In gegenseitiger Offenheit wachsen

Hat Foucaults Spätphilosophie Bedeutung für die Theologie? Ja, meint Anna K. Flamm, denn sie stellt Anfragen an das eigene Subjektverständnis und liefert mit Gedanken zur Selbstsorge wertvolle Impulse für die Seelsorge.

Wer sich als Theologin oder Theologe mit Michel Foucaults Philosophie auseinandersetzt und in der Folge fragt, welche Relevanz seine Überlegungen für die eigene Disziplin haben könnten, erntet meist Unverständnis aus den eigenen Reihen. Wozu sich mit dem postmodernen Denker beschäftigen, bei dem es in der «Ordnung der Dinge» heisst, der Mensch verschwinde wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand, von Gott ganz zu schweigen?1 Ein Blick ins Frühwerk des Franzosen reicht für viele aus, um ihn keines weiteren mehr zu würdigen. Das ist bedauerlich, denn in der Beschäftigung mit seinem dezidiert theologiefernen Selbstverständnis werden wichtige Anfragen an das eigene Subjektverständnis gestellt, vorherrschende Selbstverständlichkeiten theologischer Selbstauslegung kritisch hinterfragt. Gerade die Spätphilosophie Foucaults bietet dabei mit ihren rekonstruierenden Gedanken zur antiken Lebenskunst, den zentralen Überlegungen rund um die Sorge um sich und einer damit verbundenen Machtkritik brisante Themenfelder für eine Theologie, die es sich zur Pflicht gemacht hat, jederzeit nach den Zeichen der Zeit zu forschen, um auf bleibende Fragen Antwort zu geben, Freude, Trauer, Hoffnung und Angst mit den Menschen zu teilen.

Lebenskunst als Praxis der Freiheit

Die Sorge um sich als ein facettenreiches Sich-um-sich-Kümmern, ein Sich-selbst-Aufmerksamkeit-Zuwenden bildet das Zentrum der Vorlesung «Hermeneutik des Subjekts», die Foucault 1981/82 hält. Der Philosoph betrachtet hier nicht nur die historischen und theoretischen Voraussetzungen des Konzeptes, sondern hat im Sinn, auch die Forderung nach Selbsterkenntnis in den «umfassenden Rahmen der mehr oder weniger expliziten Frage zu stellen, was man mit sich selbst tun, welche Arbeit man an sich verrichten und wie man ‹Herrschaft über sich selbst› erlangen soll durch Aktivitäten, in denen man selbst zugleich Ziel, Handlungsfeld, Mittel und handelndes Subjekt ist.»2 Mit präzisen, sensiblen Textinterpretationen des antiken Kanons verleiht Foucault der Ästhetik der Existenz und damit auch der Philosophie der Lebenskunst als Praxis der Freiheit mitsamt der ihr eigenen Moral ein Gesicht: «Darunter sind gewusste und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht.»3 Egal, ob in Form von Diätetik, Gewissensprüfung und Meditationstechniken oder einer stilvollen Beziehung zu sich, zu den Mitmenschen, ja zur gesamten Umwelt – die selbstsorgende Lebenspraxis definiert eine umfassende Verhaltensweise, eine, die die Selbsterkenntnis einschliesst, keinesfalls aber in ihr allein aufgeht. Denn wo für die Antike klar ist, dass es keine Wahrheit ohne eine Konversion des Subjekts gibt, das Mass der Subjektentfaltung Art und Möglichkeit der Erkenntnis prägt, erhalten praktische Vernunft und Ethik ein grosses Gewicht. Gerade hierin unterscheidet sich das Konzept der Selbstsorge stark von der Moderne mit ihrer einseitigen Betonung der instrumentellen Vernunft und einem entfesselten Erkenntnisdrang, dem die Ethik klar nachgeordnet ist. Und es wird noch etwas begreifbar: Selbstsorge meint keine individualistische, apolitische Existenz. Bei dieser Freiheitspraxis besteht ein wichtiges Band zwischen der Beschäftigung mit sich und der mit anderen. Die Überlegung: Nur wer sich angemessen mit sich auseinandersetzt und zu einem adäquaten Freiheitsgebrauch findet, kann einen solchen auch gegenüber anderen haben. Damit ist auch klar: Nur im Austausch mit dem anderen als praxiserprobtem, spiegelndem Helfer kann das Individuum auf seinem Weg zur Wahrheit voranschreiten, sich aktiv als Subjekt konstituieren. Nur aus Beziehung wächst es hin zu einem ethischen Subjekt, das sein Leben in Beziehung kunstvoll führt, einen ästhetisch-moralischen Umgang mit anderen, der Umwelt pflegt.

