Aus den Quellen schöpfen

Mit dem Wort «Spiritualität» ist immer die Sehnsucht verbunden, dass Welt und Mensch geheimnisvoller seien als das, was man rational erklären kann. Die «Theologie der Spiritualität» hat diese Sehnsucht zum Gegenstand.

Längst nicht mehr nur Theologen führen das Wort «Spiritualität» im Wortschatz. Spirituelle Sehnsucht im heutigen Sprachgebrauch kann, muss aber nicht heissen: religiöse Sehnsucht. Mitunter wird «spirituell» sogar im Sinn der Abgrenzung gebraucht – gegen eine Bindung an eine bestimmte Religion, deren konkrete Lehren oder Verhaltensforderungen etwa als überfremdend empfunden werden, während gleichzeitig «spirituelle» Weisungen, deren Einsichtigkeit durchaus nicht immer auf der Hand liegt, mit erstaunlicher Gläubigkeit angenommen werden.

Annäherung

Die vermehrte Sehnsucht nach Spiritualität scheint sich gerade als Reaktion geltend zu machen: auf eine als materialistisch, technisch durchgestylt und der rationalen Verfügungsmacht ausgeliefert empfundene Welt. Wenn die Seele nicht mehr zu Wort kommt, steigt das Verlangen, «etwas für die Seele zu tun». In diesem Zusammenhang fallen oft die Worte: Ganzheitlichkeit, Glück, Weisheit, Heilung, authentisches Leben.1 Es geht um das «Finden» der eigenen Person in ihrem Verhältnis zur Welt und zur eigenen Geschichte, in ihrem Stehen in sich und ihren Beziehungen zu anderen und in ihrem Bezug zu dem, was diese Welt transzendiert.

Vom Menschenbild der biblischen Offenbarung aus gesehen darf diese Transzendenzsuche gedeutet werden als Ausdruck der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen: Jede Person ist auf Gott als ihr letztes Ziel hin erschaffen. Diese Sehnsucht ist – wie die Sehnsucht nach Glück – zutiefst menschlich und zugleich anspruchsvoll.2 Anthropologisch betrachtet wird eine reife, ganzheitliche Spiritualität drei grosse Dimensionen umfassen, die man anknüpfend an Überlegungen von Romano Guardini und Hans Urs von Balthasar3 als kontemplativ, aktiv-ethisch und rezeptiv-ertragend bezeichnen kann. Kontemplativ besagt in diesem Dreiklang, dass jeder Mensch auf Grösseres bezogen ist, als er selbst ist; er ist offen für die Erkenntnis bleibender Wahrheit und auf der Suche nach dem letzten Sinn seines Lebens – mag ihm auch der Alltag nur zu oft die Sicht darauf verstellen. Der Mensch ist aber nicht nur auf die Transzendenz bezogen, sondern auch auf diese Welt; als freies, seiner selbst bewusstes Wesen sucht er sie zu gestalten und verantwortlich in ihr zu wirken. Und schliesslich gehört zu einer reifen Spiritualität auch die Einstellung zu dem, was man mit dem eigenen Willen nicht beeinflussen kann: was einem vorgegeben ist, was einem widerfährt, das Scheitern von Plänen, das Leidvolle – im Tiefsten: die eigene Endlichkeit.

Christliche Spiritualität4

Was konkret «geistliches Leben» bedeutet, entscheidet sich daran, wer Gott ist und wie das Verhältnis von Gott und Mensch bestimmt ist – ebenso wie sich das Gebet eines Menschen danach formt, an welchen Gott er glaubt.

