Was zu einem guten Leben führt

Viele politische Forderungen setzen auf die individuelle Verantwortung für einen gesunden Lebensstil. Mehr als das individuelle Bemühen trägt die Gesamtverfassung der Gesellschaft zum persönlichen Wohlergehen bei.

Gesundheit ist nicht bloss die Abwesenheit von Krankheit. Die Weltgesundheitsorganisation definiert: «Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.»1 Das umfassende physische und mentale Wohlbefinden, das gute Leben, findet im sozialen Raum statt, ist für den Menschen undenkbar ohne Gesellschaft. Gesundheit ist auch nicht nur ein durch individuelles Handeln erreichbares Gut, sondern von vielfältigen sozialen und umweltbedingten Umständen abhängig: örtliche und ökonomische Erreichbarkeit von ärztlichen und pflegerischen Dienstleistungen, Vorhandensein und Bezahlbarkeit von Medikamenten, unschädliche Arbeits- und Umweltbedingungen, Gesundheits- und Körperbewusstsein, um einige der wichtigsten Einflussgrössen auf die individuelle Gesundheit zu nennen. Nur wenige davon sind durch den Einzelnen direkt zu beeinflussen, sie sind politisch bedingt und deshalb nur durch kollektive Aktion veränderbar.

Einfluss sozioökonomischer Faktoren

Zwei wichtige gesundheitssoziologische Konzepte vermitteln einen Zusammenhang zwischen individueller Gesundheit und gesellschaftlichen Bedingungen. Der Brite Michael Marmot (Jg. 1945) analysiert seit einiger Zeit die gesellschaftlichen Unterschiede bezüglich individueller Gesundheit und damit dem guten Leben. Personen mit hoher Bildung, reichlichem Einkommen, gehobenem sozialen Status, etwas Vermögen und minimalen, nicht belastenden Schulden haben eine bessere Gesundheit und leben länger. Er nennt dies «Status Syndrome». Auch in der Schweiz ist der Einfluss solcher sozioökonomischer Faktoren durch wissenschaftliche Studien belegt. Es zeigt sich etwa auch, dass in Partnerschaft lebende Personen gegenüber Alleinstehenden gesundheitliche Vorteile haben. Es ist nicht möglich, den Einfluss der einzelnen Faktoren für sich alleine zu bestimmen, da sie stark miteinander zusammenhängen: gute Ausbildung, hohes Einkommen und hoher sozialer Status gehen zusammen. Marmot schlägt als entscheidendes Argument vor, dass der Status auf zwei zentralen menschlichen Bedürfnissen beruhe: erstens das Bedürfnis, das eigene Leben zu kontrollieren und zweitens ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft mit allen notwendigen Ressourcen und entsprechender Anerkennung zu sein. Gesundheitsbeeinträchtigend sei der Stress, der aus der Unfähigkeit der Kontrolle des eigenen Lebens resultiert sowie aus der Unfähigkeit, sich an andere zu wenden. Dass Stress und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein bei Managern stärker verbreitetes Phänomen sei, ist ein in ungleichen Gesellschaften gepflegter Mythos, das Gegenteil ist wahr: Je weiter unten, desto stressiger ist das Leben, desto höher das Krankheitsrisiko.

Das Konzept der Salutogenese des Soziologen Aaron Antonovsky (1923–1994) ist ein verwandtes, allerdings vom Individuum ausgehendes Modell. Personen, welche eigene Handlungsmöglichkeiten sehen, die Welt und die Gesellschaft für verstehbar und sinnvoll strukturiert halten, mit Zuversicht in die Zukunft blicken und glauben, dass auf die Mitmenschen und die Strukturen Verlass ist, haben einen bedeutend besseren Gesundheitszustand, genesen schneller und leben länger. Auch hier bezieht sich die individuelle Einstellung auf die Gesellschaft als salutogenetisches Moment.

Indikator für Lebensqualität

Die gesundheitspolitischen Diskussionen der letzten Jahre in Medien und Politik hingegen fokussieren auf die Gesundheitskosten und das individuelle selbstverantwortete gesundheitsförderliche Verhalten. Belastungen des Rentensystems durch die Kosten der sogenannten Überalterung lassen ein langes Leben beinahe als sozialschädlich erscheinen, mindestens für diejenigen, die mangels eines Vermögens auf die Rente angewiesen sind. Eine einfache Frage wird dabei nicht gestellt: Wofür sollte denn eine Gesellschaft mehr Aufwand betreiben als für das Wohlergehen ihrer Mitglieder, also für Gesundheit und ein langes gutes Leben? Ich setze ohne zu zögern den Anteil der Gesundheitskosten in einer Volkswirtschaft als direkten Indikator für die Lebensqualität der Mitglieder. Schädlich wäre höchstens die individuelle Überversorgung, also das Ergreifen von teuren invasiven Massnahmen, wenn eine konservative Behandlung genauso Erfolg versprechen würde.

