Die Konfliktfähigkeit entwickeln

Wie gelingt es, in Konflikten von der Pingpongdynamik zu einer konstruktiven Lösung zu kommen? Ein Weg liegt in der inneren Arbeit. Barbara Schellhammer geht auf Spurensuche in der antiken Praxis der Selbstsorge.

Menschen, die in sozialen Berufen arbeiten oder sich ehrenamtlich für Menschen in schwierigen Lebenslagen engagieren, haben es oft mit emotional herausfordernden Situationen zu tun. Häufig sehnen sie sich danach, eine Art Rüstzeug oder Anleitungen parat zu haben, um befremdliche Momente gut bewältigen zu können. Ich habe in meiner eigenen Arbeit im Kontext interkultureller Konfliktarbeit in den letzten Jahren zunehmend gemerkt, dass es nicht reicht, die Andersartigkeit des Anderen oder die äusseren Umstände in den Griff bekommen zu wollen, wenn dabei das eigene Befremdetsein ausgeblendet wird.

Paradoxerweise braucht gerade die Sorge um den Anderen eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit sich selbst. Dies gilt ganz besonders dann, wenn wir mit Konflikten konfrontiert werden, die es schwer machen, gelassen und sachlich zu handeln, weil wir emotional getriggert werden und uns in innere Unstimmigkeiten verstricken. Es sind nämlich gerade diese inneren Misstöne, die uns auf eine Weise verhalten lassen, die wenig hilfreich ist, um Konflikte gut bewältigen zu können. Nur wenn wir es wagen, den Blick auf das zu richten, was sich in uns regt, anstatt dem Anderen die Schuld für das eigene Unbehagen zu geben, vermögen wir es, unabhängig und frei antworten zu können, anstatt in reaktiven Reiz-Reaktions-Mechanismen steckenzubleiben.

Dank Selbstsorge anderen gut begegnen

Dieser Gedanke ist alles andere als neu – auch wenn uns moderne Coaching-Praktiken, Selbstoptimierungsprogramme oder Self-Help-Bücher anderes vermitteln. Es waren vor allem die französischen Philosophen Michel Foucault (1926–1984) und Pierre Hadot (1922–2010), die auf die Bedeutung so genannter «geistiger Übungen» bereits in der Antike aufmerksam machten. Insbesondere wenn es um die Praktiken einer Sorge um sich selbst geht, wird häufig auf Foucault verwiesen, der sich in seinen letzten Lebensjahren intensiv mit der «Ästhetik der Existenz» befasst hat. Mit dem Begriff der «Lebenskunst» meint er die kontinuierliche Arbeit an sich selbst, um sich zu befähigen, mit der eigenen Macht so umzugehen, dass man andere nicht beschneidet und unterdrückt, sondern ermächtigt und befreit. Es ging ihm um eine Form der «Selbstbemeisterung» (franz. maîtrise de soi), die dazu verhilft, Herr oder Frau über die eigenen Regungen zu werden. Denn sonst bestünde die Gefahr, andere zu beherrschen und eine tyrannische Macht auf sie auszuüben, die nur daher käme, dass man sich nicht um sich selbst gekümmert habe und nun zum Sklaven seiner eigenen Begierden geworden sei. Die Selbstsorge, auf die Foucault mit Sokrates, den er einen «Meister der Selbstsorge» nennt, abzielt, hat insofern wenig mit Wellness oder dem egologischen Kreisen um sich selbst zu tun, sondern vor allem mit dem ethischen Anspruch, anderen gut begegnen zu können.1

Mit sich selbst zurechtkommen

«Anspruch» ist hier durchaus wörtlich zu verstehen – denn wir können dem Angesprochensein durch andere nicht ausweichen. Selbst wenn wir nichts sagen, uns zurückziehen oder ausweichen, zeigen wir doch eine Form der Reaktion, die vor allem etwas mit uns selbst zu tun hat. Sie hat mit dem zu tun, was wir in uns selbst erleben und wie wir mit dem umgehen, was in uns angesprochen wird. Wie wichtig es ist, mit sich selbst in Frieden zu leben, um besonnen auf äussere Konflikte antworten zu können, erwähnt Sokrates im Gespräch mit dem vornehmen Athener Bürger Kallikles. Dort sagt er über sich selbst, es sei besser, «dass meine Lyra verstimmt sein und misstönen möge oder ein Chor, den ich anzuführen hätte, und dass eher die meisten Menschen nicht mit mir übereinstimmten, sondern mir widersprechen mögen, als dass ich allein mit mir selbst nicht zusammenstimmen, sondern mir widersprechen müsste.»2

