Weihnachten für Erwachsene – Weihnachten für Seelsorgende

«Ab sofort sind alle seit 1997 erschienenen Lesejahrbeiträge auf www.kirchenzeitung.ch frei zugänglich. Damit stehen pro Bibelstelle digital mehrere Texte für die Predigtvorbereitung oder zum persönlichen Studium zur Verfügung», hiess es in der SKZ 46/2013. Die Auslegungen zu den alttestamentlichen Texten aller drei Lesejahre sind inzwischen auch in Buchform erschienen («70 Gesichter der Schrift»). Was dieser reichhaltige Schatz ermöglicht, soll hier am Beispiel der Weihnachtszeit exemplarisch erkundet werden. Ich habe die Auslegungen zu den Lesungstexten im Lesejahr A (Altes Testament, Briefe und Evangelien) der letzten Jahre vom Heiligen Abend bis zum Erscheinungsfest gelesen und nach durchgehenden Themen und Motiven gesucht. Es ergaben sich Ideen für eine Predigtreihe über die ganze Weihnachtszeit hinweg:

Nacht-Zeiten, Krisen-Zeiten und Zeiten der Veränderung

Die AT -Lesung in der Heiligen Nacht gibt in einer Art Ouvertüre wesentliche Motive vor: Jes 9,1–6 ruft die Erfahrung von Nacht- Zeiten wach, von Zeiten der Krise, von Zeiten, die nach Veränderung rufen. Dabei geht es um gesellschaftliche Krisen genauso wie um individuelle biografische, die ja eng miteinander verbunden sind. Die Lesungen am Fest der Heiligen Familie lenken den Blick besonders auf drei Lebensbereiche: auf das Zusammenleben verschiedener Generationen (Sir 3), auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern (Gal 4) und auf die Frage, was denn eine Familie ausmacht (Mt 2). Alle drei Bereiche sind heute von intensiven Veränderungsprozessen gezeichnet, die neben neuen Möglichkeiten und Freiheiten auch Gefühle von Verunsicherung und Angst auslösen.

Wieder ist es die AT -Lesung in der Heiligen Nacht aus Jes 9, die antönt, was Menschen im Umgang mit diesen Krisen und ihrem Veränderungspotential dient: die Zusage Gottes, dass Veränderung möglich ist und geschehen wird, aber auch die Erinnerung daran, dass Gott bereits früher zu Veränderungen herausgefordert und sie heilsam begleitet hat, die Erkenntnis, dass Veränderungsprozesse Zeit brauchen, dazu Einsicht und Hoffnung, Willen, aber auch Gelassenheit und Geduld. Die Lesung am Weihnachtsmorgen aus Tit 3 zeigt, dass die Veränderung zuerst Gnade und dann auch Aufgabe ist. Sie wächst aus der Befähigung durch Gott, «trotz allem Bisherigen auf neue Weise leben» zu können. In Jes 52, der Lesung am Weihnachtstag, sind es ja nicht die perfekten Bauwerke, die Gott loben, sondern die Trümmer, die jubeln und jauchzen. Wir leben mit unseren Brüchen, wir leben als Verwundete. In unserer Gebrochenheit, mit unserem Leben im Fragment sind wir mit Gott verbunden.

 

Die Angewiesenheit auf Fürsorge

Damit Veränderungen gelingen, braucht es Menschen, die Verantwortung übernehmen und dabei fürsorglich sind. Für solche Menschen, für uns, wird ein Kind, werden Kinder geboren. «Ein Kind ist uns geboren», heisst es in Jes 9. «Ein Kind, geboren für…» ist eine formelhafte Wendung der Bibel. Als Mütter, Väter, Grosseltern, Verwandte, Göttis, Freundinnen, Erzieher, Lehrerinnen, Nachbarn sind wir verantwortlich, für Kinder zu sorgen. In dieser Fürsorge sorgen wir uns auch um uns selbst, um unser «Wir». Und wir erkennen, dass wir eigentlich, wesentlich, diesem Kind gleichen und auch auf Fürsorge angewiesen sind. Das ist vielleicht die wichtigste Botschaft, die sich durch die Lesungstexte der Weihnachtszeit zieht. Hier wird erkennbar, dass sich die biblischen Texte in besonderer Weise an Erwachsene richten, auch wenn das Kind im Zentrum steht. Sie richten sich an Väter und Mütter, an Hirtinnen, an Sterndeuter und Schriftgelehrte, an Menschen, die über Möglichkeiten verfügen, ihr Leben und das Zusammenleben zu gestalten, an Menschen, die Verantwortung übernehmen können. So gesehen sind die Lesungstexte der Weihnachtszeit auch Wegweisungen für Seelsorgerinnen und Seelsorger.

