reflexion der eigenen Wahrheiten und das differenzierte Sprechen darüber. Vieles davon kennt auch die christliche Spiritualität – denken wir nur an das klösterliche Leben mit täglicher Lektüre und Gebet; denken wir an die Lehre der christlichen Tugenden, die – wie der 2. Petrusbrief schreibt – von der Erkenntnis über die Selbstbeherrschung und schliesslich zu Brüderlichkeit und Liebe wachsen. Die theologische Anthropologie macht die Selbstsorge heute zu einem zentralen Gedanken in der christlichen Theologie: Heute können wir von Gott nicht mehr sprechen, ohne den Menschen in den Blick zu nehmen. Ohne den Menschen macht die Rede von Gott keinen Sinn, das Nachdenken über Gott kann nur über das Nachdenken des Menschen über sich selbst geschehen. Dies ist auf eine kritische, achtsame und vor allem liebevolle Weise zu praktizieren.

Ann-Kathrin Gässlein


Ann-Katrin Gässlein

Ann-Katrin Gässlein (Jg. 1981) ist katholische Theologin und Religionswissenschaftlerin. Sie arbeitet an der Professur für Liturgiewissenschaft an der Universität Luzern sowie in der Cityseelsorge in St. Gallen.