Hannah Arendt (1906–1975) hat diesen Gedanken Sokrates' aufgegriffen und dessen Bedeutung für den Bereich des Zwischenmenschlichen, insbesondere des Politischen, herausgearbeitet. «Selbst wenn ich ganz allein leben würde», so schreibt sie, «lebte ich doch mein Leben lang im Zustand der Pluralität. Ich muss mit mir selbst zurechtkommen.»3 Dieses «Mit-sich-selbst-zurechtkommen» ist die Grundvoraussetzung für ein stimmiges Leben. «Stimmig» heisst hier jedoch nicht monotone «Gleichschaltung» oder ein völliges Einvernehmen, sondern – ganz im Gegenteil – die Entwicklung einer besonderen Ich-Stärke, die sich nicht vor Konflikten scheut und zu widersprechen vermag. Nicht umsonst hat sich Sokrates mit einer Stechfliege verglichen, die die unkritische und behäbige Zufriedenheit der Athener anstacheln wollte. Ganz besonders deshalb war der aufreizende Sokrates für Arendt so wichtig, denn nur wer innerlich klar Position beziehen kann, widersteht totalitären Systemen – auch dafür ist die Praxis der Selbstsorge zentral. «Niemand, der nicht fähig ist, mit sich selbst einen Dialog zu führen, kann sein Gewissen bewahren», schreibt sie.4

Den inneren Dialog gestalten

Für Sokrates ist der Mensch nicht bloss ein «vernünftiges Tier», sondern vielmehr ein «denkendes Wesen». Dieses Denken vollzieht sich sprachlich, als ein Dialog, den ich mit mir selbst führe und als ein Dialog, den ich mit anderen führe. Beides ist untrennbar miteinander verbunden, beide Weisen des Gesprächs, das innere und das äussere, wirken wechselseitig aufeinander. Die Botschaften, die wir schon als kleine Kinder aufnehmen, bilden den Anfang unseres dialogischen Selbstes, sie prägen die Art und Weise, wie wir mit anderen sprechen. Dabei ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal des Menschen von Tieren, dass wir uns zu uns selbst ins Benehmen setzen können – wir sind unserem inneren Dialog nicht nur ausgeliefert, sondern können mitreden und Einfluss nehmen.

Als «exzentrisch positionierte» Wesen sind wir immer gebunden an die Erfahrungen unserer Vergangenheit, wir stehen im Strom der Geschichte und sind verwurzelt im Bedeutungsgewebe unserer Kultur. Zugleich können wir uns – natürlich immer nur in Massen – auch von diesen Bindungen lösen und Distanz zu uns selbst gewinnen, wenn wir beispielsweise darüber nachdenken, warum wir in Konflikten immer wieder in bestimmte Muster fallen. Deshalb wohl ist der Spruch des Orakels von Delphi «Erkenne dich selbst» für Sokrates von grosser Bedeutung. Ihm ist jedoch wichtig, beim «Erkennen» allein nicht stehenzubleiben – ihm muss die Arbeit an sich selbst folgen. Die Selbsterkenntnis ist jedoch der erste wichtige Schritt auf diesem Weg, sie ist die Voraussetzung einer gelingenden Selbstsorge, denn nur wenn man erkennt, wo man nicht mit sich selbst übereinstimmt und «misstönt», kann man an der richtigen Stelle ansetzen.

