Wege der Gottsuche

In der Geschichte der christlichen Spiritualität haben zu allen Zeiten Menschen ihre je persönliche Gottesbeziehung auf vielfältige und in mancher Hinsicht gegensätzliche Weisen gelebt.

Es gibt, das wird bei einem genaueren Blick in die geistliche Literatur der Jahrhunderte deutlich, verschiedene Weisen, Gott nahekommen zu wollen. Sie alle haben biblische Vorbilder, mit allen sind Chancen und Gefahren verbunden. Dem Einschlagen des Weges geht sehr oft etwas voraus, das ich vorsichtig als «Gotteserfahrung» bezeichnen möchte. Um dieser Erfahrung zu entsprechen, um Gott wieder zu begegnen oder ihm näherzukommen, machen sich Menschen auf einen geistlichen Weg. Im Folgenden beschreibe ich sechs solcher Wege.

1. Weg: Gott suchen in der Einsamkeit

«Als das Jesus hörte, entwich er von dort in einem Boot in eine einsame Gegend allein. – Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein» (Mt 14,13.23).

Die Wüstenväter sind diesen Weg gegangen, oder im 20. Jahrhundert der Trappist Thomas Merton. Der Gedanke dahinter ist, dass es wahres Leben nur in der Nähe Gottes geben kann und dass diese Nähe nur realisierbar ist in Abkehr von den Zerstreuungen der Welt und von einem Leben, das um das eigene Ich kreist. Der Weg aus der Welt heraus bedeutet Trennungen, sicher auch Opfer, doch werden diese gern gebracht, sogar als glückhaft erlebt, weil sie näher zu Gott führen. Die Gefahr dabei ist natürlich, den Nächsten und die Welt zu vergessen, vielleicht auch sich selbst.

2. Weg: Gott suchen im Anderen

«Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan» (Mt 25,40). Der Andere ist besonders der leidende Andere, so zeigt es sich bei Elisabeth von Thüringen oder Mutter Teresa. Gott wird als leidender, bedürftiger Christus im leidenden, bedürftigen Menschen gesehen, und die Zuwendung zu ihm bringt grösste Nähe zu Gott. Die Zuwendung wird gewährt um Christi willen, wobei der konkrete Mensch, der sie braucht, unsichtbar werden kann. Eine weitere Gefahr ist die Vernachlässigung der Selbstliebe – aber auch Gott kann hinter dem leidenden Mitmenschen verschwinden.

3. Weg: Gott suchen in der Gemeinschaft

«Denn wie der Leib einer ist und hat doch viele Glieder, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus. Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt» (1 Kor 12,12 f).

Beispiele sind Benedikt von Nursia oder die Shaker, eine religiöse Gruppierung, die vor allem im 19. Jahrhundert in den USA verbreitet war. Sie finden Gott im Leib Christi, in der Gemeinschaft der Glaubenden. So sehr jeder einzelne Mensch für sein Tun, für seinen Glauben, für seine Hoffnung verantwortlich ist – das beginnende Gottesreich auf dieser Welt kann er nicht für sich allein finden, dazu braucht er die Brüder, die Schwestern, die gemeinsame Arbeit, das gemeinsame Beten, den gemeinsamen Gottesdienst. Darüber kann jedoch – die Gefahr dieses Weges – im Falle der Absolutsetzung das eigene Ich ebenso vergessen werden wie schliesslich auch Gott.

4. Weg: Gott suchen in sich selbst

«Alles, was zum Leben und zur Frömmigkeit dient, hat uns seine göttliche Kraft geschenkt durch die Erkenntnis dessen, der uns berufen hat durch seine Herrlichkeit und Kraft. Durch sie sind uns die kostbaren und allergrössten Verheissungen geschenkt, damit ihr durch sie Anteil bekommt an der göttlichen Natur, wenn ihr der Vergänglichkeit entflieht, die durch Begierde in der Welt ist» (2 Petr 1,3 f).

Menschen auf diesem Weg vertrauen darauf, dass der Mensch durch die Heiligung Gott ähnlicher werden kann. Sie sind überzeugt, dass der Mensch ablegen kann, was ihn von Gott trennt, alle Sünde, alle Selbstzentrierung, und dass er wieder so werden kann, wie er gemeint ist: Gottes Ebenbild.

Viele Mystiker wie etwa Meister Eckart sind diesen Weg gegangen, vor allem aber viele Christen im östlichen Christentum wie z. B. Athanasius von Alexandrien. Dort heisst der entsprechende Vorgang «Theosis», Vergottung, Gott-Werdung. Dass dabei der Nächste nicht immer gesehen wird, ist die naheliegende Gefahr.