Im Gegensatz zu der eher vagen Verwendung des Wortes heute bezeichnet der biblische und altchristliche Terminus pneumatikos beziehungsweise spirit(u)alis – der Ursprung des Wortes in den modernen Sprachen! – etwas sehr Genaues. Geistlich heisst in den Schriften des Neuen Testaments zumeist: vom Geist Gottes gewirkt, von ihm erfüllt. Im Unterschied zum irdisch gesinnten Menschen, der aufgrund von natürlichen Bestrebungen und nicht selten auch selbstsüchtig handelt, lässt sich der geistliche Mensch vom «Geist des Sohnes» leiten (1 Kor 2,10–3,3; Röm 8,4–17). Wer den Geist Jesu Christi empfangen hat, ist zu Gottvater in ein familiäres Verhältnis gehoben und darf ihn als «Abba – lieber Vater» anreden (Röm 8,15; Gal 4,6). Ausgehend von diesen Paulustexten bedeutet spirituell also nicht eine besonders intensive Frömmigkeit oder charismatische Begnadung, sondern bezeichnet den getauften Christgläubigen. Dieser Geist wird geschenkt, muss aber angenommen werden. Geistlich ist das Leben, das der empfangenen Gnade entspricht.

Christlich verstanden ist geistliches Leben ausgerichtet auf die lebendige Beziehung mit Gott, der sich geoffenbart hat, das heisst: selbst «mit uns» sein will. Gott gibt sich zu erkennen, nicht nur damit wir mehr von ihm wissen, sondern damit wir mit ihm leben. Nicht nur der Mensch sucht Gott, sondern Gott hat den Menschen aufgesucht. Das Eintreten in diese Beziehung durchformt alle Kräfte des Menschen, wie es im Hauptgebot des Alten Testaments gefordert wird: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, ganzer Seele und all deinen Kräften» (Dtn 6,5). Denken, Wollen und Handeln sollen vom Glauben erleuchtet und von der Liebe geformt werden. Dies schliesst einen lebenslangen Weg ein.5

Geistliches Leben umfasst nicht nur alle Kräfte des Menschen, sondern auch alle Bereiche des Lebens: die Gottesbeziehung in Gebet, Medita- tion der Heiligen Schrift, sakramentaler Praxis; die eigene Lebensplanung, Umgang mit dem eigenen Charakter, Erfolgen und Misserfolgen, Sünde, Leid, Tod; Umgang mit Mitmenschen, der Schöpfung, Einsatz in Politik und Kunst – die gesamte Weltanschauung. Den Kernbereich des geistlichen Lebens bildet die Herausforderung: Wie wird die Freundschaft mit Gott gepflegt? Eine solche Beziehung zielt auf ein Leben ohne «Masken», auf die Selbstwerdung im Angesicht Gottes.

Geistliches Leben verdankt sich dem einen Geist und entfaltet sich in vielen Gaben: Die Einheit im Glauben und in der Glaubensgemeinschaft behindert nicht die legitime Pluralität der «geistlichen Stile», im Gegenteil. Alle Christen sind zur Vollkommenheit von Glaube, Hoffnung und Liebe berufen; aber sie folgen diesem Ruf in verschiedenen einzelnen Berufungen, mit bestimmten Akzentsetzungen, die die Beziehung zu Gott und die Sendung in die Welt prägen (z. B. missionarisch, kontemplativ, karitativ usw.) und die auch feste Formen annehmen können (Stände der Kirche). Spirituelles Leben im Christentum ist zutiefst persönlich, aber nicht einfach nur individuell; das Charisma der unverwechselbaren einzelnen Person entfaltet sich im grösseren Zusammenhang der Gemeinschaft der Kirche.