Auch zeitgenössische Denkerinnen und Denker ganz anderer Disziplinen greifen das musikalische Bild des Zusammenstimmens auf. So beschreibt der bekannte Hirnforscher Antonio Damasio (Jg. 1944) das Zusammenwirken verschiedener Gedächtnissysteme einer Person mit den unterschiedlichen Instrumenten in einem Orchester.5 Dabei versteht er das Selbst als den Dirigenten, der aus seinem Orchester bzw. dessen gespielter Symphonie selbst erst hervorgeht. Das zeigt, dass man sich nie ganz von den Klängen lösen kann, die in unser Leben hineingespielt wurden und dennoch sind wir daran beteiligt, wie sie zusammenstimmen. Auch der antike Stoiker Epiktet bestimmt den Menschen als ein Wesen, das sich gerade durch die Fähigkeit, von sich Abstand zu nehmen, von anderen Lebewesen unterscheidet. Gott habe uns mit Vernunft begabt, weil er wollte, dass wir über uns verfügen können. Foucault erklärt, für Epiktet sei die Sorge um sich selber ein Pflicht-Privileg, ein Gebot-Geschenk, das uns die Freiheit gewähre, indem es uns anhalte, uns selbst als Gegenstand all unserer Bemühung zu nehmen.6

Arbeit an der eigenen Konfliktfähigkeit

Es ist bemerkenswert, dass es vielen Menschen schwerfällt, mit den Erfahrungen ihrer inneren Polyphonie gut umzugehen. Bereits der Begründer des modernen Begriffs der «Identität», Erik H. Erikson (1902–1994), spricht von «Identitätsdiffusion», die natürlich immer auch ein Wiederhall der wachsenden Komplexität unserer Lebenswelt ist. Pathologische Persönlichkeitsstörungen wie Borderline, Depression oder Multiphrenie können vielleicht als eine Fortsetzung dessen gelesen werden, was antike Denker meinen, wenn sie die Behandlung der Seele mit medizinischen Metaphern beschreiben, die immer etwas mit dem Einbruch des Pathischen zu tun haben. «Pathos» meint hier das Getroffensein durch ein Widerfahrnis, das einen unvermittelt zur «Patientin» macht. Passiv sind wir betroffen von unfreiwilligen Regungen der Seele, von einem inneren Aufruhr, der nur schwer unter Kontrolle zu bringen ist. Gerade in Konflikten, wenn wir uns «auseinandergesetzt» fühlen, streben wir nach Einheit und Homogenität. Dies zeigt sich im grossen Verlangen nach Sicherheit und Ordnung, nach festen Fundamenten, die in «istischen» Phänomenen bedenklich Ausdruck finden.

Angesichts der Geschichte seines eigenen Volkes spricht der jüdische Psychologe Dan Bar-On (1938–2008) von der Entwicklung einer «monolithischen Identität». Erst wenn sie zur bröckeln beginnt und wir erkennen, in Konflikten immer zugleich Täter und Opfer zu sein, können wir an der eigenen Konfliktfähigkeit arbeiten. Sich mit sich selbst zu versöhnen, sich mutig in die verdrängten Schattenregionen des Selbst zu wagen, ist die Voraussetzung dafür, einerseits die eigenen Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen, klar und deutlich für sich selbst Position zu beziehen, und andererseits empathisch zuzuhören – also frei von eigenen Reizpunkten beim Anderen zu sein. Dieses Üben in selbst-bewusster «Antwortlichkeit», anstatt sich in reaktive Pingpong-Dynamiken zu verstricken, ist eine nie endende Lebensaufgabe. Dabei können es gerade die inneren Brüche sein, die eine Brücke zum Anderen bilden – allerdings nur, wenn wir ihnen immer wieder selbstsorgend begegnen.

Barbara Schellhammer

 

1 Vgl. Foucault, Michel, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Bd. 3, Frankfurt 122015, 61.

2 Gorgias 482c.

3 Arendt, Hannah, Sokrates. Apologie der Pluralität, Berlin 32016, 57.

5 Damasio, Antonio, Self Comes to Mind. Constructing the Conscious Brain, New York 2012.

6 Vgl. Foucault, Michel, Die Sorge um sich, aaO., 66.

Buchempfehlung: «An Konflikten wachsen. Konflikt-Coaching und die Sorge um sich selbst». Von Barbara Schellhammer. Weinheim 2019. ISBN 978-3-407-36683-2, CHF 49.90. www.beltz.de


Barbara Schellhammer

Prof. Dr. Barbara Schellhammer (Jg. 1977) hat den Lehrstuhl für Intercultural Social Transformation an der Hochschule für Philosophie in München inne. Dort leitet sie das Zentrum für Globale Fragen und befasst sich vor allem mit der Kulturphilosophie, der Anthropologie, mit Fragen der Interkulturalität und der Friedensbildung.