5. Weg: Gott vergebens suchen

«Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?» (Jer 23,23). Dieser Weg wird nicht freiwillig gewählt, aber viele finden sich auf ihm vor. Die «dunkle Nacht» des Johannes vom Kreuz ist hier zu nennen, Thérèse von Lisieux, auch nochmals Mutter Teresa, wie aus ihren nachgelassenen Tagebüchern deutlich wurde. Gott erscheint verborgen oder abwesend, schweigend und unerreichbar. Die Gottferne ist quälend, denn der Mensch spürt in einer solchen Zeit, wie sehr er von der Gottesbeziehung, der wahrgenommenen Liebe Gottes lebt. Ob Gott tatsächlich als abwesend oder verborgen auszusagen ist, ist eine Frage der theologischen Perspektive: Johannes vom Kreuz verneint es; das göttliche Licht sei vielmehr so hell, dass es unserem durch die Sünde getrübten Blick als Dunkelheit erscheine. Martin Luther lässt die Frage offen oder verlegt sie mit seiner Unterscheidung von verborgenem und offenbaren Gott (Deus absconditus/revelatus) in Gott selbst. Und der Mensch solle sich an den in Christus offenbaren Gott halten, der verborgene gehe ihn nichts an. Menschen auf diesem Weg stehen in der Gefahr, Gott aufzugeben. Dagegen hilft nur, ein «Trotzdem» zu leben, gegen Gott an Gott festzuhalten.

6. Weg: Gott suchen im Alltag

«Ich ermahne euch nun, Brüder und Schwestern, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst» (Röm 12,1). Hier sind vor allem evangelische Christen zu nennen, etwa Martin Luther, aber auch Dietrich Bonhoeffer. Es braucht keine besonderen Anstrengungen, keine besonderen heiligen Orte. Indem der Mensch sein Leben bewusst vor Gott lebt, in der Bibel liest, betet und in Gottesdiensten in der Gemeinschaft der Geschwister sich der Gottesbegegnung öffnet, ist er mit Gott auf dem Weg, solange nicht der Alltag stärker wird und er Gott darüber vergisst.

Das Mühen um Balance

An allen Wegen zeigt sich, dass der Mensch sich in etwas vorfindet, das ich das «anthropologische Dreieck» nenne: Der Mensch ist auf Gott hin geschaffen und er ist in die Welt gestellt. Er steht also in Beziehungen: zu Gott (ob er das weiss und will oder nicht), in Beziehung zu sich selbst und in Beziehungen zur Welt und zu anderen Menschen. Diese verschiedenen Beziehungen sind nach dem Willen Gottes Liebesbeziehungen. Das sagt Jesus sehr klar im sogenannten Doppelgebot der Liebe: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und grösste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst» (Mt 22,37–39). Das Gebot konstituiert damit das Dreieck, in dem jeder Mensch steht, ein Dreieck aus Gott, dem Nächsten und dem Ich.

Die Schwierigkeit liegt darin, wie bereits die kurzen Beschreibungen der Wege angedeutet haben, alle Eckpunkte dieses Dreiecks im Gleichgewicht zu halten, die Liebe zu allen Punkten durchzuhalten. Immer neu sind Aufmerksamkeit nötig und Bemühen. Das ist möglich, denn wir wissen um die Chance des Neubeginns, die in der Vergebung liegt. Ich muss zuweilen auf meine Beziehungen schauen, um mögliche Fehlentwicklungen zu korrigieren und neu zu ergänzen, was aus dem Blick geraten ist. Immer wieder muss ich meine eigene Praxis auch kritisch betrachten und das, was ich tue und empfinde und denke, sorgsam prüfen. Dieser Vorgang heisst in der Bibel und in der geistlichen Literatur die «Unterscheidung der Geister». Dieses Überprüfen des eigenen Tuns und Lassens, dieses Unterscheiden der Geister kann ich täglich vornehmen, aber zuweilen kann ich es nicht allein. Darum brauche ich die Gemeinschaft und den geistlichen Ratgeber.

Ich sehe diese sechs Wege nicht in Konkurrenz, keiner ist richtiger als die anderen, und ich muss auch nicht ein Leben lang auf einem einzigen Weg gehen. Wichtig ist, mindestens eine Zeit lang dem gewählten Weg treu zu sein, den Weg aktiv zu gehen – und mit Regelmässigkeit.

Corinna Dahlgrün

 

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Corinna Dahlgrün

Corinna Dahlgrün (Jg. 1957) studierte Germanistik und Evangelische Theologie in Hamburg. Sie arbeitete zunächst als Pastorin in Hamburg. Nach ihrer Habilitation war sie von 2001 bis 2004 Professorin für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel, seit 2005 hat sie den Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena inne.