Der Mensch vor dem Angesicht Gottes

Mit all dem befasst sich also «Theologie der Spiritualität», jedoch in der Weise wissenschaftlicher Reflexion «auf fundamentale Fragen der christlichen Existenz, eingebettet in die geistliche Erfahrung der Kirche» (Josef Weismayer). Sie ist weder identisch mit «geistlicher Ausbildung» oder «Formation», wie sie in Exerzitien, Predigten oder geistlichen Vorträgen geschieht. Noch ist sie blosse Deskription von Phänomenen. Als theologische Disziplin beschreibt sie nicht nur, sondern argumentiert von bestimmten Grundlagen aus, sodass Zusammenhänge sichtbar werden. Dabei werden sich vielfältige Verbindungen zu anderen theologischen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen öffnen (z. B. Sprachwissenschaften, Kunstgeschichte oder auch Psychologie). Sie umfasst Fragestellungen, wie sie oben skizziert wurden (z. B. betreffend das christliche Beten, Betrachtung und Kontemplation, geistliche Begleitung und Unterscheidung, allgemeine Berufung zur Heiligkeit und besondere Berufungen), und konkrete Ausprägungen: exemplarische Personen, Epochen, Bewegungen, spezifische Ausfaltungen und gegenwärtige Entwick- lungen. Es versteht sich von selbst, dass die biblischen Zeugnisse von grundlegender Bedeutung sind. Denn so wichtig eine systematische Reflexion ist, das eigentliche Subjekt von Spiritualität und Objekt einer Theologie des geistlichen Lebens ist der konkrete Mensch vor dem Angesicht Gottes.

Wo Theologie der Spiritualität sich der Spiritualitätsgeschichte zuwendet, betrachtet sie die Quellen – in der Hauptsache geistliche Texte, aber auch andere Ausdrucksformen wie Musik, bildende Kunst, Theater oder Film – im wörtlichen Sinn «ressourcenorientiert». Das setzt voraus, den Quellen Wahrheitsrelevanz zuzubilligen. Es geht nicht um historische Kenntnisse allein, nicht nur um klassische Texte oder kulturelle Phänomene, sondern um Wahrheit und Sinn, um die Entdeckung inspirierender oder nicht selten gegenwartskritischer Aspekte. Es gehört sicherlich zur Bildung, in einem Theologiestudium Augustinus, Bernhard, Teresa, Franz von Sales oder Guardini gelesen zu haben. Aber wichtiger ist, ob deren Fragen uns berühren, deren Antworten uns bereichern oder auch herausfordern.

Das letzte Ziel

Hier sind wir bei der «causa finalis» dieser Disziplin angelangt. Sie zielt auf die Vertiefung des persönlichen Wissens in diesem speziellen Bereich, auf das Verstehen von Grundlagen und Zusammenhängen und die Ausformung der Urteilsfähigkeit. Eine gute Kenntnis der legitimen Vielfalt christlicher Spiritualität und deren Wertschätzung sind nicht zuletzt eine wichtige Grundlage für den seelsorglichen Dienst.

Damit ist der «skopos» beschrieben, das unmittelbare Ziel dieser Wissenschaft. Das «telos» aber, das letzte Ziel der Theologie der Spiritualität wie aller Theologie, ist selbstverständlich das geistliche Leben der theologietreibenden Person selbst und die Zunahme an geistlicher Lebendigkeit in der Gemeinschaft der Glaubenden.

Marianne Schlosser

 

1 Vgl. Martin, Ariane, Sehnsucht – der Anfang von allem. Dimensionen zeitgenössischer Spiritualität, Ostfildern 2005.

2 Vgl. dazu Schulte, Ludger, Gott suchen – Mensch werden. Vom Mehrwert des Christseins, Freiburg 2006, bes. 13–32, 53–57.

3 Vgl. von Balthasar, Hans Urs, Spiritus Creator (Skizzen zur Theologie III), Einsiedeln 1967, 247–263.

4 Dazu besonders: Solignac, Aimé, Art. Spiritualité I, in: DictSpir XIV (1990), 1142–1160.

5 Zahllose geistliche Werke tragen im Titel den «Weg» oder die «Leiter». Humorvoll hat S. Tugwell OP in «Ways of Imperfection» darauf hingewiesen, dass alle «Wege» und geistlichen Schulen ihre Grenzen haben und geistliches Leben nicht durch eine Methode(!) garantiert werden kann.

 

 


Marianne Schlosser

Univ.-Prof. Dr. Marianne Schlosser (Jg. 1960) hat seit 2004 den Lehrstuhl für Theologie der Spiritualität an der Universität Wien inne. Sie ist Mitglied der Internationalen Theologischen Kommission für das Quinquennium 2014 bis 2019.