Als füreinander Sorgende sind wir Segen füreinander. Segen ist erfahrbar in der Zuwendung zueinander, wie die Lesung am Fest der Gottesmutter Maria, am Neujahrstag, am ersten Tag des neuen Jahres, zeigt (Num 6). Segen ist erfahrbar, wo neues Leben heranwächst, im neugeborenen Kind und im ersten kleinen Schritt aus der Krise in die Veränderung hinein. Der Segen Gottes lädt Menschen ein zur Mitwirkung, zur Kooperation mit der schöpferischen Kraft des Lebendigen. So bringen wir Gott zur Welt.

Wie aber kann sich das in den drei angesprochenen Lebensbereichen zeigen, der Beziehung zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern und bei der Frage, wer denn eigentlich «zur Familie», wer zur Gemeinschaft dazu gehört? Hier reden die Lesungstexte der Weite das Wort. Immer wieder kreisen sie um die Frage nach der Beziehung von Israel und den Völkern. Immer wieder machen sie deutlich, dass es vielfältige Formen der Zuwendung Gottes zu den Menschen gibt, vielfältige Erscheinungen, die sich gegenseitig bereichern können. Den eigenen Standort wechseln zu können, eine andere Perspektive einnehmen zu können, ist heilsam. Ja Gott selbst macht es vor. Im Evangelium am Fest der Heiligen Familie (Mt 2) wechselt ja auch Gott den Ort und ruft sein Kind aus Ägypten.

Auf dem Weg sein

Die Lesungstexte sprechen immer wieder vom Gehen. Die Hirtinnen und Hirten gehen, die Sterndeuter machen sich auf den Weg. Es ist Gehen aus eigenem Antrieb, nicht das Befolgen eines kaiserlichen Befehls. Diese Beweglichkeit ist heilsam. Neugier, Offenheit, Unterwegssein-Können sind heilsam. Die Hirtinnen und Hirten gehen nicht nur zur Krippe und finden das Neugeborene, sie spüren sogar, wann es Zeit ist, wieder zu gehen. Die Hirten hören die Botschaft auf «freiem Feld». An einem Nicht-Ort, einem Ort mit utopischem Potential, in Zwischenräumen. Hier geschieht das Wort. Dazwischen, im Interesse. Das fleischgewordene Wort Gottes selbst hat unter uns, zwischen uns, ein «Zelt» aufgeschlagen, wie es in Joh 1 am Weihnachtstag wörtlich heisst. Der Ort der Begegnung mit dem Göttlichen und der Offenbarung ist beweglich.

All das ist auch risikohaft, konfliktträchtig und gefährlich. Im Namen des Kaisers Augustus klingt an, dass es massive Gegenmächte gibt. Beharrungskräfte des Status quo, der herrschenden Ordnungsmacht, die versuchen, jede Veränderung im Keim zu ersticken. Der Kindermord des Herodes steht dafür und sollte nach Möglichkeit am Fest der Heiligen Familie gegen die Auslassung der Leseordnung mitgelesen werden. Von den Gegenmächten sprechen auch die Lesungen am Stephanstag, die in den Auslegungsreihen der letzten Jahre fehlen. Der Märtyrer Stephanus sollte nicht antijüdisch gedeutet werden. Stephanus stammt aus dem hellenistischen Judentum. Er ist ein jüdischer Märtyrer. Jüdische Märtyrertheologie spricht von der Heiligung des Namens Gottes. Der Name Gottes, Rettung, und die Heiligung des Namens klingen schon in den Jesaja-Lesungen am Weihnachtsmorgen und Weihnachtstag an (Jes 62 und Jes 52 – hier direkt vor dem Ausschnitt der Leseordnung). Im Konflikt um Stephanus zeigt sich, wie heftig Auseinandersetzungen zwischen engen Verwandten um den Weg aus der Krise sein können. Hier braucht es erwachsene, verantwortungsvolle Reaktionen.

 

Peter Zürn

Peter Zürn

Peter Zürn ist Präsident des Vereins Bibliodrama und Seelsorge.