Bedeutung intakter Gesundheitssysteme

Die aktuelle Corona-Pandemie (Covid-19) macht den Zusammenhang gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und individueller Gesundheit deutlich. Wurden dem Gesundheitswesen im Rahmen verschiedenster Sparübungen massiv Mittel entzogen, wie etwa in Italien, Frankreich oder Grossbritannien, oder stehen diese prinzipiell beinahe nur vermögenden und sich in Arbeitsverhältnissen befindlichen Personen zur Verfügung, wie in den USA, kann der Anteil der Todesfälle an klinischen Erkrankungen zehn Prozent übersteigen. Jedenfalls nimmt die Epidemie unter dem Spardiktat einen wesentlich steileren Verlauf. In ebenfalls unter Spardruck stehenden, aber noch intakten Gesundheitssystemen wie in Deutschland und in der Schweiz nimmt sie einen flacheren Verlauf und die Sterblichkeit unter den klinischen Fällen bleibt bei etwa fünf Prozent. Niedrig ist die Sterblichkeit und die Anstiegsgeschwindigkeit der Fallzahlen in Südkorea und in China, wo das öffentliche Gesundheitswesen gerade bezüglich Infektionskrankheiten inzwischen professionell aufgestellt ist.

Weltweit haben während der Pandemie die Regierungen Massnahmen verordnet und durchgesetzt, welche das Individuum adressieren: Bleib zu Hause, wasch dir die Hände, triff dich nicht mit mehr als zwei oder fünf oder zehn Personen, halte Abstand und vieles mehr. Argumentativ wird der Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung angesprochen. Für den Schutz des Gesundheitspersonals stehen allerdings auch in der Schweiz zu wenig Masken und Schutzkleidung zur Verfügung, eine der Hauptursachen der hohen Infektions- und Sterberaten in Italien und Spanien. Selbst Desinfektionsmittel sind zu wenig vorhanden. Man stelle sich vor, die Schweiz ist nicht in der Lage, genügend 60- bis 70-prozentigen Schnaps vorzuhalten, nachdem das Pflichtlager der eidgenössischen Alkoholverwaltung im Rahmen von Sparmassnahmen und «New Public Management» liquidiert wurde. Ein anderes Argument ist der Schutz der vulnerablen Personen, also der älteren Personen und Personen mit Vorerkrankungen. Die älteren Personen haben aber auch einen grossen Teil der psychosozialen Kosten zu tragen, sollen nicht mehr einkaufen gehen und am besten die Wohnung überhaupt nicht verlassen. Altersheime werden zugesperrt, Besuche der geliebten Nahestehenden sind nicht mehr erlaubt. Könnten diese Massnahmen und Empfehlungen nicht auch zu einer erhöhten Sterblichkeit der vulnerablen Personen beitragen? Autonomie ist eine entscheidende Dimension der Lebensqualität, soziale Einschränkungen können das Leben verkürzen. Überhaupt ist den Kosten und deren argumentativer Verwendung ein besonderes Augenmerk zu schenken, nicht nur den direkten monetären Kosten, sondern auch den Kosten von Einschränkungen, reduzierter Lebensqualität, zusätzlichen psychischen Erkrankungen und vieles mehr.

Für ein gutes Leben

Es ist wohl ungenügend, den Gesundheitsfokus bloss oder auch nur in erster Linie auf das individuelle Verhalten zu legen. Das Handeln der Einzelnen und damit auch die Verantwortung und die Zurechenbarkeit liegen häufig ausserhalb des deliberativen individuellen Entscheides, es sind die Bedingungen und die Handlungsmöglichkeiten, die einen entscheidenden Anteil an der Gesundheit des Einzelnen haben.

Was beeinflusst die Todesursachen, die Sterblichkeit und das gute Leben? Nicht nur die liberal unterfütterte Selbstverantwortung des Einzelnen, sondern mehr noch die Gesamtverfassung der Gesellschaft, die Zuweisung von Mitteln für das Wohlergehen der Gesamtbevölkerung, der soziale Zusammenhalt, Solidarität sowie das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit und Entscheidungsautonomie.

Josef Estermann

 

1 Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheiten oder Gebrechen.

Datenquellen: BFS, Bundesamt für Statistik, Bern; BAG, Bundesamt für Gesundheit, Bern; ECDC, European Centre for Disease Prevention and
Control, Paris.

Literatur
• Antonovsky, Aaron, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen, 1997.
• Marmot, Michael, Fair Society, Healthy Lives, Firenze, 2013.
• Marmot, Michael / Wilkinson, R., Social Determinants of Health, Oxford 2005.
• Amann, Anton / Estermann, Josef, Pflegevorsorge für die Älteren – Probleme der Systemintegration, in: Estermann, Josef/Page, Julie/Streckeisen, Ursula (Hg.), Neue Berufe im Gesundheitswesen, Wien 2013.


Josef Estermann

PD Dr. phil. Dr. iur. Josef Estermann (Jg. 1955) war Fachgebietsleiter am deutschen Bundesgesundheitsamt in Berlin, am schweizerischen Bundesamt für Gesundheit und am Bundesamt für Statistik in Bern. Er lehrt seit den Achtzigerjahren an den Universitäten Bern, Luzern, Zürich und an der Freien Universität Berlin. Zur Zeit arbeitet er als Senior Researcher beim Vienna Centre for Societal Security (VICESSE) in Wien. Seine Schwerpunkte sind u. a. Rechtssoziologie, Gesundheitssoziologie und Sozialepidemiologie.

 

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