Von der Selbstsorge zur Seelsorge

Was hat nun dazu geführt, dass das Thema Selbstsorge gerade in der christlichen Seelsorge immer noch unsicher bis argwöhnisch beäugt wird? Folgt man Foucaults rekonstruierenden Darstellungen, sind es drei folgenschwere Verschiebungen auf dem Weg von der antiken Selbstsorge hin zur christlichen Seelsorge als dezidierter Sorge für andere: Die erste betrifft die Verjenseitigung des Heils. In der Auseinandersetzung mit der Sorge um sich arbeitet Foucault heraus, dass Heil hier klar innerweltlich realisierbar aufgefasst wird. Das Subjekt rettet sich aktiv, indem es sich der Selbstsorge zuwendet und sein Dasein in Bezug auf verschiedene existenzielle Fragestellungen ästhetisch ausgestaltet. Gerade weil es sterblich ist, soll das Leben ein Kunstwerk sein. Das Christentum verändert diese Ansicht, indem es das Heil als nach dem Leben kommend einführt. Der Einzelne kann seine Rettung nun nur noch erhoffen, nicht aber unmittelbar selbsttätig erfahren. Damit kippt die Selbstsorge und äussert sich fortan mit Blick auf das Jenseits im diametralen Gegensatz zum hellenistischen Verständnis als Verzicht auf diesseitige Erfüllung. Die Akzentverschiebung hat eine weitere Konsequenz: Theologen sind nun die einzigen Experten, wenn es um Heilswissen geht, sie kennen die Wahrheit und so etabliert sich bald monopolisiertes Herrschaftswissen. Denn Seelsorgende wissen um die Person jedes Geführten und darum, was ihnen zum Heil dient. Wissen über andere bedeutet auch Macht über sie, so Foucault.

Eine zweite Transformation der Selbstsorge durch das abendländische Christentum ist im Verzicht auf Selbstentfaltung zu sehen: Hatte das selbstsorgende Ich aktiv an der Realisierung seines diesseitigen Heils gearbeitet, überantworten sich Gläubige Seel-Sorgenden, die diese Sorge einseitig übernehmen, gilt es doch auf sich zu verzichten, sich aufzugeben, um in neuer Gestalt wiederaufzuerstehen. Wo aber nur einer genau weiss und sagt, was zu tun und zu unterlassen ist, kommt es nicht nur zu einer Entmündigung des anderen Subjekts, sondern auch zu einer Festschreibung des Rollengefälles zwischen Seelsorgendem und Gläubigen. Verliert das konkrete Subjekt seine Bedeutung als Subjekt, hat das auch Auswirkungen auf die Beziehung zwischen Seelsorgenden und Gläubigen. Sie wandelt sich von einer psychagogischen zu einer pädagogischen und rückt so zunehmend allgemein verbindliche Glaubenswahrheiten und Normen statt einzigartiger Biografien in den Fokus.

Bleibt die letzte schwerwiegende Transformation auf dem Weg der Selbstsorge zur Seelsorge: Wahres Sprechen tendiert zum Geständnis. Das selbstsorgende Subjekt nähert sich der Wahrheit, die ausserhalb seiner selbst liegt, im Austausch mit anderen an, die in der Praxis der Freiheit geübt sind und so zu einer Subjektpraxis zu befähigen wissen. Mit dem abendländischen Christentum verschiebt sich dieses Wahrsprechen nun von den Helfenden auf die Ratsuchenden. Nur um den Preis von selbst geäusserten Wahrheiten über sich, ihre mit einem abgewerteten Körper verbundenen Begierden können ihre Seelen von Pastoren zum jenseitigen Heil hin geführt werden. In der Beichtpraxis als Ort des Geständnisses verzerrt sich so, nach Foucault, das Ideal der Parrhesia, da die wechselseitige Öffnung von Dialogpartnern zum einseitigen, schambehafteten Wahrheit-Sagen degeneriert. Wo Offenheit nur auf einer Seite gefragt ist, verschwindet die eigene Praxis als Bedingung der Möglichkeit, zu einer Subjektpraxis zu befähigen, auf Seiten der Seelsorgenden.

Sie sind sehr kurz gefasst, die hier präsentierten Darstellungen zu Foucaults Beschäftigungen mit der Selbstsorge und sie fordern heraus. Gerade in ihrer Herausforderung aber werden sie für Theologie und Seelsorge, die sich intensiver mit ihnen auseinandersetzen, zur Chance.  Denn in den genealogischen Darstellungen des Philosophen lässt sich nicht nur geschichtliche Geworden- und damit Veränderbarkeit begreifen, eine umfassende Auseinandersetzung mit Foucaults Selbstsorgeüberlegungen und dem daraus erwachsenden Subjektivitätsverständnis weitet auch den Blick für Selbstverständnisse, die jenseits der eigenen Selbstverständlichkeiten liegen. Mit der Betonung einer selbstbewussten Freiheit in bleibender Bezogenheit liefert die Sorge um sich jedenfalls einen zentralen Anknüpfungspunkt für christliche Seelsorge. Vielleicht mag sie Seelsorgende dazu motivieren, sich, von zu hohen Ansprüchen an sich selbst befreit, noch bewusster als den anderen auf Augenhöhe zu begreifen, um mit der eigenen Freiheitspraxis im Hintergrund in einen offenen Austausch, bewusste Beziehung mit einem anderen, freien Subjekt zu treten und es auf seinem Weg zu begleiten.

Anna K. Flamm

 

1 Vgl. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1971, 462.

2 Foucault, Michel, Subjektivität und Wahrheit. Übersetzt von Michael Bischoff, in: Defert, Daniel / Ewald, François (Hgg.), Michel Foucault. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt am Main 2007, 74–80, 74.

3 Foucault, Michel, Der Gebrauch der Lüste. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt am Main 1986, 18.

Buchempfehlung: «In aller Freiheit. Selbstsorge neu denken mit Michel Foucault». Von Anna Katharina Flamm. Freiburg i. Br. 2019. ISBN 978-3-451-38734-0, CHF 99.00. www.herder.de


Anna K. Flamm

Dr. Anna K. Flamm studierte Theologie, Germanistik und Latinistik in Freiburg, Hongkong und Wien. Sie arbeitet als Bildungsreferentin für die katholische Hochschulgemeinde (KHG) Edith Stein in Freiburg i .Br. und als freie Journalistin.

 

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